Nicht mehr Geld, sondern mehr Leute: Der unbefristete Pflegestreik an der Charité in Berlin wird ausgesetzt. Eckpunkte für eine zukünftige Personalausstattung vereinbart

Irgendwie häufen sich die positiven Nachrichten von der Streikfront im Lande: Zuerst haben die Flugbegleiter der Lufthansa mit ihrer Spartengewerkschaft UFO (Unabhängige Flugbegleiter Organisation. Gewerkschaft des Kabinenpersonals) nach einer Streikandrohung ab Juli zwischenzeitlich wieder die Verhandlungen mit ihrem Unternehmen aufgenommen, dann kamen heute die Lokführer mit ihrer Gewerkschaft GDL auf die Tagesordnung, die sich mit der Deutschen Bahn seit Wochen in einem Schlichtungsverfahren befanden: Schlichtung zwischen GDL und Bahn erfolgreich. Es wird keine weiteren Streiks bei der Bahn geben. Und zur Abrundung des Tages wird aus Berlin gemeldet: Charité-Streik vorerst ausgesetzt: »Zehn Tage lang legten Krankenschwestern und -pfleger an der Charité die Arbeit nieder. Nun haben die Klinik und Verdi sich auf Eckpunkte zum künftigen Personalschlüssel geeinigt: Sie sollen die Grundlage für den künftigen Tarifvertrag werden.« Und um den Tagesbericht zu komplettieren: Nachdem in den vergangenen Tagen kaum bis gar nicht in den Medien berichtet wurde über den ersten unbefristeten Pflegestreik, gab es heute auf Twitter eine Riesenwelle an Tweets mit dem Hashtag #Plegestreik, mit vielen Beiträgen, in denen die mediale Nicht-Ausleuchtung dieser Arbeitskampfmaßnahme beklagt wurde (dazu auch den Blog-Beitrag Pflegestreik! Ist da was? Nicht nur mediale Resonanzschwächen. Die Streikenden an der Charité in Berlin könnten in die GDL-Falle getrieben werden vom 27.06.2015. Aber auch hier scheint jetzt Entspannung angesagt: ver.di und Charité einigen sich auf Eckpunktepapier zu einem Tarifvertrag Gesundheit und Demographie – Streik wird ausgesetzt, so ist eine Pressemitteilung der „Aktion für Patientensicherheit“ überschrieben.

Der Mitteilung kann man die Umrisse des folgenden Ergebnisses entnehmen:

»ver.di und Charité haben sich darüber verständigt Regelungen zur Reduzierung der Arbeitsbelastung in allen Arbeitsbereichen festzulegen.
Der Tarifvertrag soll einen Maßnahmenkatalog enthalten, mit dem belastende Arbeitssituationen abgestellt werden sollen. Es werden für alle Berufsgruppen Kriterien definiert, an Hand derer Belastungen identifiziert werden.
Für die Intensivstationen und die Kinderklinik soll eine Quote festgelegt werden. Auch für die Normalpflege sollen Mindestbesetzungsstandards gelten.
Wenn Belastungssituation durch die Beschäftigten angezeigt und die Personalmindeststandards unterschritten werden, soll die Charité tarifvertraglich verpflichtet werden Maßnahmen zur Entlastung einzuleiten. Hierzu gehören ausdrücklich auch Einschränkungen des Arbeitsvolumens.«

Dem Papier zufolge soll etwa eine Schwester auf der Intensivstation nur noch zwei statt im Schnitt vier Patienten betreuen müssen.

Offensichtlich hat der Streik seine Wirkung nicht verfehlt: Seit dem 22. Juni waren täglich hunderte Mitarbeiter in den Arbeitskampf getreten, weil sie mehr Personal in der Pflege forderten. Laut ver.di gab es allein im ersten Halbjahr 2015 rund 800 „Gefährdungsanzeigen“ durch Schwestern und Pfleger. Um die 1.000 Betten – rund ein Drittel – blieben durch den Streik leer, täglich fielen 200 Operationen aus. Das hat der Charité sicher sehr weh getan.

Man muss an dieser Stelle darauf hinweisen, dass der unbefristet angesetzte Pflegestreik an der Berliner Charité sicher eine enorme Bedeutung hat und man später vielleicht einmal von einer wichtigen Initialzündung für die Pflegeberufe sprechen wird. Aber die Ausgangslage für die Streikenden war und ist mehr als schwierig, denn auch wenn das eigene Unternehmen, also die Charité, von dem Arbeitskampf wirtschaftlich hart getroffen wurde durch die damit verbundenen Einnahmeausfälle, so muss doch auch gesehen werden, dass es sich um eine isolierte Aktion in einem zugegeben sehr großen Klinikkonzern gehandelt hat, der aber nicht wirklich die gesamte oder zumindest große Teile der Krankenhauslandschaft berührt, denn die anderen Kliniken waren weiter am Netz.

Insofern sind die Pflegekräfte mit einem nicht nur vergleichbaren, sondern angesichts der Bedeutung des Gutes Gesundheit bzw. Krankenversorgung sogar weitaus komplexeren Problem konfrontiert, mit dem sich bereits die streikenden Erzieher/innen in den kommunalen Kindertageseinrichtungen auseinandersetzen mussten: Die unmittelbaren Streikfolgen treffen erst einmal Dritte, weniger also die Arbeitgeber selbst als denn die „Kunden“ oder Patienten. Und die kann man nach einer bestimmten Dauer gut in Stellung bringen gegen die Arbeitskampfmaßnahmen. Letztendlich ist die Empfehlung der Schlichter im Kita-Streik auch so zu lesen, dass die Gewerkschaftsspitze jetzt so schnell wie möglich aus der selbst produzierten Nummer wieder herauskommen will, weil man gemerkt hat, dass die kommunalen Arbeitgeber hier durchaus sehr lange „toter Mann“ spielen können – nur hat man nicht damit gerechnet, dass die Basis dem mehr als enttäuschenden Schlichterspruch nicht wirklich folgen möchte (vgl. dazu den Blog-Beitrag Wenn man irgendwo reingeht, sollte man vorher wissen, wie man wieder rauskommt. Das Schlichtungsergebnis im Tarifstreit der Sozial- und Erziehungsdienste – ein echtes Dilemma für die Gewerkschaften vom 24.06.2015).

Die heute verkündete Basis für ein Aussetzen des Streiks ist zudem sehr wackelig: »Vorstandschef Karl Max Einhäupl erklärte, dass die Charité jetzt Wege finden muss, das zusätzliche Personal zu finanzieren … Mit ver.di sei man einig , dass die Politik grundsätzlich eine Verbesserung der Personalausstattung in Krankenhäusern erreichen müsse«, kann man dem Artikel Charité: Pflege-Streik wird ausgesetzt entnehmen. Man müsse nun die Frage beantworten, wie die Klinik die personelle Aufstockung finanzieren könne, sagte Charité-Chef Karl Max Einhäupl, da das Finanzierungssystem dies nicht hergebe. Der Charité-Vorstand geht gegenüber Krankenkassen und Senat quasi in Vorleistung. Das ist tatsächlich ein veritables Problem, denn das bestehende Vergütungssystem von Fallpauschalen auf Basis von DRGs sieht eine solche Abweichung nach oben für ein einzelnes Krankenhaus – anders als zu Zeiten von krankenhausindividuell vereinbarten tagesgleichen Pflegesätzen, wo das grundsätzlich möglich gewesen wäre – nicht vor. Insofern ist der Verweis auf „die“ Politik in diesem Fall nicht von der Hand zu weisen.

Hannes Heine hat in seinem Artikel Der Streik an der Charité wird ausgesetzt einen weiteren wunden Punkt angesprochen: Für die Pflegekräfte ist das Aussetzen des Streiks ein Erfolg: Es soll mehr Personal geben. Aber: »Nächstes Problem: Woher soll es kommen? … Selbst wenn man die einst als Maximalzahl diskutierten 600 Zusatzpflegekräfte wollte – der Arbeitsmarkt gebe sie derzeit nicht her.«

Diese Punkte werden sicher alle in den kommenden Wochen und Monaten diskutiert. Zuerst einmal sollte man sich freuen, dass der erste unbefristete Pflegestreik nicht zu einem Desaster geführt hat. Und man sollte wahrscheinlich auch nicht unterschätzen, dass das erhebliche Auswirkungen haben kann auf die Bereitschaft der Pflegekräfte, sich zu organisieren und in der Zukunft auch einen wesentlich breiter angelegten Arbeitskampf zu wagen.

Pflegestreik! Ist da was? Nicht nur mediale Resonanzschwächen. Die Streikenden an der Charité in Berlin könnten in die GDL-Falle getrieben werden

Eine zugegeben sehr zugespitzte Zusammenfassung der jüngeren deutschen Streikgeschichte könnte so aufgebaut sein:

Streik der Lufhansa-Piloten? Die wollen sich doch nur ihren Ruhestand weiter vergolden lassen und die Passagiere hängen am Boden fest.

Lokführer-Streik? Ein größenwahnsinnig gewordener sächsischer Möchtegern-Arbeiterführer nimmt Millionen Bahnkunden in tagelange Geiselhaft und vergewaltigt unser Grundrecht auf Mobilität.

Kita-Streik? Auch wenn man grundsätzlich schon irgendwie Verständnis hat – aber unbefristete Streikaktionen? Die armen Kinder und ihre Eltern werden zu bedauernswerten Opfern des Streiks der Erzieher/innen, während die Arbeitgeber irgendwie auf Tauchstation waren und aus dem Blickfeld der Berichterstattung verschwunden sind.

Pflegestreik? Äh, wie bitte? Nächstes Thema.

Es ist schon mehr als auffällig, wie gedämpft die Berichterstattung über den unbefristeten Streik des Pflegepersonals an der Berliner Charité abläuft. Dabei ist dieser Arbeitskampf so irritierend anders als das, was man ansonsten so vorgesetzt bekommt: Die Pflegekräfte wagen mit einem Streik einen Schritt, vor dem bislang zurückgeschreckt wurde, denn sie haben sogar noch weitaus heftiger als die Erzieher/innen in den Kitas ein strukturelles Streikproblem: Sie legen nicht die Produktion von irgendwelchen Sachen eines Unternehmens lahm oder blockieren die Dienstleistung eines anderen (wie beispielsweise beim gerade laufenden Streik der Brief- und Paketzusteller der Deutschen Post), sondern von ihrer Nicht-Arbeit werden zuallerst einmal (potenzielle) Patienten getroffen, bei denen beispielsweise eine vorgesehene OP verschoben werden muss oder gar ausfällt. Was aber bei diesem Streik noch weitaus wichtiger ist – er hat seine ganz eigene „moralische Ökonomie“, denn die Streikenden fordern nicht (scheinbar) egoistisch mehr Geld, sondern sie wollen mehr Personal erkämpfen, weil sie sich überlastet fühlen und es oftmals auch sind. Und das müsste doch auch im Interesse der (potenziellen) Patienten sein. Gab es nicht in den letzten Jahren immer wieder Berichte über die mehr als kritische Personalsituation in den deutschen Krankenhäusern, mit denen letztendlich auch existenzielle Gefahren für die Patienten verbunden sein können? Das müssten doch alles Ingredienzien sein für eine breite Sympathiewelle den streikenden Pflegekräften gegenüber. Doch die derzeitige Lage ist eine andere, man kann es drehen und wenden, wie man will. Und demnächst könnte den Pflegekräften an der Charité ein perfide inszenierter „GDL- oder Weselsky-Effekt“ ins Haus stehen – im Hintergrund vorangetrieben von der Gegenseite.

Beim Lokführer-Streik war es überaus erfolgreich gelungen, große Teile der Bevölkerung gegen die Gewerkschaft GDL aufzubringen und eine grandiose negative Personalisierung in Gestalt des Herrn Weselsky aufzubauen. Das ist nicht von alleine gekommen, sondern der Vorstand des in Bundesbesitz befindlichen Unternehmens Deutsche Bahn hatte sich dafür professioneller Hilfe bedient. Darüber hat Werner Rügemer im März dieses Jahres in seinem Beitrag DB im GdL-Streik: „Bewusst eine Sackgasse herbeiführen“ berichtet. Und dabei spielt ein bestimmter Name eine wichtige Rolle:

»Wenn der Bahn-Vorstand mit Gewerkschaften verhandelt, ist Werner Bayreuther dabei. Er ist Hauptgeschäftsführer des Arbeitgeberverband der Mobilitäts- und Verkehrsdienstleister (Agv-MoVe). Er gehört aber auch zum Team des Schranner Negotiation Institute (SNI) in Zürich.«

Das muss man jetzt erst einmal sortieren: Werner Bayreuther war Richter für Arbeitsrechter. Er ist aus dieser Position ausgeschieden, um eine andere Karriere zu beginnen. »Er baute für den privatisierten Bahn-Konzern den eigenen Arbeitgeberverband auf, in dem die zahlreichen Tochter-Holdings Mitglied sind: DB Schenker, DB Regio, DB Netz usw.« Es handelt sich um den Arbeitgeber- und Wirtschaftsverband der Mobilitäts- und Verkehrsdienstleister (Agv MoVe), dessen Hauptgeschäftsführer er ist. Zugleich ist er verwandelt mit dem Schranner Negotiations Institute (SNI) in Zürich. Jetzt wird es richtig bunt. Werner Rügemer schreibt zum SNI:

»Das SNI arbeitet weltweit im Auftrag von Unternehmen und Regierungen, nach dem Motto „Wenn Verhandlungen schwierig werden“. Die Berater sind allgegenwärtig, bleiben aber unsichtbar: „Wir unterstützen Sie im Hintergrund vor, während und nach Ihren Verhandlungen.“
SNI versteht sich nicht als Schlichter. Der Kunde soll am Ende als „Sieger“ und die andere Seite als „Verlierer“ dastehen: „Mit unserer Unterstützung werden Sie Verhandlungssieger.“ Intern heißt es „Es gibt bei Verhandlungen keine win-win-Situation“.«

Offensichtlich handelt es sich um ein überaus buntscheckig zusammengesetztes Beratungsunternehmen für Konzerne und Regierungen: »SNI preist seinen Trainer Leo Martin so an: Er war „10 Jahre lang für einen großen deutschen Nachrichtendienst im Einsatz.“ Sein Spezialgebiet war das Anwerben und Führen von V-Leuten … Zum SNI-Angebot gehören auch „Verhandlungstaktiken von Polizei und FBI“. Der langjährige Chef der Münchener Mordkommission Josef Wilfing ist ebenso dabei wie Gary Noesner vom FBI. SNI-Chef Matthias Schranner präsentiert sich als ehemaliger Verhandlungsführer der Polizei bei Geiselnahmen und Banküberfällen«, so Rügemer in seinem Artikel.

Wer Interesse an einer direkten Konfrontation mit dem SNI-Chef und seiner Denke hat, der sei auf diese Gesprächssendung des Bayerischen Rundfunks mit ihm hingewiesen: Matthias Schranner, Verhandlungsexperte (19.03.2015).

Werner Rügemer zählt die SNI mit Sitz in Zürich zur Dienstleistungsbranche „Union Busting“. Union Busting heißt „Gewerkschaften zerstören“. Diese Tätigkeit ist in den USA als professionelle Dienstleistungsbranche etabliert. Sie besteht aus Anwälten, Detektiven, Psychologen, Management-Trainern, Lobbyisten, gelben Gewerkschaften, die mit der Unternehmensleitung zusammenarbeiten.

»Das Schranner Negotiations Institute SNI gehört ebenso zur Branche wie Arbeitsrechts-Anwälte, die grundsätzlich nur die Arbeitgeberseite vertreten. In Deutschland sind das etwa die Rambo-Anwälte der Kanzleien Helmut Naujoks und Schreiner + Partner, aber auch die diskreten Anwälte von US-Kanzleien wie Freshfields und Hogan Lovells. Als Staranwalt für die Verhinderung von Streiks in Deutschland gilt Thomas Ubber von der Kanzlei Allen & Overy: Er vertrat Fraport gegen die Gewerkschaft der Fluglotsen (GdF) und die Lufthansa gegen die Vereinigung Cockpit (VC). Der Bahn-Konzern beauftragt ihn jedesmal gegen die GdL wie zuletzt im November 2014.«

Übrigens – das SNI überlässt nichts dem Zufall, man hat für alle Perspektiven geeignete Fachkräfte an Bord: Auch »Stefan Schneider (gehört) zum SNI-Team. Schneider war lange Jahre Betriebsrat bei Daimler und Verhandlungsführer der IG Metall. Danach wechselte er die Seite und stieg zum Personalleiter auf. Jetzt ist er als selbständiger Manager-Berater tätig. Seine Qualifikation: Er „kennt die Motivlage von Betriebsräten und Gewerkschaften“.«

Und zu dieser illustren Runde gehört nach Rügemer eben auch Werner Bayreuther: Auf der Website des SNI wird Bayreuther angepriesen: „Er hat die Deutsche Bahn in der Verhandlung mit der GdL beraten und aktiv unterstützt.“ Und der eine oder andere wird gewisse Analogien zur jüngeren Streikgeschichte herstellen können, wenn man beispielsweise die folgende Beschreibung der SNI-Methodik liest:

»Eine strategisch angelegte Verhandlung hat nach SNI-Prinzipien auch das mögliche Ziel, den Gegenüber „bewusst in eine Sackgasse“ zu manövrieren. Zum Beispiel: Man macht einige Zugeständnisse, der Streik wird abgebrochen, aber die eigentlichen Verhandlungen stehen noch aus. Nach zwei Monaten, wenn die Verhandlungen wieder beginnen, wird die frühere Vereinbarung widerrufen. Die Gewerkschaft muss überlegen, ob sie neu streiken soll.«

Nun wird der eine oder die andere sagen, gut, interessant, schlimme Sache für die Arbeitnehmer, wenn sie bzw. deren Repräsentanten es mit dieser Liga zu tun bekommen, aber was hat das nun mit dem Pflegestreik an der Charité zu tun? Man wird sehen – die Welt ist klein.
Dazu werfen wir einen Blick in diesen Artikel: Charité-Streik: Ein Mann für gewisse Verhandlungen. Dort finden wir den folgenden Passus:

»Schon lange verhandeln die Vertreter von ver.di über die dringend notwendige Einstellung von Personal an der Charité. Ihnen gegenüber sitzen Leute wie der ärztliche Direktor Prof. Ulrich Frei, zuvor Arzt für Innere Medizin. Doch geleitet werden die Verhandlungen von einem Mann, der nie in einem Krankenhaus gearbeitet hat: Der Charité-Vorstand hat als Verhandlungsführer für viel Geld den früheren Richter Werner Bayreuther angeworben.«

Da ist er wieder. Und die Verfasser des Artikels erkennen sehr wohl, welchen Zusammenhang es geben könnte zwischen Bayreuthers Rolle beim GDL-Streik und der möglicherweise von ihm erhofften Dienstleistung seitens der Unternehmensleitung der Charité:

»Im Konflikt mit der GDL benutzte die Deutsche Bahn unter Bayreuthers Verhandlungsführung im Dezember 2014 einen besonders miesen Trick: Sie veröffentlichte eine Erklärung, in der sie das Recht der GDL anerkannte, für alle Arbeitnehmergruppen Tarifverträge abzuschließen. Genau das war monatelang eine zentrale Forderung der GDL. Die Gewerkschaft will die Erfolge, die sie für Lokführer erstreikt hatte, auch für Zugbegleiter und andere erreichen. Doch das Zugeständnis war gar keines: Eine einseitig abgegebene Erklärung ist juristisch kein Vertrag zwischen beiden Tarifparteien und damit rechtlich bedeutungslos. Während die Beschäftigten ihren Sieg feierten, bereiteten Bayreuther und die Deutsche Bahn ihre nächsten Schritte vor: Ab Januar nahmen sie sämtliche Punkte ihrer Erklärung Schritt für Schritt zurück und sprachen der GDL wieder das Recht ab, Tarifverträge für Zugbegleiter auszuhandeln. Als die Gewerkschaft schließlich erneut streikte, behauptete die Deutsche Bahn wiederum, sie hätte schon große Zugeständnisse gemacht und die GDL streike nur, weil ihr Vorsitzender Claus Weselsky ein eingebildeter Wichtigtuer sei.«

Nun muss man eigentlich nur noch eins und eins addieren, um eine mögliche Strategie des Unternehmens zu erkennen: Auf einmal sind die Repräsentanten, vor allem der Vorstandvorsitzende der Charité, Karl Max Einhäupl, überall, wo sich ihnen die Gelegenheit bietet, unterwegs mit dem besorgten Hinweis auf das gefährdete „Patientenwohl“ und dass die Streikenden das jetzt elementar gefährden würden (wobei dann gerne „vergessen“ wird, dass diese Positionierungen in den vergangenen Jahren bei den vielen Überlastungsanzeigen der eigenen Beschäftigten „natürlich“ nicht zu vernehmen waren). Die Bevölkerung muss gegen den Streik aufgebracht werden und dabei muss die „Schuldfrage“ einseitig an die Streikenden zugewiesen werden. Man kann sich eine Adaption des GDL-Musters gut vorstellen, „leider“ fehlt den Strategen hier noch so eine „mediengängige“ Anti-Figur wie Weselsky.

Man muss an dieser Stelle wieder einmal darauf hinweisen, dass es sich die Pflegekräfte wahrlich nicht leicht gemacht haben, bevor sie in den Arbeitskampf gegangen sind. Die Gewerkschaft Verdi hat seit mehr als zweieinhalb Jahren mit der Klinikleitung über eine Mindestbesetzung verhandelt, die die Gewerkschaft in einem Tarifvertrag festhalten will. Kein Ergebnis. Und aus dem jetzt vorgetragenen Argument mit einer Gefährdung des „Patientenwohls“ wird ein Schuh. So schreibt Claudia Wrobel in ihrem Artikel unter der bezeichnenden Überschrift Patientengefährdung:

»Die Pflegekräfte sehen durch den schlechten Personalschlüssel und den hohen Einsatz von Leiharbeitern die Standards nicht mehr eingehalten und deshalb die Sicherheit der Patienten gefährdet. Deshalb verhandelt ver.di seit mehr als zweieinhalb Jahren mit der Klinikleitung über eine Mindestbesetzung, die die Gewerkschaft in einem Tarifvertrag festhalten will. Unter anderem fordern sie, dass nachts auf jeder Station mindestens zwei Kollegen Dienst tun und für Intensivstationen einen Betreuungsschlüssel von einer Fachkraft für zwei Patienten. Damit orientiert sich ver.di an Empfehlungen der Fachgesellschaften. Außerdem möchte die Gewerkschaft verbindliche Verfahren zum Erfassen von Überlastungssituationen.«

Das nun sind keine wie auch immer geartete revolutionäre Forderungen, sondern im Grunde fordern die Streikenden hier die Einhaltung einer Schutzgrenze nach unten – und die hätte, wenn es denn wirklich um „Patientenwohl“ gehen würde, schon längst von Klinik wie auch verantwortlicher Politik sichergestellt werden müssen. Offensichtlich versuchen die Streikenden, ein Systemversagen zu kompensieren. Das muss man sich immer wieder vor Augen führen.

Dazu past dann beispielsweise eine solche Meldung aus der Berliner Zeitung vom 27.06.2015: Patientenschützer kritisieren Sparkurs in der Krankenpflege: »An Berliner Krankenhäusern wird nach Einschätzung von Patientenschützern immer mehr auf Kosten des Pflegepersonals gespart. Zwischen Ärzten und Pflegern habe sich ein Missverhältnis entwickelt: Von 1991 bis 2013 stieg die Zahl der Ärzte an Kliniken um 14 Prozent. Dagegen gab es bei den Pflegern im gleichen Zeitraum einen Rückgang um rund ein Drittel. Dabei lägen inzwischen mehr alte und pflegebedürftige Menschen auf den Stationen … Der Pfleger-Schwund von rund 19.700 auf 12.900 Kräfte ist in Berlin … so ausgeprägt wie in keinem anderen Bundesland. Ein deutschlandweit verbindlicher Personalschlüssel würde diese Entwicklung stoppen, so die Stiftung. Solche festen Quoten will die Gewerkschaft Verdi mit dem Streik an der Charité durchsetzen.« Vgl. dazu auch Statistik: Krise in Kliniken ist hausgemacht – bundesweiter Personalschlüssel nötig, dort kann man die Übersicht über alle Bundesländer als Datei abrufen.

Aber was sind schon Fakten – wir werden möglicherweise bald schon gewisse Elemente der SNI-Methoden zu sehen, hören und lesen bekommen. Und wenn man nicht aufpasst, werden die Pflegekräfte auf die GDL-Rutschbahn geschoben. Das muss verhindert werden, nicht nur im Interesse der Streikenden, sondern auch der (potenziellen) Patienten. Dafür braucht es Solidarität mit dem Pflegepersonal, das sich traut, nicht mehr nur zu schlucken und zu funktionieren, bis sich die Folgen der strukturellen Überbelastung als individuelle Schicksale atomisieren lassen.

Deutsche Post DHL bald allein zu Haus? Noch nicht. Zur Post-Variante modernen Streikbrechertums. Dazu gehört: Festes Schuhwerk mitbringen

Gegen die Ausgliederung von Unternehmensteilen haben mittlerweile mehr als 32.000 der insgesamt etwa 140.000 inländischen Beschäftigte der Post ihre Arbeit niedergelegt. So die Angaben der Gewerkschaft ver.di. Die Fronten zwischen Verdi und der Post sind verhärtet. Um seine Lohnkosten zu drücken und auf Dauer mit der billigeren Konkurrenz auf dem Paketmarkt mithalten zu können, hat der Konzern die Paketzustellung teilweise in neue Regionalgesellschaften mit niedrigeren Löhnen ausgelagert. Die Hintergründe sind hier in mehreren Beiträgen dargestellt und eingeordnet worden, vgl. beispielsweise Endlich viele neue Jobs. Und dann wieder: Aber. Die Deutsche Post DHL als Opfer und Mittäter in einem Teufelskreis nach unten vom 25.01.2015, Billiger, noch billiger. Wo soll man anfangen? Karstadt, Deutsche Post DHL, Commerzbank … und Primark treibt es besonders konsequent vom 08.02.105 oder Die Deutsche Post DHL schiebt den Paketdienst auf die Rutschbahn nach unten und einige sorgen sich um Ostergrüße, die liegenbleiben könnten vom 30.03.2015.
Seit drei Wochen nun bestreikt die Gewerkschaft ver.di die Deutsche Post DHL.

Und die Folgen werden immer offensichtlicher, zumindestens berichten viele Medien über einen enormen Rückstau an Sendungen in den Verteilzentren und teilweise müssen Lagerhallen angemietet werden für die Postsendungen, die ihren Empfänger nicht erreichen können. Der Konzern versucht dagegen zu halten, erst am Wochenende wieder durch Sonntagsarbeit bis hin zur Beschäftigung von Freiwilligen und Mitarbeitern aus „Kundenunternehmen“ – aber vor allem durch den Einsatz von Streikbrechern aus Osteuropa. Und da geht es – neben dem Sonderfall des Einsatzes von Beamten – wieder um Leiharbeit und Werkverträge. Wenn man diese Instrumente kombiniert mit der Ausnutzung des enormen Wohlstandsgefälles zwischen Deutschland und Osteuropa, dann bekommt man die Umrisse modernen Streikbrechertums.

In der Print-Ausgabe der FAZ vom 26.06.2015 wird darüber in dem Artikel „Freiwillige Paketzusteller dringend gesucht“ berichtet. Und das, was man dort zu lesen bekommt, entbehrt nicht bei allem Ernst der Lage einer gewissen Situationskomik:

»Der Konzern trommelt seine Hilfstruppen zusammen, um sich auf die vierte Streikwoche vorzubereiten. „Die Lage ist unverändert – speziell in der Paketzustellung“, heißt es in einer Rundmail, mit der die Post um neue Freiwillige in der Paketzustellung wirbt. Gesucht werden Ausputzer für Hamburg, Düsseldorf, Nürnberg und Berlin, mindestens für drei Tage, möglichst aber für die ganze kommende Woche. Wohnen werden sie auf Kosten der Post im Hotel, die Buchung „erfolgt über die Kollegen direkt vor Ort“. Damit die Pakete in der fremden Stadt auch ankommen, muss improvisiert werden. Navigationsgeräte sind bei der Post anscheinend Mangelware. „Um die Zustelladressen finden zu können“, sollen die Freiwilligen von zu Hause mitbringen, was so da ist, egal ob Smartphone oder TomTom, „idealerweise mit Fahrzeugladegerät“, steht in der Mail. Auch Dienstkleidung ist rar. T-Shirts mit DHL/Post-Logo stünden „vermutlich“ zur Verfügung, aber alles andere, vor allem festes Schuhwerk, sollen die Freiwilligen in den Koffer packen.«

Beamte und Freiwillige füllen im Arbeitskampf derzeit einige Lücken. Gegen den Beamteneinsatz als Streikbrecher klagt Verdi vor dem Arbeitsgericht Bonn, das kommenden Donnerstag entscheiden will, vgl. hierzu den Artikel Ver.di bringt Streit um Beamteneinsatz erneut vor Gericht. Wohl wesentlich relevanter ist der Einsatz von ausländischen Streikbrechern.

»Zusätzlich greift der Konzern in großem Stil auf Leiharbeitnehmer zurück. Nach Recherchen von Verdi sind rund 2.300 dieser Aushilfen im Einsatz, darunter viele aus Osteuropa. Fast 2.000 Leiharbeitnehmer seien allein in den Paketzentren beschäftigt.«

Anwendung findet dabei das Instrumentarium der Leiharbeit in Kombination mit Werkverträgen. Denn die Rechtslage ist an sich kompliziert. Aus der deutschen Binnenperspektive ist erst einmal hervorzuheben, dass das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz ausführt, dass Leiharbeiter nicht gegen ihren Willen als Streikbrecher eingesetzt werden dürfen. Nun wird man bereits an dieser Stelle mit einer ordentlichen Portion Zweifel anmerken können und müssen, dass es wie so oft einen Unterschied geben kann und wird zwischen Theorie und Praxis, denn auch wenn Leiharbeiter theoretisch das Recht haben, sich einem solchen Einsatz zu verweigern, dann wird es in praxi angesichts der prekären Lage, in der sich viele Leiharbeiter befinden, zweifelhaft sein, ob sie eine solche Verweigerung auch tatsächlich realisieren können.

In dem FAZ-Artikel wird dazu auch ein Konzernsprecher der Deutschen Post selbst zitiert:

Die Post arbeite seit Jahren mit unterschiedlichen Zeitarbeitsfirmen in der EU zusammen, auch im Falle von Streiks greife man auf deren Mitarbeiter zurück. „Dabei hält sich die Deutsche Post AG an alle gesetzlichen Vorschriften, das heißt, wir setzen nicht rechtswidrig Streikbrecher ein.“

Die über den DGB-Tarifvertrag gebundenen Leiharbeitsfirmen stellen keine Arbeitnehmer für bestreikte Arbeitsplätze ab. Deshalb geht ja die Deutsche Post auch einen anderen Weg: Die Post kooperiert entweder mit nichttarifvertragsgebundenen Unternehmen oder sie zieht einen Werkvertrag dazwischen. Dadurch läuft die Streikklausel des DGB-Tarifvertrages und ebenso das gesetzlich normierte Leistungsverweigerungsrecht für Leiharbeitnehmer ins Leere.

Welche Formen das dann praktisch annehmen kann, schildert Kirsten Bialdiga in ihrem Artikel Aushilfen aus dem Container: »Während Tausende Mitarbeiter streiken, setzt die Post slowakische Saisonarbeiter ein. Ein Teil von ihnen lebt in beengten Unterkünften. Betriebsräte sind deshalb empört: Der Konzern nutze „die Notsituation dieser Leute“ aus«, so beginnt ihr Bericht.

»Kanariengelb sind sie angestrichen, die Container. Gelb wie die Farbe der Deutschen Post. Doch in diesen Containern im Münsterland lagern keine Päckchen oder Briefe. In diesen Containern wohnen Saisonarbeiter aus der Slowakei, die für die Post arbeiten. Dicht an dicht stehen die Behausungen, in mehreren Reihen an unbefestigten Wegen auf dem Gelände eines Gartenbaubetriebes. Zur Schicht im Paketzentrum im nahegelegenen Greven werden die Arbeiter von einem Bus abgeholt, später wieder zurückgebracht.
Drinnen im Container ist es dunkel, das Auge muss sich erst an das Dämmerlicht gewöhnen. Im hinteren Teil stehen vier Stockbetten, davor ein paar primitive Regale. Der Raum in der Mitte ist so schmal, dass schon eine Person sich kaum umdrehen kann, ohne irgendwo anzustoßen. Geschweige denn vier. So viele sind es, die sich mitunter einen dieser Wohncontainer teilen.«

Offensichtlich arbeitet die Deutsche Post hier mit Bedingungen, wie man sie in Deutschland sonst eher beim Spargelstechen oder in der Fleischindustrie findet. Werden sie wenigstens ordentlich bezahlt? Keine Frage, so die Post: »Der Stundenlohn betrage für alle Arbeiter inklusive der Zuschläge und Zulagen 13 Euro.«

Kirsten Bialdiga befragt die Arbeiter in den Containern. Auf den ersten Blick scheint das zu stimmen, was die Post behauptet: » Er verdiene zehn Euro in der Stunde plus Zuschläge, sagt er. Also in etwa 13 Euro«, so wird ein Arbeiter zitiert. Also alles in Ordnung? Offensichtlich nicht, denn:

»Doch dann gibt der slowakische Arbeiter etwas zu Protokoll, das die Rechnung verändern würde. Für den Wohncontainer, sagt der junge Mann, zahle er pro Tag zehn Euro Miete. Das wären 300 Euro im Monat. Dass die Arbeiter für ihre beengte Unterkunft zahlen müssen, bestätigte auch ein Insider, der nicht Arbeitnehmerkreisen zuzurechnen ist.«

Und am Ende des Artikels wieder der Hinweis auf das, was man als „Asymmetrie“ am Arbeitsmarkt bezeichnen kann – oder aber schlicht als Ausnutzung des Wohlstandsgefälles zwischen hier und Osteuropa, auf dem weite Bereiche des modernen Tagelöhnertums in unserem Land basieren: Der Arbeiter, der gegenüber der Journalistin Auskunft erteilt hat, »braucht Geld, und deshalb ist er in Deutschland. So sehen es auch seine Kollegen. Nicht alle sind daher über seine Auskünfte erfreut. Ein Landsmann stellt sich den Besuchern in den Weg, er will, dass sie gehen. Zu groß sei die Sorge, dass es Konsequenzen geben könnte, dass sie ihren Job verlieren.«

Wenn man irgendwo reingeht, sollte man vorher wissen, wie man wieder rauskommt. Das Schlichtungsergebnis im Tarifstreit der Sozial- und Erziehungsdienste – ein echtes Dilemma für die Gewerkschaften

Auch wenn es mit Blick auf die Sozial- und Erziehungsdienste unangebracht erscheint, sei dieser Beitrag dennoch mit einer der zentralen strategischen Weisheiten aus dem Militärwesen eröffnet. Wenn man irgendwo reingeht, sollte man vorher wissen, wie man wieder rauskommt. Was passieren kann, wenn man sich daran nicht hält, mussten wir gerade in der jüngeren Vergangenheit an mehreren Stellen auf dieser Welt zu Kenntnis nehmen. Letztendlich trifft diese grundlegende strategische Weisheit auch und gerade auf Arbeitskämpfe zu, mit deren Hilfe ein bestimmtes Ziel erreicht werden soll und bei denen es sich nicht um irgendwelche Verzweiflungsaktionen handelt.  Man muss davon ausgehen, dass diese Überlegungen auch im Vorfeld des unbefristeten Streiks der Beschäftigten in den kommunalen Sozial- und Erziehungsdiensten, vor allem in den kommunalen Kindertageseinrichtungen, von den Gewerkschaften Verdi und die GEW angestellt und mit der notwendigen Sorgfalt abgewogen worden sind.

Dabei stellen sich von außen betrachtet zwei grundsätzliche Fragen: Ist die Streikbereitschaft der organisierten Beschäftigten, vor allem der Erzieherinnen in den Kitas, ausreichend vorhanden, um nicht nur einen Warnstreik von ein oder zwei Tagen durchzuführen, sondern eben in eine unbefristete Auseinandersetzung zu gehen, die erfahrungsgemäß eine ganz andere Qualität entfaltet, je länger sie andauert. Ich muss zugeben, dass ich genau an dieser Stelle im Vorfeld des Streiks erhebliche Fragezeichen gesetzt habe. Ich war mir nicht wirklich sicher, ob die Erzieherinnen zu einem größeren Arbeitskampf bereit und in der Lage wären. Aber gerne gebe ich zu, dass ich die Motivation und die dann auch tatsächlich erkennbare Streikleistung Beschäftigten unterschätzt habe. Hinzu kommt allerdings eine zweite grundsätzliche strategische Frage, über die man sich im Vorfeld einer solchen Aktion klar sein muss: Besteht eine realistische Chance, die Arbeitgeberseite durch den Arbeitskampf dermaßen unter Druck zu setzen, dass man die – sicher nicht alle – eigenen Forderungen in einem substanziellen Umfang wird durchsetzen können oder aber gibt es spezifische Bedingungen, die eine solche Wahrscheinlichkeit eher gegen Null gehen lassen, was dann erhebliche Auswirkungen hätte auf die Frage, ob man seine eigenen Leute in eine solche Schlacht führt, die mit einer relativ hohen Wahrscheinlichkeit in einer Niederlage enden muss.

Und an dieser Stelle muss man darauf hinweisen, dass die Konstellation beim unbefristeten Streik der  kommunalen Sozial- und Erziehungsdienste in mehrfacher Hinsicht als überaus komplex zu charakterisieren ist, um das noch freundlich auszudrücken.  Denn es handelt sich beim aktuellen Tarifkonflikt nicht um eine „klassische“ Tarifauseinandersetzung, in der um mehr oder weniger Prozente gestritten wird. Denn der TVöD – Sozial- und Erziehungsdienst (TVöD – SuE) in seiner bestehenden Form läuft noch bis zum 29.02.2016. Anders ausgedrückt: Im Frühjahr des kommenden Jahres wird es erneut normale Tarifverhandlungen über die Vergütung geben. Denn die Anhebung um +2,4 Prozent zum 01.03.2015 ist die zweite Stufe des Abschlusses der Tarifrunde 2014, die eine Entgelterhöhung in 2 Stufen gebracht hat: Zum 01.03.2014: + 3,0 Prozent mindestens aber 90 €. Und eine zweite Erhöhung, zum 01.03.2015, um + 2,4 Prozent. Im kommenden Jahr gibt es also die nächste Tarifrunde.

Hintergrundinformation zum TVöD – SUE: Der Tarifvertrag öffentlicher Dienst (TVöD) gilt seit dem 1. Oktober 2005 für alle Beschäftigten beim Bund und bei den Kommunen. Er hat den bis dahin geltenden BAT abgelöst. Im Juli 2009 haben sich die Gewerkschaften und die kommunalen Arbeitgeber nach einer langwierigen Tarifauseinandersetzug mit ersten größeren Arbeitskampfaktionen darauf geeinigt,  für die Beschäftigten im Sozial- und Erziehungsdienst eine neue Entgeltordnung und eine eigene Entgelttabelle zu schaffen. Darüber hinaus wurden Vereinbarungen zur betrieblichen Gesundheitsförderung getroffen.

Offensichtlich geht es beim aktuellen Streit um etwas anderes. Die Gewerkschaften belegen das, worum es hier geht, mit dem Begriff und zugleich dem Ziel „Aufwerten“. Die Beschäftigten sollen besser vergütet werden, aber nicht durch „normale“ prozentuale Anhebungen dessen, was sie im bestehenden System verdienen, sondern durch eine Anhebung der Eingruppierung der Beschäftigten. Wenn also eine Erzieherin derzeit in der Entgeltgruppe S 6 eingruppiert ist, dann soll sie – so der Ansatz der Forderung – in Zukunft mehrere Gruppen höher gehoben werden. Beim „Aufwerten“ geht es also zum einen um eine höhere Eingruppierung der Fachkräfte wie auch um eine Anpassung und Modernisierung der Tätigkeitsmerkmale, die den einzelnen Gruppen zugeordnet sind und die angesichts der rasanten Entwicklung und Veränderung der pädagogischen Arbeit nicht mehr zeitgemäß sind.

Zugleich haben nicht nur die Beschäftigten in den kommunalen Kindertageseinrichtungen gestreikt, sondern auch beispielsweise Sozialarbeiter aus den Jugendämtern oder Fachkräfte aus den Einrichtungen der Behindertenhilfe – aber davon hat die Öffentlichkeit so gut wie gar nichts mitbekommen, wenn, dann wurde immer über den „Kita-Streik“ gesprochen und berichtet.

Grundsätzlich gab und gibt es in der breiten Öffentlichkeit ein großes Verständnis für die Forderung, dass gerade die pädagogischen Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen besser gestellt werden sollten. Das ist sicherlich auch ein Ergebnis der Diskussion in den zurückliegenden Jahren über den Ausbau der Kindertagesbetreuung, vor allem für die Kinder unter drei Jahren. Außerdem ist es immer deutlicher geworden, welche veränderte Bedeutung den Kindertageseinrichtungen eben nicht nur als Betreuungseinrichtungen, sondern auch als eine wichtige Städte der Erziehung und Bildung der Kinder in einem überaus sensiblen Altersrahmen zukommt. Also insgesamt eine so gesehen ganz gute Voraussetzung für die Durchsetzung einer realen Aufwertung, also eine, die sich in der Eingruppierung niederschlagen müsste.

Aber schon ein erster Blick auf die Gegenseite kann verdeutlichen, dass wir es hiermit eine überaus schwierigen Gefechtslage zu tun haben. Es handelt sich bei den kommunalen Arbeitgebern eben nicht um „normale“ Unternehmen, die bei einem Streit ihrer Beschäftigten sofort und unmittelbar von den Folgen betroffen wären in Form von Produktions- und damit Einnahmeausfällen. Wenn beispielsweise die IG-Metall die großen Automobilhersteller bestreiken würde, dann würden Tag für Tag Schäden in Millionenhöhe für das Unternehmen entstehen und damit hätte die Gewerkschaft natürlich ein enormes Druckpotenzial gegenüber dem Arbeitgeber.

Bei den kommunalen Arbeitgeber im Bereich der Kindertageseinrichtungen sieht es hingegen völlig anders aus. Man kann es sogar zuspitzen: Wenn die Kitas bestreikt werden, dann hat die Kommune keinen monetären Verlust zu beklagen, sondern – wie in vielen Kommunen auch beobachtet werden muss – man spart sogar Geld, da man während des Streiks keine Personalausgaben für die streikenden Erzieherinnen hat. Das ist ein strukturelles, ein systematisches Problem, wenn wir über Streiks in personenbezogenen Dienstleistungsbereichen reden, die nicht so aufgestellt sind wie „normale“ Unternehmen. In der gleichen Dilemma-Situation befindet sich übrigens auch die Pflege. Die Gewerkschaften Verdi und GEW haben also nicht die kommunalen Arbeitgeber direkt bestreiten können, sondern gleichsam deren „Kunden“, also die Eltern und ihre Kinder. Letztendlich muss man angesichts dieser Konstellation darauf hoffen, dass der Druck, der auf der „Kundenseite“ aufgebaut wird, gleichsam über Bande gespielt an den kommunalen Arbeitgeber weitergereicht wird. Es ist müßig, dieser Stelle darüber zu diskutieren, warum es so war und ob es anders hätte sein können: Aber man muss zur Kenntnis nehmen, dass in den Wochen des unbefristeten Streiks der Erzieherinnen es nicht gelungen ist, die Wut und die zunehmende Verzweiflung der betroffenen Eltern  gegen die kommunalen Arbeitgeber zu richten, sondern die Berichterstattung und damit auch große Teile der öffentlichen Wahrnehmung verengten die Perspektive auf eine angebliche „Schuld“ der streikenden Fachkräfte in den Einrichtungen.

In den ersten Wochen des Arbeitskampfes kam von Seiten der Arbeitgeber – nichts. Sie sind einfach auf Tauchstation gegangen und haben die Entwicklung laufen lassen. Dafür gibt es sicherlich unterschiedliche Gründe. Zum einen konnten sie sich darauf verlassen, dass die Medienmaschinerie ab einem bestimmten Zeitpunkt, also dann, wenn die überaus schmerzhaften Folgen eines lang andauernden Streiks für Eltern sichtbar werden, mit vollem Einsatz über die Folgen für die betroffenen Eltern berichten wird und die Stimmung zu kippen droht. Darüber hinaus gibt es aber auch strukturelle Gründe, dass die Kommunen mit einem Totstell-Reflex reagiert haben.
Dazu gehört zum einen die Tatsache, dass die Kommunen jede Verbesserung hinsichtlich der Vergütung der Fachkräfte in den kommunalen Kindertageseinrichtungen (sowie den anderen Einrichtungen, die aber kaum Beachtung finden) sofort und unmittelbar in ihren Haushalten zu spüren bekommen denn aufgrund der spezifischen Finanzierungsstrukturen im System der Kindertagesbetreuung sind die Kommunen nun mal der Hauptkostenträger in diesem Bereich. Das an sich ist schon ein schweres Argument, sich die Forderung zu verweigern.

Hinzu kommt allerdings ein weiterer Tatbestand: Wie gesagt, es geht bei diesem Tarifkonflikt nicht um eine „normale“ Erhöhung der Tarife, sondern um eine neue Systematik der Eingruppierung im Sinne einer von den Gewerkschaften angestrebten Höhergruppierung der Beschäftigten. Den Kommunen war und ist klar, dass wenn sie den Erzieherinnen und dem anderen Personal in den Kindertageseinrichtungen mit einer entsprechenden Aufwertung entgegenkommen würden, dass dann das gesamte Tarifgefüge im kommunalen Dienst ins Rutschen kommen könnte bzw. wird. Denn natürlich würden die anderen Beschäftigtengruppen dies zum Anlass nehmen, ebenfalls eine entsprechende höhere Bewertung ihrer Tätigkeiten zu verlangen.

Für die Gewerkschaften erschwerend kommt der Tatbestand hinzu, dass sich der Ausstand ausschließlich auf die kommunalen Kindertageseinrichtungen beziehen kann, diese aber nur noch eine Minderheit der Kita-Plätze überhaupt anbieten, denn der größte Teil befindet sich in Hand der so genannten freien Träger, vor allem bei den kirchlichen Trägern. Und die Beschäftigten dort unterliegen einem Streikverbot, d.h., auch wenn sie wollten, können sie gar nicht in einen Arbeitskampf gehen.

Insofern – und darauf habe ich frühzeitig und immer wieder hingewiesen – kann und wird es eine im Sinne der Beschäftigten substantiell positive Lösung dieses Problems nur geben können, wenn die Finanzierungsfrage angegangen und gelöst wird, also die derzeit gegebene völlig verzerrte Kosten-Nutzen-Verteilung vom Kopf auf die Füße gestellt wird, in dem der Bund endlich in umfängliche Art und Weise in die Regelfinanzierung der Kindertageseinrichtungen (und der Kindertagespflege) eingebunden wird. Nur dann bekommen die Kommunen die notwendigen finanziellen Freiheitsgrade, um zum einen die Vergütung der pädagogischen Fachkräfte erkennbar anzuheben und gleichzeitig auch die mindestens, wenn nicht noch deutlich wichtigere Aufgabe einer Verbesserung der Personalschlüssel anzugehen.

Vor diesem Hintergrund musste es so kommen, wie es gekommen ist. Der Streik wurde ausgesetzt, um in ein Schlichtungsverfahren einzusteigen. Und die Schlichter haben eine Empfehlung abgegeben, die – auch wenn man sich etwas anderes wünschen würde – eine mehr als schwere Kost für das Gewerkschaftslager darstellt. Die angestrebte systematische Aufwertung wird nicht stattfinden, stattdessen gibt es eine Erhöhung der Geldbeträge in einem Korridor von 2 – 4,5 Prozent, aber in der bestehenden Vergütungsstruktur bzw. die überaus pragmatischen Schlichter schlagen vor, die etwas angehobenen Beträge in der Vergütungsgruppe S 6 einfach mit einem neuen Etikett zu versehen, auf dem jetzt S 8a steht, so dass man der geneigten Öffentlichkeit eine „Aufwertung“ symbolhaft verkaufen kann.

Ds wird auch an anderer Stelle kritisch gesehen. In einem Kommentar schreibt Detlef Esslinger unter der mehr als deutlichen Überschrift Ruhigstellung für die Alten – kaum Verbesserungen für die Jungen: »Der Schlichterspruch ist schwach; eine Perspektive für Angestellte im Sozial- und Erziehungsdienst fehlt nach wie vor.« Und weiter:

»Man muss sich nur mal anschauen, was das Ergebnis der Schlichtung ist. Bei den Kinderpflegern: Die Jüngsten bekommen 61 Euro mehr, die Ältesten jedoch 110 Euro. Bei den Erzieherinnen: 55 Euro mehr für die Jüngsten, doch 161 Euro mehr für die Ältesten. Ach je. Auch bei Tarifkonflikten gibt es offensichtlich einen Unterschied zwischen den Argumenten, mit denen die Öffentlichkeit gewonnen werden soll – und jenen, die am Ende wirklich zählen. Wäre tatsächlich die leichtere Rekrutierung von Nachwuchs das Kernanliegen von Verdi und Co., hätten die Gewerkschaften besonders auf Verbesserungen für die Jüngeren bestanden. Wäre es ihnen um die Qualifizierung des Personals für neue Aufgaben gegangen, hätten sie eine Verknüpfung von höherer Bezahlung und Teilnahme an Fortbildung angestrebt …  So endet dieser Konflikt mit einer Ruhigstellung: nämlich derjenigen älteren Aktivisten, die das Gros der Mitglieder, also auch der Streikenden stellen.«

Nun muss man allerdings einschränkend anmerken, dass es sich bislang nur um eine Empfehlung der Schlichter handelt, die von beiden Seiten angenommen und entsprechend vertraglich umgesetzt werden muss. Und es ist klar, dass die Kröte, die die Gewerkschaft zeitlicher schlucken muss, für nicht wenige Mitglieder zu groß ist. Insofern besteht ein erheblicher Diskussionsbedarf innerhalb der Gewerkschaften, ob man diesen Schlichtungsspruch akzeptieren soll. Aus Sicht der Führungsebene beider Gewerkschaften besteht daran aber gar kein Zweifel mehr, man muss seine Bodentruppen jetzt nur in diese Richtung bewegen. Denn eine Ablehnung würde bedeuten, dass man erneut in den Arbeitskampf ziehen müsste, und ganz offensichtlich hat die Führungsebene kalte Füße bekommen, was die Zielerreichungswahrscheinlichkeit in diesem Konflikt angeht.

Auch wenn es immer so schön heißt, dass man hinterher schlauer ist, muss an dieser Stelle doch der Hinweis darauf gegeben werden, dass man angesichts der beschriebenen überaus schwierigen Konstellationen bereits vorher zu der Erkenntnis hätte kommen können, dass man sich diesen Arbeitskampf wirklich mehrmals überlegen sollte.

Bei der Streikdelegiertenversammlung der Gewerkschaft Verdi hat es erwartbar viel Unmut und wohl auch Ablehnung gegeben. Die Reaktion darauf ist organisationspolitisch rational: Man lässt jetzt alle abstimmen und damit die sich mit der Sache vertraut machen können, wird jetzt erst einmal vier Wochen diskutiert und abgestimmt. Und dann muss man wissen, dass für eine Annahme des Schlichtungsergebnisses eine Zustimmung von 25 Prozent ausreichen würde.

Ein Bestandteil des Schlichterspruchs ist besonders perfide für die Gewerkschaften: Gemeint ist hier die vorgesehene Laufzeit von fünf langen Jahren. In dieser Zeit würde dann also an der Front der Eingruppierungssystematik Ruhe herrschen. Und wenn man ganz schlecht drauf ist, dann kann man hinsichtlich der im Schlichtungsspruch enthaltenden Erhöhungen der Tarife (die allerdings nicht für alle Beschäftigtengruppen, sondern nur für einige) auch dadurch weiter relativieren, dass man ein Szenario an die Wand wirft, das so aussieht:  Im nächsten Frühjahr, wenn die nächste normale Tarifrunde ansteht, werden die kommunalen Arbeitgeber versuchen, einen Teil der jetzigen Erhöhungen durch eine entsprechende Dämpfung bei der dann zugestandenen Erhöhung  für alle kommunal Beschäftigten wieder zurückzuholen. Aber das ist natürlich nur ein Szenario.

Mehr, sie brauchen und wollen mehr. Mehr Personal. Ein Streik, der das Gesundheitssystem erschüttern könnte. Der Arbeitskampf des Pflegepersonals an der Charité in Berlin

Jetzt hat er also begonnen – der unbefristet angelegte Streik der Pflegekräfte an der Charité in Berlin. Die Charité gehört zu den größten Universitätskliniken Europas. In der Selbstdarstellung liest sich das so: »Die Charité verteilt sich auf vier Standorte, zu denen rund 100 Kliniken und Institute, gebündelt in 17 CharitéCentren, gehören. Mit 13.100 Mitarbeitern erwirtschaftet die Charité 1,5 Milliarden Euro Gesamteinnahmen pro Jahr und ist damit einer der größten Arbeitgeber Berlins. Im Jahr 2010 konnte die Charité auf eine 300-jährige Geschichte zurückblicken.« Es gibt insgesamt 3.000 Betten – von denen werden in den kommenden Tagen fast 1.000 nicht mehr belegbar und 200 Operationen werden pro Tag ausfallen, weil die Pflegekräfte in den Arbeitskampf ziehen. Nicht für mehr Geld oder weniger Arbeitszeit – sie kämpfen für mehr Personal. Mehr Leute sollen an Bord der Pflege.

Es ist sicherlich keine Übertreibung zu sagen, dass wir es mit einem historischen Ereignis zu tun haben – mit allen Unwägbarkeiten und Risiken, die damit verbunden sind. Es wird auf der einen Seite verdammt schwer, diesen Streik als überzogenes Verhalten irgendeiner kleinen Beschäftigtengruppe, die sich die Taschen voll machen wollen, zu desavouieren. Das spricht dafür, dass es eine breite Sympathiebewegung geben wird. Auf der anderen Seite muss man sehen, dass das Pflegepersonal vor einem Problem stehen, das bereits im Erzieher/innen-Streik der vergangenen Wochen zu beobachten war: Bestreikt werden können sowohl in den Kitas wie auch in den Krankenhäusern nicht die Arbeitgeber direkt, wie beispielsweise in der Automobilindustrie oder anderen „normalen“ Unternehmen, sondern getroffen werden können diese nur indirekt, über die Kinder bzw. Eltern oder eben die Patienten. Und das ruft nach kurzer Zeit erhebliche Widerstände in Teilen der betroffenen Bevölkerung hervor. Das alles haben wir beobachten müssen mit zunehmender Dauer des Kita-Streiks und das wird wesentlicher heftiger ausfallen, wenn sich das im Gesundheitswesen zuspitzt. Allerdings – das muss man hervorheben – wird ein Krankenhaus weitaus schneller und wesentlich härter ökonomisch von einem Arbeitskampf getroffen als eine Kita. Das ist auch eine Folge des Finanzierungssystems auf Basis von Fallpauschalen, mit denen nur erbrachte Leistungen vergütet werden. Und wenn pro Tag 200 OPs ausfallen müssen, dann kann man sich vorstellen, um welche Verlustgrößen in Euro es hier für die Charité gehen wird.

Anfang Juni 2015 berichtete die Berliner Zeitung in dem Artikel Charité-Mitarbeiter wollen unbefristet streiken:

»Charité-Mitarbeiter wollen unbefristet streiken … Nach langen, aber ergebnislosen Verhandlungen steht der Charité ein unbefristeter Ausstand bevor. Am 22. Juni soll es losgehen. Nicht der Streik, sondern der Normalzustand an der Klinik gefährde die Patienten, erklärt die Gewerkschaft … In dem Konflikt geht es vor allem um die Situation der Pflegekräfte: Sie beklagen eine zu dünne Personaldecke und eine sehr hohe Arbeitsbelastung. Bemühungen um einen Tarifvertrag, der etwa Forderungen nach Mindestbesetzungen auf Stationen Rechnung trägt, laufen seit 2013. Die Charité-Leitung sieht jedoch Hindernisse: Die geforderten 600 Zusatz-Pfleger seien nicht verfügbar und die Kosten dafür zu hoch.«

Nunmehr ist diese Ankündigung Wirklichkeit geworden. »Die in Verdi organisierten Charité-Beschäftigten fordern mehr Personal, auch um stressbedingte Versorgungsfehler am Krankenbett zu vermeiden. Konkret hieße das, zu den mehr als 4.000 Charité-Pflegekräften kämen Hunderte neue Stellen. Die Gewerkschaft hatte fast drei Jahre mit dem Vorstand verhandelt, der wiederholt erklärte, der Charité fehle dafür das Geld, vielmehr seien die Krankenkassen und die Bundespolitik zuständig«, kann man dem Artikel Wenn die Krankenbetten leer bleiben von Hannes Heine und Juliane Fiegler entnehmen.

An dieser Stelle sei der Hinweis darauf erlaubt, dass wir hier mit einer durchaus vergleichbaren Problematik konfrontiert werden, die bereits beim Streik der Erzieher/innen eine wichtige Rolle gespielt hat bzw. spielt: Viele Kommunen argumentieren dort, dass sie ja gerne die Fachkräfte in den Kindertageseinrichtungen besser bezahlen möchten, dazu finanziell aber nicht in der Lage sind, weil sie bereits heute mit der Umsetzung des vom Bundesgesetzgeber vorgeschriebenen Rechtsanspruchs auf einen Betreuungsplatz ab dem vollendeten ersten Lebensjahr überfordert seien. Wenn man die Fachkräfte besser bezahlen möchte, dann seien an dieser Stelle die Bundesländer und der Bund in der Verantwortung – was durchaus richtig ist, für die betroffenen Arbeitnehmer aber dazu führen kann, dass sie im Niemandsland der Nicht-Zuständigkeit der drei föderalen Ebenen hängen bleiben. Durchaus vergleichbar könnte das sein, was jetzt den Pflegekräften im aktuellen Arbeitskampf droht. Die Charité wird argumentieren, dass das Anliegen der Streikenden ja durchaus nachvollziehbar sei, hierzu aber eine bundeseinheitliche Regelung angestrebt werden müsse, weil sich das vor Ort in den einzelnen Krankenhäuser gar nicht realisieren lässt.

»Der Charité-Ausstand ist im Kern ein politischer Streik – er fordert nicht nur die Universitätsklinik, sondern das Gesundheitswesen heraus. Zu Recht«, so Hannes Heine in seinem Kommentar Ein krankes System, der schon vom 28. April 2015 datiert und über den damaligen zweitägigen Streik an der Charité berichtet hat. »Weil es den überraschend zahlreichen Streikenden nicht um die Löhne geht, sondern darum, die Spitze der Universitätsklinik zu einer anderen Personalpolitik zu zwingen, ist dieser Arbeitskampf im Kern das, was in Deutschland gar nicht erlaubt ist: ein politischer Streik«, so Heine und er findet das auch gut so. Denn ansonsten wird sich kaum etwas bewegen auf der politischen Bühne, die sich bislang darauf verlassen konnte, dass das Pflegepersonal schon nicht streiken wird und man sich weiterhin arrangieren kann bzw. die Interessen anderer Gruppen, beispielsweise der Ärzte, eher verfolgt als die der Pflege, die – wenn überhaupt – nur vor sich hin meckert.

Aber die Pflegekräfte an der Charité haben sich entschlossen, den harten, steinigen Weg eines Arbeitskampfes einzuschlagen. Vielleicht wird sich das einmal als der entscheidende Arbeitskampf im deutschen Gesundheitswesen erweisen. Noch nie wurde für mehr Kollegen gestreikt, statt für mehr Lohn. Erst einmal handelt es sich um einen lokalen Streik – die Charité behandelt etwa 20 Prozent der Berliner Patienten, Vivantes beispielsweise 30 Prozent.  Vielleicht rührt daher die derzeit beobachtbare Interaktivität der Berliner Politik, die die Charité in den Streik hinein laufen lässt, ohne irgendwelche Aktivitäten erkennen zu lassen. Vielleicht ist es die Hoffnung, dass sich die Patienten eben auf die anderen Krankenhäuser verteilt werden, irgendwie, und man das ganze aussitzen kann. unsicher werden genau deswegen auch zahlreiche Zweifler ihre Bedenken vortragen, ob dieser Weg denn der richtige und vor allem der erfolgreicher sein kann.

Auch hier kann der Blick in die Vergangenheit helfen. Hannes Heine hat darauf hingewiesen:

»Führen lokale Arbeitskämpfe zu neuen Bundesgesetzen? Historisch gesehen, ja. Heute ist die Lohnfortzahlung im Krankheitsfall üblich, Millionen nehmen sie in Anspruch. In den 50ern galt dieses Recht nur für Angestellte. Im Winter 1956/57 streikten die Werftarbeiter in Schleswig-Holstein heute unvorstellbare 16 Wochen lang, um die Lohnfortzahlung für Arbeiter durchzusetzen. Weil man in der Bundespolitik fürchtete, solche Tarifverträge würden bald alle wollen, fand sich bald eine Bundestagsmehrheit für eine erste Gesetzesnovelle. Volle Gleichstellung gab es dann 1970.«

Ein solches Unterfangen lebt immer von den handelnden Akteuren, die bereit sind, den steinigen Weg auch zu gehen – Hannes Heine porträtiert einen davon in seinem Artikel Von Bett zu Bett hetzen – bis einer was vergisst: Carsten Becker, 49 Jahre alt, Personalrat in der landeseigenen Charité. Und Becker kann den Streik gut begründen:

»Pro Schicht betreut eine Schwester auf der Normalstation zehn, elf, zwölf Patienten. Hetzt von Bett zu Bett. Bis sie womöglich etwas vergisst, eine Patientenakte, vielleicht aber auch das Desinfizieren der Hände. Nachts betreut eine Schwester 25 Patienten, oft sind Schwergewichtige dabei, die sie ohne Hilfe kaum umdrehen kann. Druckgeschwüre drohen. Nachts keine Schicht allein, fordern die Streikenden, tagsüber fünf Patienten pro Pflegekraft.«

„Wir brauchen mehr Leute“, sagt Becker. „Der Vorstand weiß das.“ Damit direkt angesprochen ist Karl Max Einhäupl, 68 Jahre, Neurologe. Er ist Chef der Charité.

»Einhäupl wollte den Streik vom Arbeitsgericht verbieten lassen, das Patientenwohl sei gefährdet, die Forderungen seien kaum tariffähig. Selbstverständlich, erklärte der Richter, dürfe man für mehr Personal streiken. Und mit Verdi ist vereinbart worden, Notfälle auch während des Streiks zu versorgen. Einhäupl versucht es nun beim Landesarbeitsgericht.« Aber der Streik hat erst einmal begonnen, die Karawane hat sich in Bewegung gesetzt. Und pro Streiktag verliert die Charité mindestens 500.000 Euro.

Nur für alle potenziellen Kritiker der Streikaktionen sei an dieser Stelle nochmals darauf hingewiesen: Der Arbeitskampf ist nicht vom Himmel gefallen, sondern steht am Ende einer längeren Geschichte:

»Die Pflegekräfte sehen durch den schlechten Personalschlüssel und den hohen Einsatz von Leiharbeitern die Standards nicht mehr eingehalten und deshalb die Sicherheit der Patienten gefährdet. Deshalb verhandelt ver.di seit mehr als zweieinhalb Jahren mit der Klinikleitung über eine Mindestbesetzung, die die Gewerkschaft in einem Tarifvertrag festhalten will. Unter anderem fordern sie, dass nachts auf jeder Station mindestens zwei Kollegen Dienst tun und für Intensivstationen einen Betreuungsschlüssel von einer Fachkraft für zwei Patienten. Damit orientiert sich ver.di an Empfehlungen der Fachgesellschaften. Außerdem möchte die Gewerkschaft verbindliche Verfahren zum Erfassen von Überlastungssituationen. Allein seit Beginn der Gespräche haben Beschäftigte laut ver.di mehr als 800 Gefährdungsanzeigen bei der Klinikleitung vorgebracht, um dieser die prekäre Personalsituation vor Augen zu führen und auf die Konsequenzen aufmerksam zu machen. Doch auf eine Reaktion warten sie in den meisten Fällen vergeblich«, so Claudia Wrobel in ihrem Artikel Patientengefährdung.

Auch in diesem Blog wurde bereits mehrfach über das Thema berichtet, so beispielsweise im Zusammenhang mit Erkenntnissen über die desaströse Situation bei den Nachtdiensten: Man kann sich auch zu Tode sparen. Die alles überlagernde Kostensenkungslogik trifft in der Pflege beide Seiten der Medaille hart, die Patienten und die Pflegekräfte, so beispielsweise die Überschrift eines Beitrags vom 07. 03.2015.

Letztendlich geht es um die Frage von Personal(mindest)standards. Denn die sind entgegen der Annahme vieler „normaler“ Bürger im Krankenhausbereich gerade nicht vereinbart, geschweige denn, dass ihre tatsächliche Ausprägung vor Ort entsprechend überprüft wird. Bereits am 08.09.2014 wurde dies in dem Beitrag Pflegenotstand – und nun? Notwendigkeit und Möglichkeit von Mindeststandards für die Ausstattung der Krankenhäuser mit Pflegepersonal entfaltet. Dabei handelt es sich um eine sehr lange, gleichsam unendliche Geschichte. Man kann die mit einem Kürzel belegen: PPR. Das steht für „Pflege-Personalregelung“. Die gab es schon mal – und wurde dann ganz schnell wieder eingestampft.

Die Pflege-Personalregelung wurde 1993 eingeführt, um die Leistungen der Pflege transparenter zu machen und eine Berechnungsgrundlage für den Personalbedarf zu haben. Experten gingen damals davon aus, dass sich durch konsequente Anwendung der PPR bundesweit ein Personalmehrbedarf im fünfstelligen Bereich ergeben würde.  Als sich abzeichnete, dass die daraus resultierenden Mehrkosten nicht zu tragen sind, wurde die Pflege-Personalregelung schnell wieder ausgesetzt.

Wie gesagt, das war Anfang der 1990er Jahre. Heute schreiben wir das Jahr 2015. Und im Interview mit Sylvia Bühler, Bundesvorstandsmitglied bei der Gewerkschaft ver.di und Leiterin des Fachbereichs Gesundheit und soziale Dienste, unter der Überschrift „Alarmsignale in den Kliniken werden ignoriert“ muss man lesen: 162.000 Stellen fehlen in deutschen Krankenhäusern, davon allein 70.000 in der Pflege. Gegen die Personalnot fordert ver.di eine gesetzliche Regelung. Eva Quadbeck zitiert in ihrem Artikel Die Not der Klinikpfleger Andreas Westerfellhaus, den Vorsitzenden des Deutschen Pflegerats: „Seit 2007 wurden 50.000 Pflegestellen in Krankenhäusern abgebaut. Oft genug sind nur eine Krankenschwester und eine Schwersternschülerin für rund 30 Patienten zuständig“. Die Arbeitsbelastung hat nach Daten des Statistischen Bundesamtes in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen. Während im Jahr 2000 eine Vollzeit-Pflegekraft auf 100 Krankenhausfälle kam, musste sich diese Kraft im Jahr 2013 um 115 Fälle kümmern.

Man kann nur hoffen, dass die Pflegekräfte an der Charité Erfolg haben, nicht ausgehungert werden an der langen Leine des Tot-Stellens, wie wir es von der Arbeitgeber-Seite beispielsweise im Kita-Streik haben zur Kenntnis nehmen müssen. Es ist Zeit für einen Aufbruch der Pflegekräfte. Wenn nicht jetzt, wann dann?