Am ausgestreckten Arm verhungern lassen – nach diesem Motto scheint das Bundesarbeitsministerium zu agieren, egal, was das Bundessozialgericht so urteilt

Das Bundessozialgericht urteilt – ja und? Man muss ja nun wirklich nicht alles umsetzen, was die Robenträger so entscheiden. So oder ähnlich kann und muss man das Verhalten der Bundesregierung zusammenfassen, hinsichtlich behinderter Menschen, die bei ihren Eltern oder in Wohngruppen leben. Denen verweigert man weiterhin den vollen Sozialhilfesatz. Vgl. dazu den Artikel Vorenthaltene Selbständigkeit. Worum geht es?

»79 Euro pro Monat sind für Mittellose viel Geld. Für dieses Plus, den Unterschiedsbetrag zwischen Regelbedarfsstufe drei (320 Euro) und eins (399 Euro) bei der Sozialhilfe, haben sich erwerbsunfähige Behinderte in drei Verfahren erfolgreich durch die Instanzen gekämpft. Das Bundessozialgericht (BSG) sprach Betroffenen in einem Grundsatzurteil vom 23. Juli 2014 den vollen Sozialhilfesatz für Alleinstehende zu, auch wenn sie im Haushalt der Eltern oder in Wohngemeinschaften leben. Nur so sei der Gleichheitsgrundsatz gewahrt.«

Zur Entscheidung des Bundessozialgerichts vgl. auch die Pressemitteilung des Gerichts: Sozialhilfe für volljährige behinderte Menschen, die bei ihren Eltern oder in einer Wohngemeinschaft leben, nach Regelbedarfsstufe 1 (100 %), dort gibt es auch die Links zu den drei Urteilen vom 23.07.2014, B 8 SO 14/13 R, B 8 SO 12/13 R sowie B 8 SO 31/12 R.

Und was ist jetzt das Problem?

Das Bundesministerium für Arbeit und Soziales (BMAS) bleibt trotz der Entscheidungen des BSG hart und speist die meist dauerhaft auf staatliche Leistungen Angewiesenen bis heute mit 20 Prozent weniger ab. Wie kann das passieren?

Im November 2014 forderte das BMAS in einem Rundschreiben an kommunale Spitzenverbände und den Bundesrechnungshof die Grundsicherungsämter dazu auf, trotz neuer Rechtslage an der alten Regelung festzuhalten. Widersprüche seien im Einzelfall zu prüfen, heißt es darin weiter. Bei Ablehnung könnten die Betroffenen mit ihrer Behörde vereinbaren, die Verfahren bis auf weiteres ruhend zu stellen. Ansonsten würden sie für beendet erklärt, negative Bescheide seien nicht mehr anfechtbar. Sein Vorgehen begründete das BMAS mit einer »unsicheren Rechtsgrundlage aufgrund fehlender Entscheidungsgründe«, so Bonath in ihrem Artikel.
Doch die hat das BSG nunmehr nachgereicht, also müsste doch jetzt wenigstens eine Anpassung der Umsetzungspraxis an die Rechtslage erfolgen, sollte man meinen. Wieder weit gefehlt.

Das Ministerium unter Führung von Andrea Nahles (SPD) hält trotz der Urteile des BSG am verminderten Regelsatz für Behinderte fest, die bei den Eltern oder in Wohngruppen leben. Die Urteilsgründe würden nun erst einmal »umfassend bewertet«, so wird der BMAS-Sprecher Dominik Ehrentraut in dem Artikel zitiert. Erst nach dieser umfassenden Prüfung wird sich das Ministerium zum weiteren Umgang äußern. Und damit gleich klar wird, dass das dauern kann: »Das Ministerium hege gar verfassungsrechtliche Zweifel an der Entscheidung des obersten Sozialgerichts.« Der Ministeriumssprecher weiter: „Insofern besteht weiterhin eine unsichere Rechtsgrundlage“. Und dann noch ein „netter“ Rat an die Betroffenen: Es obliege den Bedürftigen, Bescheiden zu widersprechen oder Überprüfungsanträge zu stellen.

Wie man so was nennt? Am ausgestreckten Arm verhungern lassen. Die Lebenshilfe, so Bonath in ihrem Artikel, rät dazu, weiterhin Bescheiden zu widersprechen, gegebenenfalls Untätigkeitsklagen einzureichen. Das koste alles »Zeit und Nerven«. Und das nur, weil man offensichtlich an höchster Stelle eine rechtlich gebotene Klarstellung verschleppen will. Es wäre hilfreich gewesen, wenn das BSG die Entscheidung gleich an das Bundesverfassungsgericht weitergereicht hätte, so hängt jetzt alles irgendwie in einem Niemandsland fest.

„Die EU ist keine Sozialunion“, sagt die Bundeskanzlerin. Sozialleistungen an EU-Ausländer seien „eine große soziale Errungenschaft, die man mehr würdigen sollte“, sagt ein Sozialrechtler

Immer wieder wirft man der Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) vor, sie würde eigentlich nie richtig Position zu umstrittenen Fragen beziehen. Nunmehr – wenige Tage vor den Europawahlen – scheint sie von dieser Linie abzuweichen: »Angela Merkel macht Sozialmissbrauch durch Ausländer zum Wahlkampfthema. In einem Interview lehnt die Bundeskanzlerin eine „Sozialunion“ in Europa ab. EU-Bürger, die in Deutschland Arbeit suchen, sollten kein Hartz IV erhalten«, kann man dem Artikel „Die EU ist keine Sozialunion“ entnehmen. Und in den Berichten über die Aussagen der Kanzlerin hat sich die Verwendung des Begriffs „Sozialmissbrauch“ ohne jegliche Anführungszeichen verselbständigt, so beginnt beispielsweise der Artikel Merkel will „keine Sozialunion“ in der FAZ mit der Feststellung: »Die Bundeskanzlerin verschärft in der Debatte über Sozialmissbrauch durch EU-Ausländer den Ton«. Aber es gibt natürlich auch eine andere Seite der Debatte: Pauschale Ressentiments gegenüber EU-Ausländern seien oft falsch, sagte Eberhard Eichenhofer, Professor für Sozialrecht an der Universität Jena, im Deutschlandfunk. „Europa hat nämlich ein soziales Gesicht, was selten gesehen wird.“ Er spricht sogar von einer großer sozialer Errungenschaft, die man mehr würdigen sollte, als es zuweilen geschieht (Interview mit Eberhard Eichenhofer im Deutschlandfunk). Und Gudula Geuther kommentiert: Der Ton bei Zuwanderungsfragen stimmt nicht.

Man wolle „Hartz IV nicht für EU-Bürger zahlen, die sich allein zur Arbeitssuche in Deutschland aufhalten“, so die Bundeskanzlerin in einem Interview mit der Passauer Neuen Presse. Hintergrund ist ein derzeit vor dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) laufendes Verfahren (Az. C-333/13). Nach einer Stellungnahme des Generalanwalts beim EuGH, Melchior Wathelet, darf Deutschland Bürgern aus anderen EU-Staaten Hartz-IV-Leistungen verweigern, wenn sie ausschließlich zum Bezug von Sozialhilfe einreisen. Das eigentliche Urteil des Gerichtshofs wird vermutlich erst in einigen Monaten fallen. Zum Hintergrund des derzeitigen Verfahrens vor dem EuGH:

»Im konkreten Fall ging es um eine Rumänin aus Leipzig, die auf Zahlung von Hartz IV geklagt hatte. Das dortige Jobcenter hatte ihr die Leistungen zur Grundsicherung verweigert. Die Rumänin wohnt mit ihrem in Deutschland geborenen Sohn seit mehreren Jahren in Leipzig in der Wohnung ihrer Schwester. Die Frau hat keinen erlernten oder angelernten Beruf und war bislang weder in Deutschland noch in Rumänien erwerbstätig. Sie reiste den Angaben zufolge offenbar nicht nach Deutschland ein, um Arbeit zu suchen und bemüht sich auch nicht um eine Arbeitsstelle. Gutachter Wathelet vertrat die Auffassung, das EU-Recht erlaube EU-Bürgern und ihren Familienangehörigen, sich für drei Monate in einem anderen Mitgliedstaat aufzuhalten – solange sie die Sozialhilfeleistungen dieses Mitgliedstaats nicht unangemessen in Anspruch nehmen. Wenn sie länger als drei Monate bleiben wollen, müssten sie über ausreichende Existenzmittel verfügen, sodass sie keine Sozialhilfeleistungen des Aufnahmestaats in Anspruch nehmen müssen.«

Nunmehr wird aber in der aktuellen Debatte eine ganze Menge durcheinander geworfen. Also ein etwas genauerer Blick auf die Frage, welche Sozialleistungen EU-Bürgern zustehen. Grundsätzlich gilt
»Staaten können EU-Zuwanderern in den ersten drei Monaten ihres Aufenthalts Sozialleistungen verwehren, das erlaubt Artikel 24 der Aufenthaltsrichtlinie ausdrücklich. Damit können sich die Länder gegen Einwanderung in ihre Sozialsysteme schützen.«

Aus der genannten Aufenthaltsrichtlinie kann man dem Artikel 24 entnehmen: Grundsätzlich »genießt jeder Unionsbürger, der sich aufgrund dieser Richtlinie im Hoheitsgebiet des Aufnahmemitgliedstaats aufhält, im Anwendungsbereich des Vertrags die gleiche Behandlung wie die Staatsangehörigen dieses Mitgliedstaats. Das Recht auf Gleichbehandlung erstreckt sich auch auf Familienangehörige«. Dann aber kommt der entscheidende Passus: Der »Aufnahmemitgliedstaat (ist) jedoch nicht verpflichtet, anderen Personen als Arbeitnehmern oder Selbstständigen … während der ersten drei Monate des Aufenthalts oder gegebenenfalls während des längeren Zeitraums … einen Anspruch auf Sozialhilfe … zu gewähren.«

Das hat der Generalanwalt beim EuGH nun in seiner Stellungnahme bestätigt. Aber auch nicht mehr und zu dem mehr gehören viele Dinge, die jetzt unzutreffenderweise in einen Topf mit der beschriebenen Fallkonstellation geworfen werden. Grundsätzlich ist Deutschland verpflichtet, Zuwanderern aus anderen EU-Staaten Sozialleistungen zu zahlen und daran kann auch nichts geändert werden. Es gibt also zahlreiche Sozialleistungen, die völlig rechtmäßig an EU-Ausländer geleistet werden (müssen), ob einem das gefällt oder nicht. Allerdings vermischen sich jetzt die unterschiedlichen Ebenen, wenn man beispielsweise in dem FAZ-Artikel Merkel will „keine Sozialunion“ lesen muss:

»Im Vorjahr haben in Deutschland lebende Ausländer Hartz-IV-Leistungen in Höhe von rund 6,7 Milliarden Euro bezogen – etwa ein Fünftel des Gesamtvolumens. Auf die rund 900.000 Ausländer aus Nicht-EU-Staaten entfielen 5 Milliarden Euro, auf die 311.000 Zugewanderten aus den anderen EU-Ländern 1,7 Milliarden Euro. Das geht aus einer Antwort des Bundesarbeitsministeriums auf eine parlamentarische Anfrage hervor. Darin sind Gesamtaufwendungen für Hartz-IV-Leistungen von 33,7 Milliarden Euro ausgewiesen. Bundesbürger erhielten davon 26,8 Milliarden Euro.«

Ja und was hat die Darstellung des Gesamtvolumens mit dem konkret anhängigen Fall zu tun? Der weniger eingeweihte Leser könnte auf die Idee kommen, hier wird das Volumen dessen beschrieben, was vorher im Text ohne Anführungszeichen als „Sozialmissbrauch“ bezeichnet wurde, dann wäre das angesichts von 6,7 Mrd. Euro eine schockierende Nachricht. Aber der größte Teil dessen, was hier ausgewiesen wird, steht gar nicht zu gesetzgeberischen Disposition, was natürlich auch der Bundeskanzlerin bekannt ist, wird sie doch einige Zeilen vorher so zitiert: „Wir wollen Hartz IV nicht für EU-Bürger zahlen, die sich allein zur Arbeitsuche in Deutschland aufhalten.“ Zum Kindergeld gebe es in der EU Freizügigkeitsregelungen und ein klares Urteil des Europäischen Gerichtshofes. Danach hätten in Deutschland arbeitende EU-Bürger grundsätzlich Anspruch darauf, wenn sie in Deutschland erwerbstätig sind (vgl. zur vor kurzem durch die Medien getriebenen Thema Kindergeld für EU-Ausländer zum einen das Interview mit mir im ZDF-Mittagsmagazin sowie ausführlicher den Blog-Beitrag Brandstifter unterwegs. Osteuropäische Saisonarbeiter in der Druckerpresse der Stimmungsmache kurz vor den Europawahlen. Und die Zahlen werden gebogen, bis sie passen).

Hier haben wir einen zentralen Punkt: Wenn beispielsweise ein Rumäne oder Bulgare nach Deutschland kommt und eine Erwerbstätigkeit aufnimmt, mit der er so wenig verdient, dass er aufstockend Anspruch hat auf Leistungen aus dem Grundsicherungssystem, dann bekommt er die auch und die sind in den Beträgen oben mit enthalten. Und wenn ein osteuropäischer Wanderarbeiter für einige Monate in Deutschland arbeitet, beispielsweise als Erntehelfer, dann bekommt er den Differenzbetrag zwischen dem Kindergeld in Deutschland und dem in seinem Heimatland für seine Kinder ausgezahlt, wenn er unbegrenzt steuerpflichtig ist.

Aber offensichtlich fürchtet sich die Bundesregierung vor einer Instrumentalisierung des Themas durch EU-kritische Parteien in den letzten Tagen vor der Europawahl und deshalb wirft Merkel sich jetzt auch so in die Bresche – übrigens, das sei hier der historischen Richtigkeit angemerkt, Angst vor der Instrumentalisierung einer Debatte, die von der in der Regierung vertretenen CSU ausgelöst worden ist, was nicht einer gewissen zynischen Ironie entbehrt: Man will Handlungsstärke demonstrieren, man will vermitteln, dass man sich darum kümmert. Und schon wird ein Gesetzesentwurf vorgelegt – in einem Tempo, das man sich für andere, weitaus drängendere Themen wünschen würde (vgl. hierzu nur als ein Beispiel meine Kritik an der offensichtlichen Arbeitsverweigerung der Bundesregierung beim Thema Schein-Werkverträge: Nicht nur für Banken gibt es einen „Reservefallschirm“. Auch für faktisch entleihende Unternehmen, die einen (Schein-)Werkvertrag nutzen).

Zum Gesetzentwurf können wir dem FAZ-Artikel entnehmen:

»Dem neuen Gesetzentwurf zufolge sollen unter anderem bei Sozialbetrug fünf Jahre lange Einreiseverboten und Beschränkungen beim Kindergeld drohen. Die Grundzüge des Vorhabens sind schon seit zwei Wochen bekannt – jetzt liegen auch die angepeilten Detailregelungen vor, die nach einem Kabinettsbeschluss allerdings noch durch Bundestag und Bundesrat müssen. Wer sich durch falsche oder unvollständige Angaben eine Aufenthaltserlaubnis erschleicht, muss demnach mit bis zu drei Jahren Gefängnis rechnen. Den unberechtigten Bezug von Kindergeld will man dadurch verhindern, dass der Antragsteller künftig Steueridentifikationsnummern für sich und das jeweilige Kind vorlegen muss. EU-Zuwanderer sollen zur Arbeitssuche zudem in der Regel nur noch ein auf sechs Monate befristetes Aufenthaltsrecht bekommen.«

Da wird schweres Geschütz aufgefahren – da wird Gefängnis bis zu drei Jahre in Aussicht gestellt, wenn man bei falschen Angaben erwischt wird. Auch hier wieder beschleicht einen das Gefühl, dass das immer irgendwie ungleichgewichtig daherkommt, wenn man beispielsweise an die Ausbeuter denkt, die auf deutschen Baustellen von der Beschäftigung scheinselbständiger osteuropäischer Bauarbeiter profitieren und gegenüber denen eine solche Keule nicht geschwungen wird (vgl. dazu den Beitrag „Miese Geschäfte mit Arbeits-Migranten“ des ZDF-Wirtschaftsmagazins WISO am 05.05.2014).

Ungerechtfertigte Griffe in die Sozialkassen – auch durch EU-Ausländer – zu verhindern, ist richtig. Aber in Zuwanderungsfragen mache der Ton die Musik, kommentiert Gudula Geuther, und der stimme im Kontext des Gesetzesentwurfes gegen Sozialleistungsmissbrauch derzeit nicht. Geuther stört sich an der Scheinheiligkeit des schnell zusammen geschusterten Gesetzentwurfs. Ein Beispiel:

»Da ist die Begrenzung des Aufenthalts für Arbeitssuchende. Bisher gibt es eine solche Grenze nach dem Buchstaben des Gesetzes nicht. Nach einem halben Jahr soll in Zukunft in der Regel nur bleiben dürfen, wer das aus anderen Gründen darf, zum Beispiel weil er sich selbst versorgen kann. Das klingt naheliegend. Tatsächlich ist es so naheliegend, dass es die Regelung längst gibt. Schon bisher ziehen Gerichte in der Regel bei sechs oder neun Monaten die Grenze. Man kann das trotzdem ins Gesetz schreiben. Aber wer das heute und ohne Erklärung tut, der tut so, als wäre Deutschland voll von vermeintlich arbeitsuchenden Nichtstuern aus den Nachbarstaaten. Und er tut so, als versuche Deutschland ständig erfolglos, EU-Ausländer aus den Grenzen zu weisen. Auch da ist das Gegenteil der Fall. Im Vollzug der Ausweisung ist man zurückhaltend.«

Treffer und versenkt. Eine Art Staatsversagen beim Vollzug bestehender rechtlicher Regelungen wird hier übertüncht mit symbolischer Gesetzgebung – allerdings mit falschen Symbolen. Und man möchte anfügen – wieder einmal spielt die Politik hier aus sehr kurzsichtigen wahlkampfstrategischen Überlegungen mit dem Feuer.
Deshalb zum Abschluss und als Kontrapunkt die ganz anders getaktete Positionierung des Sozialrechtlers Eberhard Eichenhofer im Interview mit dem Deutschlandfunk:

Es sei die Idee Europas, „dass Wanderarbeit nicht mit sozialrechtlichen Nachteilen verbunden sein soll“, sagte Eichenhofer. „Europa hat nämlich ein soziales Gesicht, was selten gesehen wird. Das erste Gesetz, was die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft erließ, betraf die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit, dazu gehört die Regelung über die Kindergeldzahlungen. Das ist eine große soziale Errungenschaft, die man mehr würdigen sollte, als es zuweilen geschieht.“

Aber mit so einer Position kann man eben kein Krawall machen. Richtig bleibt sie trotzdem oder gerade deswegen.

Die Armen kommen ganz durcheinander: Die „Münchhausen-Theorie“ des aus dem Gefängnis der Sozialhilfe ausbrechenden edlen Armen und die fatalistische Botschaft von der nicht aufhebbaren Klassengesellschaft. Und das an einem Tag

Also die armen Menschen haben es in vielerlei Hinsicht nicht einfach. Auch, was ihre (Nicht-)Perspektiven angeht. Da schreibt der eine, Torsten Krauel, „Die deutsche Sozialhilfe wird zum Gefängnis“ und behauptet, dass der Anspruch des Staates, mittels Sozialhilfe Armut zu bekämpfen, zum Phlegma und zur Unmündigkeit seiner Bürger führe. Und dann kontert der andere, Rainer Hank, damit: »Die Klassengesellschaft lebt. Soziale Mobilität wird überschätzt. Noch nicht einmal Revolutionen kehren die Verhältnisse um.« Und er stellt in seinem Artikel „Die neue Klassengesellschaft“ die Frage: »Müssen wir alle zu Fatalisten werden?«. Gute Frage.

Schauen wir uns zuerst einmal das – scheinbar – einfachere Beispiel an, also den Text von Krauel mit der „Sozialhilfe als Gefängnis“. Der Autor beginnt mit einer rührseligen Geschichte, perfekt abgestimmt auf die bildungsnahen Schichten, wie das heute wohl so heißt:

»Als der später weltberühmte Neurochirurg Ben Carson noch ein Gettokind in Detroit war, auf der Straße herumzulungern begann und sich für Designerklamotten zu interessieren anfing, tat seine Mutter zwei Dinge. Erstens zwang sie ihn, jede Woche ein Buch aus der Leihbücherei zu lesen und ihr darüber bis zum Sonntag einen Bericht zu schreiben. Denn sonntags ging die Mutter nicht bei reichen Menschen die Villen putzen, sondern in die Kirche. Zweitens bekam Ben Carson eines Tages die knappe Haushaltskasse ausgehändigt: Hier, diese Woche sorgst du für unsere Familie, und wenn du dann einen Weg findest, Geld für Designerklamotten übrig zu haben – bitte, dann kauf dir welche.
Es war natürlich nicht ein Cent übrig. Die Leseberichte schrieb Carson erst widerwillig, dann fleißig. Er fing an, sich für das Gelesene zu interessieren. Seine Zeugnisse wurden besser, und er hörte auf, sich als Klassenclown anzubiedern.«

Der geneigte Leser ahnt schon, wie diese moderne „Vom Tellerwäscher zum …“-Story enden muss: Mit 33 Jahren war Ben Carson Chef einer der renommiertesten Neurokliniken Amerikas und bald darauf Millionär – er, der zwanzig Jahre vorher fast ein Crackdealer geworden wäre, so Krauel in seinem Artikel. Den Ben Carson gibt es wirklich. Für Krauel ist das alles nur Staffage für seine Botschaft, die er unter das Volk bringen möchte: Carsons Lebensweg sei auch für Deutschland ein Beispiel dafür, »… dass Mangel Leistung mobilisiert und nicht nur Kriminalität – sofern die Menschen in ihrem eigenen Leben darauf beharren, dass es ein Richtig und ein Falsch, dass es ein Gut und ein Böse gibt. Carsons Mutter ist ein Beispiel dafür, dass Armut kein naturgegebenes Schicksal ist – sofern der Einzelne die Auskunft der Politik ignoriert, aus eigener Kraft sei der moderne Mensch nicht mehr imstande, sein Leben in den Griff zu bekommen.«

Vor diesem wahrhaftigen Sittengemälde des Aufstiegs von ganz unten kommt der Verfasser dann zur Sache, die daraus besteht, den Irrweg der Deutschen anzuprangern: »Die deutschen Parteien sehen den Menschen … aus der Perspektive feudalistischen Denkens. Für sie ist der Mensch in Hilflosigkeit geboren, nicht in Freiheit.« Einmal warm geworden, steigert er sich in sich selbst hinein: Seiner Meinung nach »schlüpfen (die Parteien) in die Rolle der Freiherren. Sie erziehen die Menschen nicht mehr zur Freiheit. Sie erziehen die Menschen zu etwas anderem – dazu, in den Kategorien angestammter Lehen, zu erobernder Vorrechte, lebenslang vom Staat verliehener Rechtstitel denken zu lernen statt in den Kategorien von Arbeit, Aufstieg, Leistung, Opfer und Selbstverantwortung.« Und dermaßen in Fahrt rundet er seine Argumentation ab mit einer clipartigen Kurzfassung der Geschichte:

»Vermögen sind in Deutschland nur dort entstanden, wo es … Not als Anreiz zur Kreativität (gab) – in Schwaben, Sachsen, dem Sauerland, in Berlin und Hamburg. Not war die Bedingung für die Entstehung des deutschen Mittelstands, und dieser die Voraussetzung für Deutschlands Aufstieg zur Exportmacht.«

Kurzum – ein wenig mehr Not würde den deutschen Armen schon gut tun. Wenn sie dann noch irgendeine intrinsische Kraftquelle haben, dann klappt das schon mit dem Aufstieg zum erfolgreichen und reichen Mediziner. Auch von ganz unten.

Aber man lässt unsere Armen nicht alleine mit einer solchen Botschaft. Parallel zu Krauel’s Hymne auf die Wadenbeißer von unten, die den Aufstieg geschafft haben wurden wir in der Online-Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) mit dem Artikel „Die neue Klassengesellschaft“ aus der Feder von Rainer Hank konfrontiert, der nun ganz andere Signale aussendet – schlechte Nachrichten für die „Freunde von Gerechtigkeit und Gleichheit“, wie sie von Hank abschätzig tituliert werden:

»Wer an Aufstiegschancen für jedermann glaubt, einerlei aus welcher Familie, Sippe oder Religion, ist ein Illusionär. Herkunft lässt sich nicht überspielen; was zählt, ist die Familie. Oben bleibt oben, und unten bleibt unten. Daran ändern weder deutsche Sozialpolitiker noch kommunistische Revolutionäre etwas.«

Also doch nichts mit der „Münchhausen-Theorie“ eines Krauel und anderer, dass man sich selbst aus dem Sumpf der Armut und der ewigen Wiederkehr der Armut ziehen kann, wenn man nur intrinsisch motiviert  genug an die heilige Bibel des Aufstiegs durch Bildung glaubt?

Damit jeder mögliche Einwand gleich am Anfang niederkartäscht wird, zerrt Hank sogar den alten Mao auf die Zeugenbank, denn der ist ja nun wirklich nicht zimperlich vorgegangen bei der Installierung eines revolutionären Gesellschaftssystems:
»… eines hat Mao … nicht vermocht: die Oberschicht auszurotten, die Habenichtse an die Macht zu bringen und ein Reich von lauter Gleichen zu schaffen. „Die Nachkommen der vorrevolutionären Eliten sind im heutigen China immer noch so dominant wie die Kaste der Brahmanen im heutigen Indien“, schreibt der Historiker Gregory Clark in einem neuen Buch«, so Hank. Bei dem Buch handelt es sich um „The Son Also Rises„. Hank fasst eine der Kernaussagen von Clark so zusammen: »Der Historiker will nachweisen, dass der Weg von unten nach oben praktisch nicht möglich ist (oder, vorsichtiger gesprochen, sich über Hunderte von Jahren hinzieht) und dass die Eliten, die schon oben sind, auch immer oben bleiben (oder, vorsichtiger gesprochen, Hunderte von Jahren oben bleiben).«

Und in einer mehr als passenden Entsprechung zu den skizzierten Ausführungen von Krauel bekommen wir von Hank eine richtig dicke Packung:

»All die zu Herzen gehenden Tellerwäschergeschichten, wie der kleine Oliver Twist aus dem Armenhaus zu bürgerlichem Ansehen gelangt und der kleine René Obermann es aus dem Prekariat heraus an die Spitze der Deutschen Telekom schafft, wären demnach, statistisch gesehen, Einzelfälle, die ein falsches Bild von Chancengerechtigkeit vermitteln und bestenfalls unsere Wunschvorstellung von einer fairen Weltordnung befriedigen. Weil wir gerne in einer Welt sozialer Mobilität leben wollen, glauben wir, dass wir auch tatsächlich in einer solchen Welt leben.«

Man kann das als eine „frohe Botschaft“ begreifen, je nach Klassenstandpunkt: So sei das eine gute Nachricht für die »Oberschichtseltern, die in ständiger Angst vor dem sozialen Absturz ihre Kinder schon als Babys auf Leistung trimmen und an teure Privatschulen und -universitäten schicken, weil die Konkurrenz bekanntlich nicht schläft«. Denn die können im Lichte der neuen Forschungsbefunde von Clark deutlich entspannen.

Und Clark gehört zu der Gruppe der quantitativ arbeitenden Historiker, er fördert beispielsweise diesen erschreckenden Befund im Sinne einer sozialen Nicht-Mobilität zu Tage:

»Das Maß intergenerationeller Mobilität liegt in allen Gesellschaften zwischen 0,7 und 0,9, wobei 0 vollkommene soziale Mobilität bedeutet, während 1 völlige Starrheit der Klassen bedeuten würde. Frühere Untersuchungen hatten deutlich höhere Mobilität ermittelt, mit Werten zwischen 0,15 und 0,65. Der Fehler, so Clark, liegt darin, dass stets alle Kriterien der Zugehörigkeit zur Oberschicht (Einkommen, Wohlstand, Bildung, Berufsstand, Langlebigkeit) gleichzeitig berücksichtigt werden müssen: Wer bei Bill Gates nur auf die Bildung achtet, muss ihn als Versager ansehen, denn er hat nicht einmal ein Hochschulstudium absolviert.«

Ja gibt es denn keine Hoffnung für die Armen?

Natürlich – und an erster Stelle steht diesmal nicht etwa die Bildung, wie so oft in den heutigen Sonntagsreden. Sondern die Heirat. Oder sagen wir korrekter: die richtige Heirat.

»Die Unterschicht muss in die Oberschicht heiraten – und umgekehrt. Denn das ist das beste Mittel, die Talente zu mixen und statistisch jene „Regression zur Mitte“ zu beschleunigen, welche die soziale Mobilität in Schwung bringen könnte.«

Aber – die Menschen halten sich nicht nur beim Rauchen immer viel zu selten an die guten Ratschläge. »Gleich und Gleich gesellt sich gern, und Reiche lieben am liebsten Reiche. Der Trend verstärkt sich sogar.« Womit diese Aufstiegsperspektive für die Armen wieder in sich zusammenfällt. Und natürlich endet Hank mit einer steilen These: »Dass bestimmte Gruppen besonders lange Elite (Juden, Kopten, Brahmanen) oder Unterschicht (Schwarze in Amerika, Sinti) bleiben, dürfte jedenfalls auch mit dem sozialen Paarungsverhalten der Menschen zusammenhängen.«

„Soziales Paarungsverhalten“ – ob das mal eine Kategorie wird in einem deutschen Jobcenter? Bis zur Bedarfsgemeinschaft ist man da ja schon gekommen.