Ganztagsschulen als Schnecke. Eine neue Studie, politische Forderungen in Richtung mehr Ganztägigkeit und ein Schuss ins bildungspolitische Knie namens Kooperationsverbot

Die Bertelsmann-Stiftung hat wieder eine neue Studie veröffentlicht. Diesmal geht es um die Ganztagsschulen in Deutschland bzw. das, was als Ganztagsschule definiert wird, was ein eigenes Thema wäre. Dazu nur ein Beispiel für die Definitionsbreite: Die Kultusministerkonferenz versteht unter „Ganztagsschule“ bereits Schulen, die an mindestens drei Tagen in der Woche ein ganztägiges Angebot bereitstellen, das täglich mindestens sieben Zeitstunden umfasst. Die Botschaft der neuen Studie der Stiftung lässt sich so zusammenfassen: Ganztägiger Unterricht bleibt in Deutschland in der Minderheit. Knapp 33 % und damit jeder dritte Schüler in Deutschland besucht eine Ganztagsschule. Die Stiftung beklagt in ihren Schlussfolgerungen den langsamen Ausbau der Ganztagsschulangebote und fordert vor diesem Hintergrund, jedem Schüler ein Rechtsanspruch auf den Besuch einer Ganztagsschule einzuräumen. Nur über einen solchen Rechtsanspruch könne eine neue Ausbaudynamik entfaltet werden. Dieser Rechtsanspruch soll verknüpft werden mit einer Kooperation zwischen Bund und Ländern für eine flächendeckende Finanzierung sowie eine bessere Qualität mit mehr pädagogischem Personal.

Grundlage der politischen Forderungen der Bertelsmann-Stiftung ist eine neue Studie des Bildungsforschers Klaus Klemm:

Klaus Klemm: Ganztagsschulen in Deutschland: Die Ausbaudynamik ist erlahmt, Gütersloh: Bertelsmann-Stiftung, 2014

Betrachtet man die bisherige Entwicklung des Ausbaus der Ganztagsschulangebote, dann muss man festhalten, dass wir in einem offensichtlichen Dilemma feststecken: Die Schulentwicklung hinsichtlich der Frage Ganztägigkeit ja oder nein ist in einem Zustand von „nicht Fisch, nicht Fleisch“ eingeklemmt. Um dieses Dilemma nachzuvollziehen, reicht ein Blick in unserer europäischen Nachbarstaaten. In fast allen Ländern um uns herum ist die Ganztätigkeit in den Schulen der Normal- bzw. Regelfall. In Deutschland haben wir die Situation, dass hier die Halbtagsschule der Normalfall war und weiterhin auch als Mehrheitsvariante ist, die seit einigen Jahren von einer zunehmenden Zahl von Ganztagsschulangeboten aufgeweicht wird.

Beide Schulformen, also die historisch gewachsene Halbtagsschule wie auch das sich sukzessive ausbreitende Angebotsmodell der Ganztagsschule, entwickeln sich nebeneinander her. Mit diesem „Sowohl-als-auch“-Modell sind bestimmte Implikationen verbunden. Die bestehende und aus einer grundsätzlichen Perspektive auch zu begrüßende Wahlfreiheit der Eltern hinsichtlich der Entscheidung für oder gegen eine Ganztagsschule kann zu einen „Distinktionsmerkmal“ der sich dafür bzw. vor allem der sich dagegen entscheidenden Eltern werden. Zugespitzt formuliert: Es gibt Eltern, die Ganztätigkeit zu einem sozialen Unterscheidungsmerkmal machen, also Ganztagsschulen für die Kinder, „die es brauchen“, während man für die eigenen Kinder den Bedarf an Ganztägigkeit nicht nur verneint, sondern mit Bezug auf zahlreich vorhandene anekdotische Evidenz über teilweise schwierige Umsetzungsversuche von Ganztägigkeit darauf verweist, dass man sein Kind diesen Verhältnissen nicht ausliefern möchte. Dahinter steht natürlich auch die Entwicklungslinie, dass gerade die so genannten „bildungsnahen“ Familien ihre Kinder mittlerweile oftmals eingebettet haben in eine umfangreiche Förderlandschaft außerhalb der Schule, für das sie viel Geld ausgeben und Zeit investieren.

Die konsequente Lösung dieses Dilemmas wäre natürlich eine Grundsatzentscheidung für oder gegen Ganztägigkeit zu treffen. Das bedeutet, wenn man die Ganztagsschule wirklich durchsetzen will und dabei die angedeuteten sozialen Selektionsprozesse vermeiden möchte, dann müsste man sie als Regelschule implementieren, d.h. der Normalfall müsste die Ganztagsschule sein. Allerdings muss die Perspektive, dass eine solche Grundsatzentscheidung getroffen werden könnte, für die absehbar vor uns liegende Zeit sicherlich als illusionär bezeichnet werden. Das ist ja auch der Grund, warum die Stiftung gleichsam über den Umweg eines Rechtsanspruchs die Entwicklung in diese Richtung befördern möchte. Warum die Perspektive einer Strukturentscheidung, Ganztätigkeit als Normalmodell der Schule einzuführen, illusionär bleiben muss, hat – wie in vielen anderen Feldern auch – finanzpolitische Gründe. Die Schulen sind einer der letzten Bereiche, in den Bundesländer die alleinige Zuständigkeit haben, durch die Föderalismusreform bedingt sogar die alleinige Finanzzuständigkeit, denn die damalige Große Koalition hatte sogar ein „Kooperationsverbot“ zwischen Bund und Ländern in das Grundgesetz geschrieben.

»Das so genannte „Kooperationsverbot“ ist durch die am 1.9.2006 in Kraft getretene Föderalismusreform I eingeführt worden. Der Begriff leitet sich aus dem geänderten Artikel 104b Abs. 1 Grundgesetz (GG) ab, der Bundesfinanzhilfen in Bereichen, in denen die Länder die alleinige Gesetzgebungskompetenz haben, ausschließt. Nachdem durch die Reform die Zuständigkeiten für den Bildungsbereich fast vollständig auf die Länder übergegangen sind, sind die Einflussmöglichkeiten des Bundes weiter begrenzt worden. War es ihm vorher noch möglich gewesen, über wesentliche Mitfinanzierungsmöglichkeiten im schulischen Bildungsbereich Einfluss zu nehmen, wie z.B. mit dem 2003 geförderten Ganztagsschulprogramm geschehen, verbietet das Kooperationsverbot nun jegliche schulpolitischen Initiativen des Bundes, selbst wenn alle 16 deutschen Bundesländer einverstanden wären. Das Kooperationsverbot ist 2009 mit der Föderalismusreform II wieder etwas gelockert worden und der Bund darf nun „im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen (…) auch ohne Gesetzgebungsbefugnisse Finanzhilfen gewähren“. Gemeinsame Bildungs-Sonderprogramme von Bund und Ländern wie z.B. ein nationales Leseförderprogramm oder eine neue Ganztagsschulinitiative bleiben aber weiterhin ausgeschlossen.

Letzte Bereiche, in denen Bund und Länder im Bildungsbereich zusammenarbeiten können, werden in Art. 91b GG definiert, nach dem Bund und Länder z.B. nach dem Einstimmigkeitsprinzip bei der Förderung von Vorhaben der Wissenschaft und Forschung an Hochschulen zusammenwirken können. So finanzieren der Bund und die Länder gemeinsam den Hochschulpakt und die Exzellenzinitiative.« (Quelle: Kooperationsverbot)

Es ist doch bezeichnend, dass die erste große Ausbauwelle von Ganztagsschulen vor allem in Westdeutschland zurückgeht auf eine Kooperation zwischen Bund und Ländern:
»Mit Hilfe des vier Milliarden schweren Investitionsprogramms „Zukunft Bildung und Betreuung“ wurden von 2003 bis 2009 pro Jahr rund 175.000 Ganztagsplätze geschaffen. Seit das Bundesprogramm ausgelaufen ist, kommen im Schnitt jährlich nur noch 104.000 Ganztagsschüler hinzu«, so die Bertelsmann-Stiftung (Ausbau des Ganztagsunterrichts verlangsamt sich).
Dabei sollte man die Untiefen der Anteilswertbetrachtung im Hinterkopf behalten:

»Ein nennenswerter Teil dieses Zuwachses der Ganztagsbeteiligung verdankt sich nicht dem Ausbau der Ganztagsplätze. Stattdessen sorgt der Rückgang der Schülerzahlen dafür, dass selbst bei einem konstant bleibenden Platzangebot ein höherer Prozentanteil der Schüler Ganztagsplätze nutzte. Bei Berücksichtigung dieses demographisch bedingten Effekts liegt der jahresdurchschnittliche Ausbau, also der Ausbau, der sich einer Schaffung zusätzlicher Ganztagsplätze verdankt, zwischen 2002 und 2009 bei 2,0 und zwischen 2009 und 2012 nur noch bei 1,3 Prozentpunkten.« (Klemm 2014: 8)

Man kann es drehen und wenden wie man will: Wenn man wirklich die Ganztagsschule als Regelmodell in unserem Schulsystem implementieren will, dann würde das nur mit einem gewaltigen Kraftakt realisiert werden können, an dem sich neben den Ländern und den Kommunen auch der Bund in einem erheblichen Umfang finanziell beteiligen müsste. Diese Anforderung ist es, die unter den bestehenden Rahmenbedingungen große Skepsis aufkommen lassen, ob die beklagte Verlangsamung des quantitativen (und die in der Studie nicht angesprochenen, aber durchaus beobachtbaren sozialen Selektionsprozesse aufgrund der Wahlentscheidungen der Eltern) aufgehalten und umgekehrt werden können.

Neben diesen grundsätzlichen Überlegungen darf und muss auch ein kritischer Blick geworfen werden auf die neue Studie. Wieder einmal ist man versucht zu sagen, dass hier das Spiel mit den großen Zahlen betrieben wird. Es geht – wie leider so oft – auf den ersten Blick nur um Quantitäten, wenn auch die Stiftung bei ihren Forderungen darauf hinweist, dass sie nicht nur für einen Rechtsanspruch und damit für einen quantitativen Ausbau der Ganztagsschulenangebote sei, sondern auch für eine Qualitätsoffensive.

Die Fallstricke, die mit einer Fokussierung auf Anteilswerte verbunden sein können, kann am Beispiel des Länderberichts zu Rheinland-Pfalz illustriert werden: Ganztagsschulausbau in Rheinland-Pfalz im Schneckentempo, so ist die Zusammenfassung der Entwicklungen in diesem Bundesland überschrieben. Der Ausbau der Ganztagsschule kommt in Rheinland-Pfalz zu langsam voran, so die kritisierende Hauptaussage. Im Schuljahr 2012/13 besuchte mit rund 90.300 Kindern und Jugendlichen nicht ganz jeder vierte Schüler eine Ganztagsschule – also 23,5% der Schüler insgesamt. Bundesweit seien es hingegen 32,4% und damit fast jeder dritte Schüler. Insofern – und das werden sicher viele Medien aus diesen Zahlen ableiten – könnte man Rheinland-Pfalz mit negativer Konnotation als „im unteren Drittel der Bundesländer hängen geblieben“ charakterisieren. Aber wieder einmal lohnt ein genauerer Blick auf die Daten, dem allerdings die folgende Erläuterung vorangestellt werden muss:

  • Es gibt nicht „die“ Ganztagsschule, sondern man unterscheidet grob zwei unterschiedliche Ausgestaltungen: Zum einen die „gebundene“ Form der Ganztagsschule, hier erstrecken sich der Unterricht, die Förder- und die Freizeitphasen über den ganzen Schulalltag, im Idealfall also in Form eines gut rhythmisierten Ganztags. Dieser Form der Ganztagsschule werden im Fachdiskurs besonders große Möglichkeiten beim sozialen und kognitiven Lernen zugeschrieben, weil sich abwechselnde Lern-, Übungs- und Entspannungsphasen sinnvoll über den ganzen Tag verteilen (können). Davon zu unterscheiden sind die „offenen“ Ganztagsangebote, bei denen ein Teil der Schüler an Ganztagsangeboten teilnehmen kann, aber der konzeptionelle Kern und die entsprechende Strukturierung des Unterrichts weiterhin dem Modell der Halbtagsschule folgt, man also den Ganztag splitten muss in die Unterrichtsphasen und einen Betreuungs- und Förderbereich in einer zweiten Phase, der dann oftmals „outgesourct“ wird an Dritte, die dann teilweise mit hanebüchenen Beschäftigungsmodellen den Betreuungs- und Förderbereich bedienen (sollen).

Die Situation in Rheinland-Pfalz ist also die, dass dort deutlich weniger Kinder und Jugendliche ein Ganztagsschulangebot in Anspruch nehmen können als im bundesdeutschen Vergleich – jeder vierte statt jeder dritte Schüler. So weit, so klar. Aber das Bild verändert sich erheblich, wenn man genauer hinschaut auf die Formen, in denen die Ganztagsschulen umgesetzt worden sind. Dazu aus dem Länderbericht:

»Der gebundene Ganztag ist in Rheinland-Pfalz überdurchschnittlich ausgebaut und wird von 20,7 Prozent aller Erst- bis Zehntklässler genutzt, weitere 2,9 Prozent besuchen ein offenes Ganztagsangebot … Bundesweit nehmen 14,4 Prozent … an einem gebundenen, rund 18 Prozent hingegen an einem offenen Ganztagsangebot teil.«

Das ist nicht nur eine erhebliche Abweichung zwischen dem sehr hohen Anteil an gebundenen Ganztagsschulen in Rheinland-Pfalz zu dem deutlich geringeren Anteilswert, den die gebundenen Ganztagsschulen im Bundesdurchschnitt erreichen. Den Bundesländervergleich dazu und zur Entwicklung kann man in der Abbildung nachvollziehen, die aus der Studie von Klemm (2014: 17) entnommen worden ist.

Fazit: Rein quantitativ betrachtet in Rheinland-Pfalz also dem Anteil an Schülern, die eine Ganztagsschule besuchen (können), der sich im bundesdeutschen Durchschnitt darstellt, hinterher. »Wird der rheinland-pfälzische Ganztagsausbau in diesem Tempo fortgesetzt, hätte im Jahr 2020 nach Berechnungen von Prof. Klaus Klemm trotz rückläufiger Schülerzahlen nur etwas mehr als jedes dritte Kind die Chance auf einen Platz im Ganztag«, das wäre also das Niveau, auf dem sich heute schon der bundesdeutsche Durchschnitt bewegt.

Auf der anderen Seite – wenn man hinsichtlich der Qualität eine Korrelation mit der gebundenen Form der Ganztagsschule unterstellt – wurde bislang in Rheinland-Pfalz eine deutlich bessere Variante des Ganztagsschulangebots realisiert als in vielen anderen Bundesländern, die zwar quantitativ hinsichtlich des Anteils an Ganztagsschülern höhere Werte realisieren, dies aber oftmals nur unter Inkaufnahme der „günstigeren“ Variante offene Angebote.

Dass unter den bestehenden Bedingungen der weitere Ausbau der Ganztagsschulenangebote in Rheinland-Pfalz in der von Klemm angenommenen „Schneckentempo“-Variante erfolgen würde, liegt auf der Hand: Zum einen gibt es aufgrund der angedeuteten sozialen Selektionsmechanismen und der vor Ort teilweise als unbefriedigend wahrgenommenen Umsetzung von Ganztägigkeit erhebliche Vorbehalte bei einem Teil der Eltern hinsichtlich einer tatsächlichen Entscheidung für einen Ganztagsschulangebot. Aber auch losgelöst von diesen empirisch schwierig zu bestimmenden Entwicklungen auf der Nachfrageseite könnte das Bundesland, auch wenn es anders wollte, gar nicht schneller ausbauen. Das hat seine Ursache natürlich in der finanzpolitischen Lage des Landes, das stark verschuldet ist und zudem die Schuldenbremse umsetzen muss, was mit erheblichen Einsparung verbunden ist. Ein stärkerer quantitativer Ausbau würde das Bundesland finanziell überfordern, in Zukunft dann auch noch, dass man in Rheinland-Pfalz die richtige, aber eben nun einmal teurere Variante der gebundenen Form der Ganztagsschule gewählt hat. Ohne deutlich mehr Mittel – beispielsweise über eine nachhaltige, auf Dauer gestellte anteilige Bundesbeteiligung – erstmal hier nicht viel erwarten können.

Und mit Blick auf Deutschland insgesamt wären erhebliche Mittel zusätzlich zu mobilisieren:
»Soll der Bedarf an Ganztagsplätzen für 70 Prozent der Schüler gedeckt werden, fallen jährlich zusätzliche Kosten von 1,7 Milliarden Euro für Lehrkräfte und pädagogisches Personal an. So kann entsprechend der KMK-Definition von Ganztagsschulen – an drei Tagen ein siebenstündiger Ganztagsunterricht in Verantwortung der Schule gewährleistet werden. Die flächendeckende Ausweitung des gebundenen Ganztags für alle Schüler auf acht Stunden an allen fünf Schultagen, die nach Überzeugung der Bertelsmann Stiftung den besten Rahmen für individuelle Förderung darstellen würde, erfordert die Bereitstellung umfassenderer Mittel von knapp acht Milliarden Euro für qualifizierte Pädagogen im Jahr. Hinzu kommen außerdem einmalige Investitionskosten für den Umbau von Schulen auf den Ganztagsbetrieb, die – je nach Ausbauvariante – zwischen acht und 17 Milliarden Euro betragen« (Quelle: Vorwort von Jörg Träger und Ulrich Kober, in: Klemm 2014: 6).

Vor diesem Hintergrund bleibt abschließend das zentrale Fazit: Wenn nicht endlich der bildungspolitische Schuss ins Knie durch die letzte große Koalition mit der Einführung des so genannten Kooperationsverbots in das Grundgesetz dadurch Geschichte wird, dass man das Kooperationsverbot für alle Stufen des Bildungssystems wieder aufhebt, also von der frühkindlichen Bildung und Betreuung über den großen Schulbereich bis hin zu den Hochschulen und der Forschung, dann wird man sich den von der Bertelsmann-Stiftung und anderen immer wieder geforderten Ausbau der Ganztagsschulen abschminken können. Aber auch an dieser Stelle ist Skepsis angesagt, denn die neue große Koalition konnte sich bislang nur auf eine partielle Durchbrechung des Kooperationsverbundes verständigen, um durch eine erneute Grundgesetzänderung eine verbindliche Zusammenarbeit zwischen Bund Bundesländern im Bereich der Hochschulen und der Forschung zu ermöglichen. Derzeit streitet man darüber noch. Würde es dazu kommen, dann hätten wir erneut ein weiteres frustrierende Beispiel für die Stückwerk-Politik, die man auch in so vielen anderen Bereichen beobachten muss. Ohne wenn und aber: Das Kooperationsverbot im Grundgesetz muss weg durch eine entsprechende (erneute) Änderung unserer Verfassung, aber nur, wenn das für die gesamte Bildungskaskade gilt.

G9 statt G8: Kehrtwende auf einem Irrweg? Ein Sieg der „Entschleuniger“ über die Hybris der „Bildungszeitoptimierer“? Wenn es denn so einfach wäre

Seien wir ehrlich – es gibt Institutionen und Begriffe, die bei vielen Menschen eine zwischen resignativer Frustration und Aggression schwankende Grundstimmung auslösen. In Deutschland gehören dazu die „Kultusministerkonferenz“ und der Terminus „Schulreformen“. Beides steht zumindest aus der Perspektive vieler Eltern für leidvolle Erfahrungen, die man in einem komplexen föderalen System mit 16 teilweise erheblich voneinander divergierenden Schulsystemen machen kann bzw. muss. Und es ist ja auch nicht von der Hand zu weisen, dass man ein intensives Studium betreiben muss, um die Vielfalt der Schularten und Schulformen sowie die unterschiedlichen Wege zu unterschiedlichen Abschlüssen auch nur ansatzweise nachvollziehen zu können. Eines der Top-Themen, die zu wahren Hyperventilationen bei den Beteiligten führen konnte, war die Schulzeitverkürzung von dreizehn auf zwölf Jahre, um den heiligen Gral des deutschen Bildungssystems, also das Abitur, erreichen zu können  – von G9 auf G8, so heißen die entsprechenden Kürzel. Die haben sogar Eingang gefunden in die Wahlforschung, dort spricht man von den „G9-Mamas“ bzw. „G9-Papas“ als ziemlich wirkkräftige – und das kann bedeuten: wahlentscheidende – Kategorie für die Parteien. Doch nunmehr ist eine veritable Kehrtwendung zu beobachten: Immer mehr Bundesländer, die im vergangenen Jahrzehnt das achtjährige Gymnasium einführten, drehen diese umstrittene Reform zurück.

So kommen die aktuellen Schlagzeilen daher: „Spekulation über Kehrtwende bei G8“ wird aus Bayern gemeldet, wo Seehofers Regierung vor dem Hintergrund eines anlaufenden Volksbegehrens zur Wiedereinführung von G9 offenbar an einer Exit-Strategie arbeitet. Und aus dem Norden des Landes wird berichtet: „Niedersachsen schafft Turbo-Abi wieder ab„. Das Besondere hier: »Zum Schuljahr 2015/16 will Niedersachsen das Turbo-Abi kippen. Erstmals kehrt damit ein Bundesland flächendeckend zum neunjährigen Gymnasium zurück, das Abitur nach acht Jahren bleibt aber als Option erhalten. Andere Länder könnten dem Beispiel folgen.«

Nun könnte man zu dem Ergebnis gekommen, dass die hier erkennbare Rückentwicklung eine positive Sache ist, da die Politik endlich mal auf die offensichtliche und überwältigende Ablehnung eines ihrer Reformprojekte bei einem Teil der davon Betroffenen, hier vor allem bei den Eltern, reagiert und eine Entscheidung, die zu großem Unmut geführt hat, revidiert.  Hinzu kommen könnte eine klammheimliche Freude über die offensichtliche Niederlage der neoliberal fundierten „Bildungszeitoptimierer“ und damit letztendlich der Erfolg eines Widerstands gegen die zunehmende Ökonomisierung unserer Gesellschaft. Vielen Eltern wird es an dieser Stelle herzlich egal sein, in welche ideologische oder soziologische Schublade ihrer Abneigung bis hin zu ihrem Protest gesteckt wird. Sie werden argumentieren, dass es ihren Kindern besser gehen wird, wenn sie nicht unter schulzeitverkürzten Bedingungen den heiligen Gral der bildungsnahen Schichten erreichen müssen.  Aber an dieser Stelle soll dennoch ein genauerer Blick auf das Thema geworfen werden.

Viele gesellschaftliche Strukturen, Prozesse und vor allem Institutionen sind nur zu verstehen, wenn man sie historisch einordnet, denn auch die aktuellen Entwicklungen sind immer stark pfadabhängig. An dieser Stelle mögen einige kursorische Stichworte genügen: Die Existenz einer 13 Jahre andauernden Schulzeit bis zum Abitur ist keine alttestamentarische  Überlieferung, sondern entspringt einem typischen Kompromiss, wie wir ihn in der Bildungspolitik immer wieder  antreffen, und er datiert auf die Zeit der Weimarer Republik: »Die Sozialdemokraten der Weimarer Republik wollten Arbeiterkindern mehr Bildung ermöglichen – die Grundschulzeit wurde 1920 auf vier Jahre verlängert. Die Lehrer an den Gymnasien wollten aber ihre Wirkungszeit nicht beschnitten sehen, so verlängerte sich die Schulzeit für Abiturienten insgesamt auf 13 Jahre«, so  Jonas Leppin und Oliver Trenkamp in ihrem Artikel „Turbo-Abi in der Reifeprüfung„.

  • Man sollte gerade im Zusammenhang mit der gegenwärtig so umstrittenen Schulzeitverkürzung im letzten Jahrzehnt darauf hinweisen, dass es bereits vorher eine Abkehr von der 13 Jahre umfassenden Schulzeit bis zum Abitur gegeben hatte: Mit Erlass vom 30. November 1936 wurde die höhere Schulzeit auf zwölf Jahre verkürzt. Diese Maßnahme der Nationalsozialisten stand im damaligen Kontext der Wiederaufrüstung, da die Offiziersanwärter durch die Schulzeitverkürzung schneller zur Verfügung standen.
  • Nach dem Zweiten Weltkrieg gab es dann eine geteilte Entwicklung in Deutschland. Während in Westdeutschland das G9 restauriert wurde, bildete sich in der DDR ein anderes System heraus: für relativ wenige Schüler gab es die EOS mit einer zwölf jährigen Schulzeit und Samstagsunterricht, die zum Abitur führte. Daneben wurde eine einphasig ausgestaltete Berufsausbildung mit Abitur mit einer Laufzeit von drei Jahren installiert, im Anschluss an die zehnte Klasse der POS. 
  • Nach der Wiedervereinigung sind von den neuen Bundesländern Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt zum G9 gewechselt, weniger aus innerer Überzeugung, sondern angesichts der Wochenstundenvorgabe der Kulturministerkonferenz (nach dieser Vorgabe muss es 265 Jahreswochenstunden geben, was bei G8 im Durchschnitt 33 statt ansonsten 30 Stunden Unterricht pro Woche bedeutet). Im Jahr 2000 sind die genannten Bundesländer dann wieder zu der 12jährigen Schulzeit zurückkehrt. In Sachsen und Thüringen übrigens wurde zu keinem Zeitpunkt die 12jährigen Schulzeit bis zum Abitur aufgegeben.

Vor diesem Hintergrund ist die Überschrift des Artikels von Barbara Kerbel „Mehr Zeit für Westschüler“ ein Volltreffer: Sie verweist darauf, dass in den ostdeutschen Bundesländern die Schüler, Eltern und die Lehrer offensichtlich gut zurechtkommen mit der zwölfjährigen Schulzeit. Streng genommen haben wir es offensichtlich mit einem „West-Problem“ zu tun. So auch die Wahrnehmung bei Barabra Kerbel, die darauf hinweist: »Vor allem die Eltern in den westdeutschen Flächenstaaten laufen Sturm gegen G8. Sie beklagen lange Schultage, ein kaum zu bewältigendes Lernpensum und immensen Leistungsdruck. Lehrer und einige Bildungsforscher kritisieren, die Reform sei überstürzt eingeführt, die Lehrpläne nicht entsprechend entrümpelt worden. Die Debatte ist aufgeheizt und emotional, von „gestohlener Kindheit“ ist bei vielen Eltern die Rede.«
Angesichts dieser massiven und weit verbreiteten Kritik an einem der Kernstücke der „Bildungsreformen“ muss diskutiert werden, wie es überhaupt zu der in Westdeutschland fast flächendeckenden Schulzeitverkürzung kommen konnte. »Das Saarland war das erste westdeutsche Land, das zum Schuljahr 2001/02 die Gymnasialzeit reformierte. Einzig Rheinland-Pfalz, wo das Gymnasium traditionell nur 12,5 Jahre dauert, ging einen Sonderweg und führte G8 nicht flächendeckend, sondern nur an einzelnen Ganztagsgymnasien ein«, so Kerbel.

Es ist an dieser Stelle nicht ohne eine gewisse Ironie, dass der Aspekt der „verlorenen Zeit“ für die jungen Menschen, der sich heute in der Formulierung von der „gestohlenen Kindheit“ Ausdruck verschafft, auch von einem der großen politischen Befürworter einer Verkürzung der Schulzeit verwendet wurde, allerdings ganz im Gegenteil von „verlorener Kindheit“ im Sinne einer „verlorenen Zeit“ im Schulsystem. In seiner „Berliner Rede“ von 1997 hatte der damalige Bundespräsident Roman Herzog mit den folgenden Worten Stellung genommen:

»Wie kommt es, daß die leistungsfähigsten Nationen in der Welt es schaffen, ihre Kinder die Schulen mit 17 und die Hochschulen mit 24 abschließen zu lassen? Es sind – wohlgemerkt – gerade diese Länder, die auf dem Weltmarkt der Bildung am attraktivsten sind. Warum soll nicht auch in Deutschland ein Abitur in zwölf Jahren zu machen sein? Für mich persönlich sind die Jahre, die unseren jungen Leuten bisher verloren gehen, gestohlene Lebenszeit.« (Berliner Rede 1997 von Bundespräsident Roman Herzog, „Aufbruch ins 21. Jahrhundert“, Hotel Adlon, Berlin, 26. April 1997)

Wir sehen in dieser Formulierung des damaligen Bundespräsidenten zum einen den Ausdruck des Zeitgeistes der Neunzigerjahre, der – wenn auch holzschnittartig – als ein neoliberaler Zeitgeist charakterisiert werden muss. Es waren die Hochjahre eines „naiven Ökonomismus“  mit seiner Verherrlichung der Beschleunigung und dem Leitbild einer Effizienzoptimierung, die auch vor den Schulen nicht Halt machen sollte. Vereinfacht gesagt stand hinter der Vorstellung des Bundespräsidenten das Modell einer permanenten Produktivitätssteigerung, von der man auch die Schüler nicht ausnehmen wollte. Auf der anderen Seite reflektierte seine damalige Kritik durchaus auch reale Abweichungen von der Situation in den meisten Bundesländern. Denn im internationalen Vergleich gab und gibt es mehrheitlich zwölfjährige Schulsysteme.

Meine kritische Anfrage an diejenigen, die mit der nun beobachtbaren Rückkehr zum alten 13 Jahre Schulzeit umfassenden System in den westdeutschen Bundesländern einen gesellschaftlichen Fortschritt im Sinne der betroffenen jungen Menschen sowie ihre Eltern sehen, lässt sich folgendermaßen auf den Punkt bringen: Ist es wirklich so, dass die Kinder und Jugendlichen mit einer längeren Schulzeit per se vor den Widrigkeiten einer immer schnelllebigeren, sich permanent beschleunigenden Gesellschaft geschützt werden, dass sie die Chance bekommen, mit der Zeit lernen zu können? Wenn man diese Frage spiegelt an der Realität in den meisten Schulen, dann muss man leider zu einer differenzierten Einschätzung kommen. Die von vielen Eltern wahrgenommene und deutlich kritisierte „Überlastung“ der Schüler resultiert zum einen aus dem Tatbestand, dass man die Schulzeit von 13 auf zwölf Jahre verkürzt hat, ohne substantielle Veränderung am Lehrplan und vor allem nicht am Volumen des Lernstoffs vorzunehmen. Zum anderen wurde die Beschleunigung und Verdichtung an vielen Schulen vollzogen, die nicht im Format einer Ganztagsschule gleichzeitig über deutlich mehr Zeitressourcen verfügen als die klassische Halbtagsschule.

Aber der aus meiner Sicht entscheidende Punkt ist ein anderer: Was wird in welcher zur Verfügung stehenden Zeit unterrichtet bzw. soll den jungen Menschen beigebracht werden?  Das ist die entscheidende Frage, die man stellen muss: hier hätte man sich gewünscht, dass vor einem einfachen zurückdrehen der Verhältnisse die Debatte nachgeholt wird, die man bei der Schulzeitverkürzung eigentlich hätte führen müssen. Um es deutlich zu sagen: Das Problem in vielen deutschen Schulen besteht doch darin, dass wir es mit einer quantitativ gesehen voluminösen Ausgestaltung des abzuarbeiten Lehrplan zu tun haben, gleichzeitig die eigentlich zur Verfügung stehenden Lernzeiten im Laufe eines Jahres aufgrund der vielen Unterbrechungen und der langen Ferienzeiten auf ein sehr überschaubares Maß zusammengeschrumpft sind, so dass die Schüler in sehr kurzer Zeit sehr viel lernen sollen/müssen und ansonsten konfrontiert sind mit durchaus sehr generös ausgestalteten Zeiten des Leerlaufs.  Dies kann und muss zu erheblichen Schwierigkeiten für diejenigen Schüler führen, die schlichtweg mehr Zeit brauchen, um bestimmte Dinge lernen und wiedergeben zu können. Gleichzeitig führt die enorme Verdichtung der eigentlichen Lernzeit in Verbindung mit vielen Inhalten, die abgearbeitet werden müssen, dazu, dass kaum etwas Substantielles gelernt wird, denn das bedeutet auch immer, dass man die Lerninhalte wiederholt und vor allem übt. Dass man sie transferiert auf Sachverhalte aus der Realität.

Insofern wäre erst dann von einem tatsächlichen Geländegewinn gegenüber der Ökonomisierung unserer Gesellschaft und damit auch unseres Bildungssystems auszugehen, wenn es uns gelingen würde, zum einen die Lerninhalte neu zu adjustieren und vor allem die Inhalte zu verdichten und neu auszurichten nach dem Motto „weniger ist mehr“. Meine Befürchtung ist, dass man mit einer reinen Schulzeitverlängerung in Umkehrung der bisherigen Entwicklung lediglich das Gefühl vermittelt, man hätte Probleme, die wir in unserem Schulsystem ganz offensichtlich haben, beseitigt. Letztendlich sind wir an dieser Stelle mit der gleichen Problematik konfrontiert, auf die Bildungsforscher hinweisen, wenn es um die Verkleinerung von Klassen geht, denn die rein quantitative Reduzierung der Klassengröße ist nach dem Stand der Bildungsforschung keine Garantie für bessere Lernleistungen, wenn die Lehrer genauso weitermachen wie vorher.  Anders formuliert – den jungen Menschen mehr Zeit in einem vielfältig ineffektivem System zu gewähren, ist unter dem Strich keine Verbesserung der Situation. Möglicherweise führt ein solcher „Pyrrhussieg“ über das G8 in Westdeutschland dazu, das man erneut einige Jahre verschenkt auf dem Weg der notwendigen Debatte über die Frage der Ausgestaltung des Unterrichts sowie der Inhalte.

Aber selbst wenn man nicht so weit gehen und Grundsatzfragen der Bildungspolitik aufrufen möchte: Jan Friedmann weist in seinem Kommentar „Den Preis zahlen nun Schüler und Lehrer“ zur neueren Entwicklung auf erwartbare „Kollateralschäden“ hin:

»Der Anspruch auf einigermaßen einheitliche, vergleichbare Gymnasialstrukturen in den Bundesländern ist auf Jahre passé. Die Schullandkarte der Bundesrepublik wird mehr denn je zum Flickenteppich … Rund 70.000 bis 80.000 Schülerinnen und Schüler wechseln jedes Jahr das Bundesland. Sie und ihre Familien müssen sich im Dschungel der föderalen Regeln zurechtfinden. Und selbst der Schulwechsel innerhalb eines Landes wird künftig aufwendiger, etwa wenn die einzelnen Schulen unterschiedliche Optionen anbieten.«

Nur müssen mit den Folgen dieser Entwicklung die einzelnen Familien irgendwie zurechtkommen. Meistens alleine.

PISA prophylaktisch unter Feuer – das ist wirklich neu. Dabei gilt doch eigentlich: StEG, BiTe, BILWISS, LISA, Se- Mig, NEPS, ICILS: „Der Bedarf an Kennzahlen ist groß“

Am morgigen Dienstag werden die Ergebnisse der neuesten, fünften PISA-Studie veröffentlicht. Normalerweise läuft so ein zahlenhuberisches Großereignis nach dem Strickmuster ab, dass alle Medienvertreter gebannt auf die neuen Daten warten und dann ein beeindrucktes, vielstimmiges Raunen der Auf- und Erregung durch die elektronische bzw. Audio-TV-Welt und mit etwas Verspätung dann auch durch den Blätterwald rauscht, um kurze Zeit später wieder dem nächsten Ereignis den Gesetzen der Aufmerksamkeitsökonomie folgend Platz zu machen.

Doch diesmal ist etwas passiert, das nachdenklich stimmt – die neuen PISA-Daten sind noch gar nicht ex cathedra verkündet worden, da schwappt eine imposante Flut an Kritik, gar Ablehnung dessen, was sich hinter dem Kürzel PISA verbirgt, durch die Medien. Bereits in der vergangenen Woche konnte man in der Wochenzeitung DIE ZEIT in dem Artikel „Genauer hinschauen“ von Martin Spiewak lesen: »… die Leistungsvergleiche sagen wenig über gutes Lernen und Lehren aus. Ein Tadel.« In der heute veröffentlichten neuen Ausgabe des Nachrichtenmagazins DER SPIEGEL wird unter der Überschrift „Lernen nach Zahlen“ kritisch über den rasanten Aufstieg des Geschäftsmodells „empirische Bildungsforschung“ berichtet, die Süddeutsche Zeitung spricht von „Moderner Aberglaube“ und in der WirtschaftsWoche gibt es ein langes Interview mit dem Bildungsforscher Volker Ladenthin, das gar überschrieben ist mit dem Warnhinweis „PISA gefährdet unser Bildungssystem„. Das ist nun wirklich neu. Also stellt sich die Frage, ob man sich hier zu einer konzertierten Aktion verabredet hat, um einen deutschen Ausstieg aus der PISA-Testerei vorzubereiten – oder ob wir hier ein Überlaufen des Frustes über einen Imperialismus der zahlengetriebenen Sicht auf Schule erleben (dürfen).

Spiewak weist darauf hin, dass es unter der Oberfläche der inflationären Schulleistungstestverfahren mit ihren Schrankmeter füllenden, aber immergleichen Befunden eine brodelnde Unzufriedenheit breit gemacht hat: »Belegt ist mittlerweile, dass Jugendliche im Süden Deutschlands besser lesen als jene im Norden und dass im Osten der Republik besser gerechnet wird als im Westen. Man weiß auch, dass Schüler aus Zuwandererfamilien hohe Ambitionen haben, im Schnitt aber dennoch schlechter abschneiden als ihre Mitschüler. Und dass Neuntklässler in Bayern ihren Alterskameraden in Berlin um anderthalb Schuljahre voraus sind.« So weit, so bekannt. »Nur eines weiß man leider nicht: Warum ist das eigentlich so?« Man würde gerne wissen: Wer ist denn verantwortlich und mit welchem Anteil – die Lehrer, die Eltern, die sozialen Unterschiede, die Schulpolitik der Bundesländer? Manfred Prenzel, der derzeitige Pisa-Leiter, wird von Spiewak zitiert mit den Worten: „Über die Ursachen der regionalen Leistungsdifferenzen liegen keine empirisch gesicherten Erkenntnisse vor.“ Man könnte es auch so formulieren: „Empirische Wende“ erfolgreich geschafft, Deutungsdefizit stabilisiert. Der Umfang der Datensätze korreliert nicht mit dem Wissen über das Ursächliche. Für Spiewak sind die großen Vergleichsstudien wie „Satellitenbilder“, Schnappschüsse von oben – ein schönes, zutreffendes Bild. Und auch einen guten Rat hat er, leider wird dessen Umsetzung keine tollen Pressekonferenzen füllen: »Die empirische Bildungsforschung muss in Zukunft viel genauer hinschauen. Sie sollte untersuchen, wie Lehrer unterrichten und Kinder lernen; wie Eltern bei den Hausaufgaben helfen oder Rektoren ihre Schule verändern.«

Warum sind alle so auf die bekannteste aller Bildungsstudien fixiert? Schließlich ist nicht einmal gesichert, dass sie misst, was sie zu messen vorgibt, so die These von Thomas Steinfeld in seinem Artikel „Moderner Aberglaube„. Seine Zweifel beziehen sich auf die Tests, die den Studien zugrundeliegen: »Erfasst werden kann nur, was zuvor ausgewählt, standardisiert und zum Zweck der Prüfung aufbereitet wurde.« Und für jeden, der statistisch vergleichend arbeitet, ist das folgende Argument durchschlagend für Skepsis und Zweifel an den Ranking-Ergebnissen neben den inhaltlichen Fragezeichen: »Bekannt ist auch, dass die Voraussetzungen für die Teilnahme an den Tests in verschiedenen Ländern oft nicht vergleichbar sind – etwa dadurch, dass in vielen Staaten Fünfzehnjährige mit schlechter Ausbildung die Schule schon verlassen haben, während sie in Deutschland noch unterrichtet werden, weshalb der Durchschnitt dann zwangsläufig sinkt.«
Und es gibt eine ernstzunehmende Kritik daran, über die PISA-Philosophie das Verstehen konsequent durch Kompetenz zu ersetzen, Wissen durch abrufbare Fertigkeiten oder „skills“. Der vielleicht schwerwiegendste Vorwurf lautet: PISA & Co. haben sich längst von einem deskriptiven zu einem normativen Projekt gewandelt.

Wenn aber ausweislich der breiten Kritik an vielen Aspekten des Test(un)wesens die Ergebnisse der Tests so fragwürdig sind – warum gibt es sie dann noch? Gute Frage. Steinfeld resümiert dazu: »… weil im Zuge der radikalen Ökonomisierung aller Gesellschaften der Wettbewerb als solcher längst als etwas schlechthin Erstrebenswertes gilt, ganz unabhängig davon, was jeweils dabei herauskommt – weil also der verselbständigte Formalismus der Konkurrenz gar keinen anderen Gedanken mehr zulässt, als dass mehr Konkurrenz besser ist als weniger Konkurrenz. Das aber ist ein moderner Aberglaube.« Touché, Herr Steinfeld.

Schweres Geschütz fährt der Bildungsforscher Volker Ladenthin in einem Interview auf: „PISA gefährdet unser Bildungssystem„. Er kritisiert, dass PISA zum einen viele explizite Ziele in unserem Bildungssystem gar nicht misst, beispielsweise demokratische Gesinnung. Zum anderen hat PISA eigenmächtig fremde, nicht vorab demokratisch verabredete Kriterien für das, was gute Bildung sein soll, eingeführt – also PISA als „normatives Projekt“, wie wir es in diesem Beitrag schon lesen konnten. Letztendlich verdichtet sich seine Argumentation in einer Art feindlichen Übernahme des Bildungssystems durch Dritte und deren Interessen. Ladenthin beklagt, dass die Normsetzung durch internationale Organisationen wie die OECD, die hinter PISA steht, unser Bildungssystem zunehmend darauf reduziert, Menschen nur noch für kurzfristige und begrenzte Zwecke auszubilden:

»Schüler sollen nach PISA eben nicht lernen, nach dem Sinn des Lernens zu fragen, sondern sie sollen Aufgaben lösen, gleichgültig welche. Der von PISA als kompetent Geprüfte soll später einmal ebenso Babynahrung produzieren können wie Landminen. Angesichts der Kriterien von PISA und einer auf PISA ausgerichteten Schule sind beide Aufgaben gleich gültig. Und sie bedürfen der gleichen Kompetenzen.«

Bei der ersten PISA-Runde wurden die deutschen Schulen unvorbereitet getroffen. »Nach dem ersten wohlinszenierten PISA-Schock haben sich Schulverwaltungen und Schulen dann jedoch angestrengt, schnell das als Lehrstoff verbindlich zu machen, was PISA testet.«

Insofern dürfen wir uns auch nicht wundern, dass die ehrgeizigen Deutschen morgen sicher weitere tolle Fortschritte auf dem Weg nach PISA attestiert bekommen werden. Alles andere würde die konsequente Ausrichtungsstrategie in den Bundesländern schwer diskreditieren.
PISA ist für die Ausbildung der Massen da. Für die Massen-Schulen, in denen künftige Arbeitskräfte fit gemacht werden sollen. Es geht um Anpassung und Einübung. »Von der Qualifikation der Arbeitgeber ist erst gar nicht die Rede.« Da muss man ihm zustimmen. Das ist vergleichbar mit der ewigen Klage über eine angebliche oder tatsächliche mangelnde Ausbildungsreife der jungen Menschen. Die gibt es aber auch auf der anderen Seite, bei den Unternehmen. Das taucht aber kaum oder gar nicht auf in der öffentlichen Debatte. Höchstens, wenn es wieder einmal einen „bedauerlichen“ Einzelfall unhaltbarer Zustände gegeben hat, was dann aber so schnell wieder aus den Medien verschwunden ist wie die Berichte über irgendwelche unhaltbaren Zustände in Pflegeheimen.

Ladenthin stellt die These auf, dass über PISA nicht wirklich mehr „Bildungsgerechtigkeit“ angestrebt werden soll, sondern Vergleichbarkeit, Gleichförmigkeit und Standardisierung. Die Ziele von Bildung heißen inzwischen „Bildungsstandards“. Das Schlagwort „Bildungsgerechtigkeit“ dient dabei ausschließlich der „Akzeptanzbeschaffung“, so zitiert Ladenthin die Aussage eines Staatssekretärs.

Und dann weist er auf eine fundamentale Kritik hin, die hier besonders hervorgehoben zitiert werden soll: »Die Folge für das Bildungssystem ist der Verlust an Kultur, also der Verlust von bedeutsamen Inhalten: Philosophie, Politik, Kunst, Literatur, Natur oder humaner Lebenssinn werden zur Privatangelegenheit«.

Übrigens sind das alles Dinge, die bei PISA gar nicht getestet werden (können). Und was nicht gemessen werden kann, das gibt es dann irgendwann auch nicht mehr richtig. Also im falschen Leben. Dem der Datengläubigkeit. Von daher ist es gut, dass wir schon am Vorabend von PISA die Chance bekommen, unsere Zeit anders einzuteilen als nach dem üblichen Muster der Erregungsökonomie. Beispielsweise – wenn man denn die Zeit hat – mal wieder ein Buch lesen.