Der Mindestlohn mal wieder: Für manchen sind 8,50 Euro zu hoch, für eine gesetzliche Rente auf dem Niveau des Existenzminimums ist das deutlich zu niedrig. Kann eine „Mindestbemessungsgrundlage“ helfen?

Es ist schon ein – nicht nur – sozialpolitisches Kreuz mit dem Mindestlohn. Da hat man mal die 8,50 Euro pro Stunde in die Welt gesetzt und jetzt streiten sich alle um diesen Betrag. Für einen Teil der Arbeitgeber ist das natürlich viel zu viel, für andere ist das auch nicht mehr als ein „Hungerlohn“. Und ganz frisch ist die Erkenntnis, dass auch die, die nach außen fest zu mindestens 8,50 Euro stehen, in praxi, also bei Tarifverhandlungen, dann auch schon mal die 8,50 Euro eine weitere Zeit lang 7,75 Euro sein lassen, wie jetzt in der Fleischindustrie zu beobachten (hierzu der Beitrag Überraschend unblutige Einigung auf einen Mindestlohn von 8,75 Euro in der Fleischindustrie. Aber nicht sofort, sondern ab 2017). Über die Gründe dafür wird sicher noch zu spekulieren und zu diskutieren sein und möglicherweise liegen sie – wie in dem Beitrag angedeutet – tatsächlich in der Machtfrage zwischen Gewerkschaften und Arbeitgebern sowie der Einsicht, dass es derzeit betriebswirtschaftliche Realitäten „eigener Art“ gibt.

Aber stellen wir uns einmal vor, die Tarifparteien hätten sich auf 8,50 Euro ab dem 1. Juli 2014 geeinigt oder noch hypothetischer der Gesetzgeber hätte das für sie erledigt mit einem flächendeckenden, gesetzlichen Mindestlohn. Dann müsste man aus einer engeren sozialpolitischen Sicht den folgenden zusammenfassenden Befund zur Kenntnis nehmen: Nach derzeitigem Stand reicht ein Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro gerade aus, um die Aufstockung des Lohns vollzeitbeschäftigter Singles durch Leistungen nach SGB II („Hartz IV“) auszuschließen. Aber die auf dieser Basis erreichbaren Rentenanwartschaften reichen keinesfalls aus, um auch eine Existenzsicherung im Alter zu erreichen. Statt 8,50 Euro im Jahr 2015 müsste der Mindestlohn bei 11,21 Euro liegen – aber man bekommt auch bei diesem Stundenlohn nur dann eine Netto-Rente, die dem Existenzminimum entspricht, wenn der Biografie eine Vollzeit-Beschäftigung über 45 Jahre zugrunde liegt. Das war noch nicht alles.

Denn eigentlich müsste der Stundenlohn 2015 schon bei 12,11 Euro liegen, wenn man das rückblickend aus der Sicht des Jahres 2027 berechnet, wenn man unterstellt, dass die Rentenniveauabsenkungen fortgeführt werden. Alles klar? Dann noch eins: Der Mindeststundenlohn von 11,21 Euro bzw. 21,11 Euro des Jahres 2015 muss aber kontinuierlich angehoben werden, nur um eine Netto-Rente in Höhe des Existenzminimums erreichen zu können – dafür »müsste der Mindestlohn kontinuierlich angehoben werden – und zwar in den Jahren 2016 bis 2018 um jeweils 2,6 Prozent, im Jahr 2019 um 2,9 Prozent und ab dem Jahr 2020 jährlich um drei Prozent.«

So jedenfalls die Berechnungsergebnisse von Johannes Steffen, der die Website „Portal Sozialpolitik“ betreibt, in seiner neuen Veröffentlichung „Wenn der Mindestlohn fürs Alter nicht reicht. Plädoyer für eine Mindestbemessungsgrundlage für Rentenbeiträge auf Arbeitsentgelt„, aus der hier berichtet wird.

Steffen weist mit Blick auf die notwendige jährliche und nicht unerhebliche Dynamisierung des Mindestlohns – wohlgemerkt, nur um weiterhin das Ziel zu erreichen, eine Netto-Rente in Höhe des Existenzminimums sicherstellen zu können – gleich auf eine erste Schwachstelle der im Koalitionsvertrag fixierten Verständigung über den Mindestlohn hin:

»Nun sieht aber schon der Koalitionsvertrag die erste eventuelle Anpassung frühestens nach dreijähriger »Laufzeit« zum 1. Januar 2018 vor; dass es dann sogleich zu einer Erhöhung um 7,8 Prozent (3 x 2,6%) kommt, erscheint aus heutiger Sicht eher unwahrscheinlich …«

Aber wie kommt Johannes Steffen auf diese doch erheblichen Abweichungen? Sie resultieren aus der Logik der Entgeltpositionierung in einem beitragsabhängigen Rentenversicherungssystem:

»Auf Basis der … Werte für das erste Halbjahr 2014 ist eine erwerbslebensdurchschnittliche Entgeltposition von 61,43 Prozent (= 0,6143 EP/Jahr) notwendig, um nach 45 Beitragsjahren eine Nettorente in Höhe des … steuerfreien Existenzminimums … zu erzielen … Liegt die durchschnittliche Entgeltposition unterhalb dieses Schwellenwertes, so kann das Existenzminimum alleine mit der Nettorente nicht erreicht werden.«

Oder für alle, die das anhand von konkreten Zahlen brauchen, hier seine Abbildung dazu:

Man muss also 0,6143 Entgeltpunkte erreichen, nur um nach diesem Szenario auf eine Netto-Rente in Höhe des steuerfreien Existenzminimums zu kommen. Und das ist jetzt ein Problem bei einem vorgesehenen Mindestlohn von 8,50 Euro, denn: »Ganzjährig zum Mindestlohn Vollzeitbeschäftigte erreichen … im Jahr der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns eine relative Entgeltposition von 46,97 Prozent – oder 0,4697 Entgeltpunkte für das Jahr 2015.«

Anders ausgedrückt: Im Ausgangsjahr (2015) müsste der Mindestlohn um ein knappes Drittel höher angesetzt werden als im Koalitionsvertrag vorgesehen – und auch seine weitere Entwicklung bis zum Jahr 2027 müsste dynamischer verlaufen als der erwartbare Anstieg des Durchschnittseinkommens.

Die Bewertung der laut Koalitionsvertrag vorgesehenen Mindestlohnhöhe aus einer sozialpolitischen Sicht muss also zweigeteilt ausfallen:

1.) Geht man von dem berechtigten Anliegen aus, dass der gesetzliche Mindestlohn eine Höhe haben sollte, die bei durchschnittlicher Fallkonstellation einen aufstockenden Bezug von Grundsicherungsleistungen bei einem Alleinstehenden ausschließt, dann muss man zu dem Ergebnis kommen, dass dieses Ziel mit den 8,50 Euro gerade so erreichbar ist.

  • Zugleich aber, das sei hier nur angemerkt, wird dann aber auch klar, dass das eben nicht für einen alleinverdienenden Vater gelten muss und auch nicht gelten wird aufgrund der Defizite im System des Familienlastenausgleichs. Und vor allem kann es natürlich nicht funktionieren, wenn zwar Mindestlohn gezahlt wird oder sogar darüber), aber die Arbeitszeit nach unten abweicht von einer Vollzeitbeschäftigung. In diesen Fällen muss es auch in der 8,50 Euro- oder auch 10 Euro-Mindest-Zukunft Aufstockungen geben müssen.

2.) Man kann den Grundgedanken hinsichtlich der Abdeckung des Existenzminimums aus dem Lohneinkommen übertragen auf die Altersphase: »45 Beitragsjahre in Vollzeitbeschäftigung (Standarderwerbsbiografie) müssen eine Nettorente gewährleisten, die mindestens auf Höhe des Existenzminimums liegt und die damit für Alleinstehende eine Aufstockung durch Leistungen nach SGB XII im Regelfall (und unter Status-quo-Bedingungen) ausschließt.« Kann dies nicht (mehr) gewährleistet werden, so werden Armutsrenten – die nicht umstandslos gleichzusetzen sind mit Altersarmut – zu einem systematischen Problem eines Rentenversicherungssystems, das dessen Legitimität und die hier vorgesehenen Zwangsbeiträgen untergraben muss. Steffen weist darauf hin, dass der Versuch, die durch zu niedrige bemessene Arbeitseinkommen resultierenden Armutsrenten nachträglich wieder nach oben zu hieven – beispielsweise durch die geplante „solidarische Lebensleistungsrente“ – zum Scheitern verurteilt sein werden (vgl. hierzu  Steffen, J.: „Solidarische Lebensleistungsrente“. Rentenniveausenkung konterkariert Armutsvermeidung, Dezember 2013).
Was bleibt übrig?

»Herstellen lässt sich die erforderliche strukturelle Kompatibilität zwischen Beitragsbemessungsgrundlage und normativer Vorgabe letztlich nur durch einen ausreichend hohen und allgemein gültigen Mindestlohn oder – sofern dessen Höhe und/oder »allgemeine Gültigkeit« nicht hinreicht – ergänzend durch eine Mindestbemessungsgrundlage für Rentenbeiträge auf Arbeitsentgelt.«

Wie könnte so eine „Mindestbemessungsgrundlage“ für Rentenbeiträge auf Arbeitsentgelt aussehen, vor allem, welche Höhe müsste sie  haben? Hierzu präsentiert Steffen in seiner Veröffentlichung einen möglichen Rechenweg:

Das bedeutet: Bereits im vorgesehenen Einführungsjahr 2015 liegt der Mindestlohn von 8,50 Euro  um 2,71 Euro unterhalb der für erforderlich erachteten Mindestbemessungsgrundlage für Rentenbeiträge auf Arbeitsentgelt.

Fazit von Johannes Steffen: »Eine Mindestbemessungsgrundlage ist daher in Ergänzung des gesetzlichen Mindestlohns mit Blick auf die Altersvorsorge sowie für die Stärkung der Akzeptanz des Pflichtversicherungssystems unabdingbar.«

Und dann legt er noch einen drauf, was die Finanzierung angeht: »Der auf den Differenzbetrag zwischen Stundenlohn und Mindestbemessungsgrundlage fällige Beitrag wäre demgegenüber alleine vom Arbeitgeber zu entrichten (Aufstockungsbetrag).« Er spricht hier von „Vorsorgedumping“ und das rechtfertigt seiner Meinung nach die Finanzierung über die Arbeitgeber.
Was das für Arbeitgeber konkret bedeuten würde, beziffert Steffen auch:

»Bei einem gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro und einer Mindestbemessungsgrundlage von 10,89 Euro hätte der Arbeitgeber den auf den Differenzbetrag (2,39 Euro) entfallenden Beitrag zur Rentenversicherung in Höhe von 46 Eurocent pro Stunde aufzustocken. Verglichen mit einem Stundenlohn in Höhe von 8,50 Euro stiege das Arbeitgeber-Brutto um 4,52 Prozent von 10,14 Euro auf 10,60 Euro.«

Ein „vorsorgekompatibler Mindestlohn“ wie auch eine „Mindestbemessungsgrundlage für Rentenbeiträge“ würde allerdings – darauf weist Steffen ausdrücklich hin – nur die Situation in der Zukunft verbessern helfen. Niedriglöhne der Vergangenheit sind damit nicht mehr korrigierbar. Deshalb muss man dafür eine ergänzende Lösung finden, also zurückliegende Zeiten mit niedrigem Entgelt im Nachhinein für die Rente aufzuwerten. Steffen fordert in diesem Kontext: »… eine Verlängerung der gegenwärtig auf Zeiten vor 1992 begrenzten Regelungen zur sogenannten Rente nach Mindestentgeltpunkten … bildet insofern die leistungsrechtliche Kehrseite der beiden Medaillen Mindestlohn und Mindestbemessungsgrundlage.«

Man sieht, nichts für Leute, die auf der Suche sind nach einfachen Lösungen für ein komplexes System.

Überraschend unblutige Einigung auf einen Mindestlohn von 8,75 Euro in der Fleischindustrie. Aber nicht sofort, sondern ab 2017

Vor einiger Zeit wurden nach jahrelanger Funkstille in der deutschen Fleischindustrie Verhandlungen aufgenommen über einen branchenbezogenen Mindestlohn – nach den zahlreichen Medienberichten über skandalöse Arbeitsbedingungen in dieser Branche und den massenhaften Einsatz osteuropäischer Billigarbeiter auf Werkvertragsbasis waren selbst die dickköpfigsten Arbeitgeber bereit, hier mit den Gewerkschaften zu sprechen. Allerdings wurde dann im Dezember der Abbruch der Verhandlungen gemeldet – als nicht auflösbarer Streitpunkt wurde das Lohnniveau in den ostdeutschen Betrieben genannt, wo man – so die Arbeitgeber – den geforderten Mindestlohn von 8,50 Euro nicht zahlen könne, ohne die dortigen Betriebe in schweres, existenzbedrohendes  Fahrwasser zu bringen. Die Gewerkschaften haben dies zurückgewiesen und auf den 8,50 Euro bestanden. Sie hätten jetzt nach den Verhandlungsergebnissen der Großen Koalition noch knapp zwölf Monate durchhalten müssen, denn dann kommt doch der gesetzliche Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro. Zum 1. Januar 2015.

Und nun berichtet die FAZ von einer überraschenden Verständigung auf einen Tarifvertrag: Die Vereinbarung für die rund 80.000 Beschäftigten sieht die Einführung eines verbindlichen Mindestlohnes von 7,75 Euro je Stunde zum 1. Juli 2014 vor, der dann bis Dezember 2016 in drei Stufen auf 8,75 Euro steigen soll.

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Der Mindestlohn und seine (potenziellen) Ausnahmen. Ab jetzt wird geredet und gefordert und verworfen

Nachdem die Große Koalition den langen Geburtskanal verlassen hat, scheint Gewissheit einzukehren: Der Mindestlohn kommt. Wie wir allerdings schon nach dem Studium des Koalitionsvertrages lernen mussten, gut Ding will Weile haben. Hierzu auch der Beitrag „Anderthalb Schritte vor, ein Schritt zurück? Die Regelungen zum flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn im Koalitionsvertrag„. Dort findet man das Fazit: „Der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn kommt – in Höhe von (dann) 8,50 Euro definitiv zum 01.01.2017. Zwischenzeitlich gibt es Abweichungsspielräume nach unten und überhaupt wird man noch über vieles reden wollen müssen.“ Also das mit dem viel reden wollen müssen haben einige sehr ernst genommen, denn heute meldet sich die CSU in Gestalt der bayerischen Wirtschaftsministerin Ilse Aigner zu Wort: „CSU dringt auf Ausnahmen beim Mindestlohn„. Die ausgesendete Botschaft lässt sich so zusammenfassen: Schüler, Studenten und Rentner sollen keinen Mindestlohn bekommen. Und Menschen im Ehrenamt auch nicht. Wie wird das begründet?

„Erstens muss das Ehrenamt zwingend vom Mindestlohn ausgenommen werden. Aufwandspauschalen für Trainer und Übungsleiter, etwa im Sportverein, sind kein Lohn, sondern Anerkennung“, so wird Ilse Aigner zitiert. Und weiter: „Zweitens sind Schüler, Studenten und Rentner, die einen Zuverdienst haben, anders zu behandeln als Arbeitnehmer, die mit einer Vollzeittätigkeit ihren Lebensunterhalt verdienen.“ Es wird nicht wenige geben, die an dieser Stelle sagen, das hört sich doch ganz plausibel an, deshalb lohnt ein Blick auf die aus einer solchen Herausnahme resultierenden Konsequenzen – und die beziehen sich dann vor allem auf die Schüler, Studenten und Rentner, wenn sie denn aus dem Anwendungsbereich eines gesetzlichen Mindestlohnes ausgenommen werden würden.

Um sich die Folgen zu vergegenwärtigen muss man sich klar werden, dass eine solche Regelung dazu führen würde, dass 42% aller ausschließlich geringfügig Beschäftigten („Minijobber“) keinen Mindestlohn bekommen müssten – das wären 2,1 Millionen Minijobber von insgesamt 5,154 Millionen, so die Befunde in der folgenden Studie des Statistischen Bundesamtes:

Körner, T. et al.: Wer sind die ausschließlich geringfügig beschäftigten? Eine Analyse nach sozialer Lebenslage. In: Wirtschaft und Statistik, Heft 1/2013, S. 42-61 (Tabelle 2: S. 50)

Es handelt sich hier also nun keineswegs um eine Randgruppe, sondern um eine erhebliche Zahl der ausschließlich geringfügig Beschäftigten.

Und eine weitere hier relevante Information kann man der Studie von Körner et al. entnehmen: Die Argumentation von Aigner stellt ja darauf ab, dass die Schüler, Studenten und Rentner deshalb anders zu behandeln sind, weil sie nicht wie andere Arbeitnehmer damit ihren Lebensunterhalt verdienen müssen. Altmodisch könnte man hier von einer „Zubrot-These“ sprechen und bei dem einen oder der anderen wird mitschwingen, die machen das irgendwie zusätzlich, vielleicht um sich einen Urlaub zu finanzieren oder sonstige Annehmlichkeiten des Lebens. Aber in der Studie konnte gezeigt werden, dass 33% der Schüler und Studierenden sowie 36% der Rentner unbedingt auf das Geld angewiesen sind, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten (Körner et al. 2013: 58, Schaubild 8).

Interessant sind auch die Tätigkeits-Schwerpunkte der genannten Personengruppen: Die Schüler und die Studierenden arbeiten vor allem als Aushilfen im Einzelhandel oder in der Gastronomie oder tragen Post und Zeitschriften aus, während die Rentner vor allem bei den Auslieferungs- und Kurierdiensten sowie im Bereich der Putztätigkeiten zu finden sind, außerdem noch bei Schreib- und Buchhaltungsarbeiten (Körner et al. 2013: 59, Tabelle 15).

Und jetzt versuchen wir uns den hoch problematischen Folgen einer dermaßen weit gefassten Ausnahmeregelung vom Mindestlohn einmal gedanklich zu nähern: Kann es irgendeine Begründung geben für die Tatsache, dass in einem Supermarkt die eine Minijobberin, weil sie studiert, geringer bezahlt werden kann als eine Hausfrau, die neben ihren Familienverpflichtungen einer ausschließlich geringfügigen Beschäftigung nachgeht und Anspruch hat auf den Mindestlohn? Von der Logik fällt es schwer, hierfür eine Erklärung zu konstruieren. Und daran anschließend: Welche Anreize werden auf der Seite der Arbeitsnachfrage, also bei den Unternehmen oder einem Teil von ihnen, gesetzt? Natürlich könnte man auf den naheliegenden Gedanken kommen, dass ein Teil der Arbeitgeber die Belegschaften zu „verjüngen“ versuchen werden.

Und noch schlimmer könnte perspektivisch die Entwicklung werden bei den Rentnern. Denn angesichts der sinkenden Renten, auch aufgrund der Abschläge und des politisch gewollten Absenkend des Rentenniveaus, werden immer mehr „Ruheständler“ auf eine ergänzende Aufstockung ihrer kargen Bezüge durch eine Erwerbstätigkeit angewiesen sein. Richtig interessant werden könnte diese Gruppe, wenn die heute noch gegebene Begrenzung der Nicht-Anrechnungsfähigkeit von Erwerbseinkommen nach oben gelockert wird, also der anrechnungsfreie Hinzuverdienst zur Rente noch weiter möglich wird, denn dann kann man die „arbeitenden Alten“ auch sozialversicherungspflichtig beschäftigen, man hat dann bei ihnen auch noch den Vorteil, dass für sie keine Rentenversicherungsbeiträge abgeführt werden müssen.

Fazit: Würde man die vorgeschlagene weite Herausnahme aus dem Anwendungsbereich eines gesetzlichen Mindestlohnes umsetzen, dann würde ein großer Niedriglohnsektor unterhalb der eigentlich flächendeckenden Mindestlohngrenze entstehen. Das kann nicht wirklich im Interesse der Glaubwürdigkeit der SPD sein, insofern wird sie hier sicher Widerstand leisten (müssen).

Trotz dieser ablehnenden Bewertung was die Generalisierung einer Herausnahme für Schüler, Studierende und vor allem Rentner angeht, wird man nicht umhinkommen, über Ausnahmetatbestände vom Mindestlohn zu sprechen und diese auch in die Welt zu setzen. Beispielsweise sollte das gelten für den gesamten Bereich der Ausbildungsvergütungen im System der dualen Berufsausbildung. Hierbei handelt es sich um eine „Hybridform“ zwischen Arbeit und Lernen und die Ausbildungsvergütungen sind tarifvertraglich geregelt.

Hunderttausende Solo-Selbständige haben nichts vom Mindestlohn. Das ist ein Problem. Aber kein Problem des Mindestlohns

Hunderttausende haben nichts vom Mindestlohn, meldet Spiegel Online. Und weiter erfahren wir: »Der Mindestlohn kommt – doch viele werden davon nicht profitieren. Nach Berechnungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung leben schon jetzt 700.000 Solo-Selbständige von weniger als 8,50 Euro pro Stunde, zum Beispiel in der Pflege. Experten fürchten, dass die Zahl bald massiv zunimmt.«

Nun könnte diese Meldung dazu verleiten, auf den Gedanken zu kommen, dass sich erneut zeige, dass das mit dem Mindestlohn keine runde Sache ist. Dass er nicht funktionieren wird. Deshalb an dieser Stelle gleich vorweg: Das ist ein Irrtum. Denn der Mindestlohn – wenn er denn wirklich mit Beginn des Jahres 2015 scharf gestellt werden wird – bezieht sich zwangsläufig nur auf Arbeitnehmer (und bereits hier ist die Abgrenzung nicht immer einfach, beispielsweise sind Auszubildende Arbeitnehmer, aber teilweise eben auch nicht, weil in Ausbildung, also Arbeitnehmer eigener Art und es gibt mit Blick auf das duale System der Berufsausbildung gute Gründe, die Auszubildenden von einem gesetzlichen und flächendeckenden Mindestlohn von 8,50 Euro auszunehmen). Aber Selbständige sind nun mal keine Arbeitnehmer, also kann für sie eben auch ein Mindestlohn nicht gelten, man könnte theoretisch höchstens an ein Äquivalent zum Mindestlohn denken, das wäre dann eine Mindestvergütung. Was aber schnell an logische und vor allem praktische Grenzen stoßen muss. Also der Reihe nach.

Der Spiegel Online-Beitrag von Tobias Lill beginnt mit einem Fallbeispiel aus der Welt der Solo-Selbständigen: Ein 53-jähriger Dozent, der an mehreren Leipziger Sprachschulen Deutsch für Ausländer unterrichtet – auf freiberuflicher Basis. »Rechnet man die langen Vor- und Nachbereitungszeiten für diese Integrationskurse hinzu, arbeitet Kirsch nach eigenen Angaben etwa 40 bis 45 Stunden pro Woche. Vor Abzug von Steuern und Sozialversicherungsbeiträgen kommt er auf Einnahmen von knapp 1000 Euro im Monat. Das entspricht einem Bruttoverdienst von rund sechs Euro pro Stunde. Um über die Runden zu kommen, muss der alleinerziehende Vater von 16-jährigen Zwillingen seine Einkünfte mit Hartz IV aufstocken.«

Laut dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) gibt es mehr als 2,5 Millionen solcher Ein-Mann-Betriebe in Deutschland. Das Institut hat nun berechnet, wie hoch die Zahl der Solo-Selbständigen ist, deren Einkünfte unter dem liegen, was sie bekommen würden, wenn sie zum Mindestlohn arbeiten würden: »28 Prozent der Solo-Selbständigen hierzulande, also etwa 700.000, erzielten 2011 ein Brutto-Einkommen von weniger als 8,50 Euro in der Stunde.«
Karl Brenke vom DIW geht davon aus, dass diese Zahl von vor zwei Jahren konstant geblieben ist.

» … in vielen Branchen wie der Pflege, den Medien, dem Bildungsbereich oder der Paketzustellung zahlten die Auftraggeber oft nur klägliche Honorare. Nicht wenige dieser Freiberufler lebten deshalb „von der Hand in den Mund“. Brenke spricht von „Kümmerexistenzen“.«

Staatliche Hilfe bekommt nur ein geringer Teil dieser Freiberufler. Schätzungen zufolge bessern rund 100.000 von ihnen ihre Einkünfte mit Hartz IV auf, berichtet Tobias Lill. Dabei handelt es sich um eine Untergrenze, denn wer Rücklagen habe, muss diese erst mal aufbrauchen oder die Selbständigen wissen gar nicht, dass ihnen die Leistungen nach dem SGB II auch zustehen oder manchen ist der monatliche Nachweis der schwankenden Einkünfte zu kompliziert oder andere schämen sich, Hartz IV-Leistungen in Anspruch zu nehmen.

Bereits Anfang des Jahres hatte das DIW Zahlen zu den Solo-Selbständigen veröffentlicht:

Brenke, K.: Allein tätige Selbständige: starkes Beschäftigungswachstum, oft nur geringe Einkommen, DIW Wochenbericht, Nr. 7/2013

Darin konnte man lesen: »Auch wenn ein Teil der Solo-Selbständigen hohe Einkünfte erzielt, liegt das mittlere Einkommen dieser Erwerbstätigengruppe unter dem der Arbeitnehmer. Viele kommen über Einkünfte, wie sie Arbeitnehmer im Niedriglohnsektor beziehen, nicht hinaus. Der Anteil der Geringverdiener unter den Solo-Selbständigen… liegt … immer noch bei knapp einem Drittel oder etwa 800 000 Personen.«

Die Zahl der Selbständigen ist in Deutschland in der jüngeren Vergangenheit viel stärker gewachsen als die der Arbeitnehmer. So stieg die Zahl der abhängig Beschäftigten von 2000 bis 2012 um fünf Prozent, die der Selbständigen dagegen um 14 Prozent. »Die Expansion der Selbständigkeit ist nahezu ausschließlich auf Selbständige ohne Arbeitnehmer zurückzuführen. Dieser Personenkreis stellt inzwischen die Mehrheit der Selbständigen«, so das DIW.

Interessant sind die Ergebnisse zu den Bereichen, wo es überdurchschnittlich viele Solo-Selbständige gibt oder wo deren Anteil besonders stark angestiegen ist (vg. hierzu Brenke 2013: 8):

»Hohe Anteile an allen Selbständigen zeigen sich bei künstlerischen Berufen, Lehrern/Dozenten (darunter auch solche für Erwachsenenbildung), Dolmetschern, Publizisten, Psychologen, pflegerischen Berufen, Kosmetikern und Heilpraktikern … Die zahlenmäßig meisten Solo-Selbständigen sind indes als Händler und Vertreter sowie in landwirtschaftlichen oder gärtnerischen Berufen tätig; hier hat die Zahl der Solo-Selbständigen allerdings deutlich abgenommen. Bei den Zuwächsen in absoluten Zahlen stehen Bauberufe an der Spitze; allein auf die Ausbauberufe entfiel knapp ein Zehntel des gesamten Erhöhung der Zahl der Solo-Selbständigen von 2000 bis 2011. Stark zum Wachstum beigetragen haben auch Lehrer und Dozenten, bildende Künstler, Steuer- und Wirtschaftsberater sowie IT-Kräfte und Personen in Pflegeberufen. Auffallend ist zudem ein starker Zuwachs an Hausmeistern unter den Solo-Selbständigen. Anzunehmen ist, dass dies weniger an einer Ausweitung des zu betreuenden Gebäudebestandes liegt, als vielmehr daran, dass Immobilienbesitzer solche Funktionen an Selbständige auslagerten.«

Dieser differenzierte Blick auf die Entwicklungen innerhalb des heterogenen Feldes der Solo-Selbständigen eröffnet zugleich den notwendigen Raum für eine Diskussion über arbeitsmarktpolitische (=> Verdrängungs- bzw. Substitutionsprozesse bislang abhängiger Beschäftigung => Problem der Scheinselbständigkeit) wie auch potenzieller gravierender sozialpolitischer (=> Altersarmut durch mangelnde oder gar völlig fehlende Altersvorsorge der „Kümmerexistenzen“) Folgen der zunehmenden Solo-Selbständigkeit in unserer Gesellschaft.

An dieser Stelle abschließend wieder zurück zu dem Artikel von Lill: Dort wird Gunter Haake zitiert, Geschäftsführer der Ver.di-Selbständigenberatung Mediafon: Ein großer Teil der Solo-Selbständigen sei „nur auf dem Papier selbständig und in Wahrheit scheinselbständig“. Er »fürchtet, dass viele Arbeitgeber vor Inkrafttreten des Mindestlohns fest angestellte Mitarbeiter zwingen werden, sich formal selbständig zu machen, um so die Lohnuntergrenze zu umgehen.« Auch Brenke sieht hier bei einigen Unternehmen eine große „Kreativität“.

Damit wären wir bei einem möglichen und kritisch zu verfolgenden Zusammenhang zwischen Mindestlohn und Solo-Selbständigkeit, also eine Verdrängung der bisher abhängig ausgeübten Beschäftigung in den Bereich der Selbständigkeit hinein, die sich dann allerdings im Regelfall als eine „Schein-Selbständigkeit“ darstellt.

Das ist allerdings rechtlich nicht so einfach. Verdeutlichen kann man sich dies aktuell an Beispielen aus dem Gesundheitswesen: »Honorarkräfte in Kliniken und Pflege hadern mit dem Vorwurf der Scheinselbstständigkeit. Die Deutsche Rentenversicherung erschwert mit ihren Maßstäben immer mehr Honorarärzten und anderen Freiberuflern in Klinik und Pflege den Arbeitsalltag«, so die Ärzte Zeitung in dem Artikel „Damoklesschwert Rentenpflicht„. Die Deutsche Rentenversicherung wertet Honorarkräfte als Scheinselbstständige, weil sie in die Organisation der Krankenhäuser oder Pflegeeinrichtungen eingebunden und hinsichtlich Arbeitszeit, -ort, -dauer und -ausführung weisungsgebunden seien. Das gilt nicht nur für Pflegefachkräfte, sondern auch für Honorarärzte.

Was wird an Lösungsansätzen diskutiert?

»Gewerkschafter Haake fordert gesetzliche Honoraruntergrenzen für Freiberufler, damit der Mindestlohn für Festangestellte nicht „untertunnelt“ werde.« Man darf an dieser Stelle ergänzend anmerken, dass es durchaus selbständige Tätigkeiten gibt, die mit Honorarunter- und Obergrenzen verbunden sind, man denke hier an die vielen Honorarordnungen bei Freiberuflern. Allerdings ist der Vorschlag des Gewerkschafters nicht nur ein sehr weitreichender Vorschlag, sondern auch einer, der kaum Realisierungschancen hat. Der Einwand von Karl Brenke gegen diesen Ansatz kommt pragmatisch daher: „In vielen Branchen wird ja für eine bestimmte Leistung, etwa für einen Text oder eine Grafik, und nicht stundenweise bezahlt.“ Dies lasse sich kaum objektiv messen, so der DIW-Ökonom. Darüber hinaus muss man sehen, dass es auch bei Vorliegen einer ausreichenden Mindestvergütung immer noch sein könnte, dass der Selbständige am Hungertuch nagen muss, schlichtweg weil zu wenig Aufträge da sind. Dieses Problem ist aber ein systemisches der Selbständigkeit, ihr inhärentes Risiko, das mit der Drohung oder dem Vollzug der Insolvenz belegt ist.

Wesentlich mehr Realisierungschancen muss man wohl diesen Ansatz zusprechen:

»Derweil werden Stimmen laut, schlecht bezahlten Freiberuflern den Zugang zu den Sozialsystemen zu erschweren. Das Bundesland Sachsen-Anhalt machte sich gerade erst dafür stark, den Anspruch auf Hartz IV „bei unrentabler Selbständigkeit“ auf zwei Jahre zu begrenzen.« Aus der CSU werden noch weitergehende Vorschläge laut, hier will man »bereits nach eineinhalb Jahren überprüfen lassen, ob ein Geschäftsmodell tragfähig sei. Ansonsten müsse man die aufstockende Leistung von Hartz IV verweigern.« So wird es wahrscheinlich – wenn überhaupt – kommen. Nur muss man sich natürlich darüber klar sein, dass das mit erheblichen administrativen Aufwand in den Jobcentern verbunden sein wird.

Man kann es drehen und wenden wie man will: Die stark gestiegene Zahl der Solo-Selbständigen ist ein Problem, weniger – so meine These – hinsichtlich eines möglichen Unterlaufens des Mindestlohns, wenn denn die Schein-Selbständigkeit ordentlich verfolgt wird, sondern vielmehr mit Blick auf die generellen, erheblichen Sicherungslücken vieler solo-selbständiger Existenzen, vor allem mit Blick auf die definitive Altersarmut, in der viele von ihnen landen werden. Aber all das ist weniger bzw. gar kein Problem des Mindestlohns, denn der gilt nun mal nur für Arbeitnehmer. Es ist hier ein Problem des lohnbezogenen sozialen Sicherungssystems angesprochen, dessen grundlegende Weiterentwicklung bzw. Reform ein Thema für eine Großen Koalition sein könnte. Konjunktiv II ist hier passend. Dass sie es (noch?) nicht gemacht hat, wäre ein eigenes Thema.

Anderthalb Schritte vor, ein Schritt zurück? Die Regelungen zum flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn im Koalitionsvertrag

Der Koalitionsvertrag zwischen CDU, CSU und SPD für die 18. Legislaturperiode trägt den Titel „Deutschlands Zukunft gestalten“. Besonders umstritten waren und sind Fragen den Arbeitsmarkt betreffend, denn bereits im Vorfeld der Koalitionsverhandlungen wurde die Einführung eines flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohnes in Höhe von 8,50 Euro pro Stunde seitens der SPD als conditio sine qua non für den erfolgreichen Abschluss eines Vertrages in den politischen Raum gestellt. Nunmehr liegt er also vor, der große Koalitionsvertrag und damit haben wir die Möglichkeit wie die Verpflichtung, einmal genauer hinzuschauen. Und neben dem Mindestlohn gibt es weitere arbeitsmarktliche Baustellen, vor allem bei der Leiharbeit und den Werkverträgen, die es in diesem Kontext zu analysieren und – soweit man das zum jetzigen Zeitpunkt angesichts der „Koalitionsvertragslyrik“ überhaupt leisten kann – auch zu bewerten gilt.

Beginnen wir mit dem Mindestlohn, konkreter in seiner von der SPD gleichsam als Vorbedingung für das gemeinsame Regieren geforderten Form als flächendeckender, gesetzlicher Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro pro Stunde. Kommt er? Die Antwort nach einem Blick in den Koalitionsvertrag muss so ausfallen: Im Prinzip ja, aber. Diese Antwort-Kategorie mit ihrer Anlehnung an das Radio-Eriwan-Prinzip ist natürlich auf der einen Seite eine gemein daherkommende Überspitzung angesichts der Tatsache, dass man das Ergebnis durchaus als einen großen Durchbruch angesichts der bisherigen Widerständigkeit gegen einen gesetzlichen, flächendeckenden Mindestlohn als solchen sowie den heftigen, aggressiven Angriffen aus Teilen der Wirtschaft wie auch aus dem Mainstream der deutschen Wirtschaftswissenschaften gegen die vorgesehene Höhe von 8,50 Euro pro Stunde bewerten kann. Auf der anderen Seite bildet die „Im Prinzip ja, aber“-Formel genau das ab, was wir dazu im vorliegenden Vertragstext finden:

»Zum 1. Januar 2015 wird ein flächendeckender gesetzlicher Mindestlohn von 8,50 Euro brutto je Zeitstunde für das ganze Bundesgebiet gesetzlich eingeführt. Von dieser Regelung unberührt bleiben nur Mindestlöhne nach dem AEntG.« (S. 68)

Erster Befund: Der Mindestlohn wird kommen und das auch in der geforderten Höhe von 8,50 Euro. Aber erst zum 01.01.2015. Damit hat man schon mal das gesamte kommende Jahr „gewonnen“ für eine „mindestlohnfreie“ Zeit. Das bedeutet im Ergebnis aber auch, dass es keine 8,50 Euro pro Stunde von heute sein werden, denn nominal 8,50 Euro 2015 werden real keine 8,50 Euro des Jahres 2013 sein können. Außerdem ergibt sich eine weitere Einschränkung aus der Formulierung im Vertrag, dass „nur Mindestlöhne nach dem AEntG“ unberührt bleiben von der Einführungsvorschrift. Damit sind die Branchenmindestlöhne gemeint. Hier lohnt allerdings ein genauerer Blick auf die dort fixierten Branchenmindestlöhne, die nach dem AEntG allgemein verbindlich erklärt worden sind. Denn es gibt hier einige Branchen-Mindestlöhne, die unter der angeblich „nicht-verhandelbaren“ Lohnschwelle von 8,50 Euro pro Stunde liegen – und die betreffen bis auf eine Ausnahme immer Ostdeutschland:

  • In der Gebäudereinigung liegt der Mindestlohn (LG1) derzeit bei 7,56 Euro, Ab dem 01.01.2014 werden es 7,96 Euro sein und eine weitere Anhebung auf 8,24 Euro ist für den 01.01.2015 vorgesehen.
  • In der Pflegebranche liegt der Mindestlohn in den ostdeutschen Bundesländern bei 8,00 Euro.
  • Bei den Sicherheitsdienstleistungen liegt der Mindestlohn derzeit bei 7,50 Euro, hier nicht nur in Ostdeutschland, sondern ebenfalls in zahlreichen westdeutschen Bundesländern (Rheinland-Pfalz, Saarland, Schleswig-Holstein usw.)
  • Und schlussendlich haben wir noch die Leiharbeit, wo erst vor kurzem die Gewerkschaften einen neuen Tarifvertrag abgeschlossen haben mit den Arbeitgebern der Branchen: Während für Westdeutschland ab dem kommenden Jahr ein Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde gelten wird, sieht der Tarifvertrag für Ostdeutschland nach unten abweichende Regelungen vor:  Ab dem 01.01.2014 werden es dort 7,86 Euro sein, ab dem 01.04.2015 dann 8,20 Euro und die heute geforderten 8,50 Euro werden nach diesem Tarifwerk erst am 30.06.2016 erreicht sein.

Nun könnte man an dieser Stelle argumentieren, dass über diesen Weg eine auch von grundsätzlichen Befürwortern eines gesetzlichen Mindestlohns bei der Diskussion über die konkrete Einstiegshöhe von 8,50 Euro ins Spiel gebrachte abweichende Übergangsregelung für Ostdeutschland realisiert wird aufgrund der vielen Niedriglohnbranchen dort, um schockartige Anpassungsprozesse mit größeren Arbeitsplatzverlusten zu vermeiden oder abzumildern. Allerdings ist das keine zeitlich eng befristete regionale Differenzierung einer allgemeinen Lohnuntergrenze, sondern wir sind hier konfrontiert mit unterschiedlich niedrigeren Mindestlöhnen in einigen Branchen, die es in der Vergangenheit unter den Schutzschirm des Arbeitnehmerentsendegesetzes geschafft haben.

Aber die weiteren Formulierungen im Koalitionsvertrag verkomplizieren die Situation sogar noch, denn nach dem bereits zitierten Passus mit der grundsätzlichen Einführungsvorschrift zum 01.01.2015 unter Herausnahme der behandelten Branchenmindestlöhne nach AEntG werden weitere Ausnahmetatbestände aufgeführt – und die nun wieder nicht differenziert nach West und Ost:

»Tarifliche Abweichungen sind unter den folgenden Bedingungen möglich:
• Abweichungen für maximal zwei Jahre bis 31. Dezember 2016 durch Tarifverträge repräsentativer Tarifpartner auf Branchenebene
• Ab 1. Januar 2017 gilt das bundesweite gesetzliche Mindestlohnniveau uneinge- schränkt.
• Zum Zeitpunkt des Abschlusses der Koalitionsverhandlungen geltende Tarifverträge, in denen spätestens bis zum 31. Dezember 2016 das dann geltende Mindestlohnniveau erreicht wird, gelten fort.
• Für Tarifverträge, bei denen bis 31. Dezember 2016 das Mindestlohnniveau nicht erreicht wird, gilt ab 1. Januar 2017 das bundesweite gesetzliche Mindestlohnniveau.
• Um fortgeltende oder befristete neu abgeschlossene Tarifverträge, in denen das geltende Mindestlohniveau bis spätestens zum 1. Januar 2017 erreicht wird, eu- roparechtlich abzusichern, muss die Aufnahme in das Arbeitnehmerentsendegesetz (AentG) bis zum Abschluss der Laufzeit erfolgen.«

In der einfachen und zusammenfassenden Übersetzung bedeutet das: Der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn in Höhe von (dann) 8,50 Euro pro Stunde kommt definitiv – am 01.01.2017. Dann uneingeschränkt. Bis dahin – also während der kommenden drei Jahre – können aber Tarifvertragspartner in bestimmten Branchen, wenn sie denn wollen, Abweichungen nach unten vornehmen.

Jetzt ist es aber genug mit den Ausnahmen – oder doch nicht? Nein, nicht ganz, denn ein weiterer, überaus flexibel gehaltener Passus findet sich zum Thema Mindestlohn im Koalitionsvertrag:

»Wir werden das Gesetz im Dialog mit Arbeitgebern und Arbeitnehmern aller Bran- chen, in denen der Mindestlohn wirksam wird, erarbeiten und mögliche Probleme, z. B. bei der Saisonarbeit, bei der Umsetzung berücksichtigen.«

Das zielt nun eben nicht nur auf die Saisonarbeit, besonders relevant für die Landwirtschaft mit ihren zumeist osteuropäischen Saisonkräften, deren Herausnahme aus dem „flächendeckenden“ gesetzlichen Mindestlohn offensichtlich über diese Formulierung vorbereitet wird. Sondern die Saisonkräfte stehen dort nur als ein Beispiel für die grundsätzliche Bereitschaft, mit allen Branchen im Gesetzgebungsverfahren zum Mindestlohn über dann vorgetragene Probleme einer Mindestlohnimplementierung zu sprechen und deren Spezifika falls notwendig auch zu „berücksichtigen“, was immer das bedeutet.

Fazit: Der flächendeckende gesetzliche Mindestlohn kommt – in Höhe von (dann) 8,50 Euro definitiv zum 01.01.2017. Zwischenzeitlich gibt es Abweichungsspielräume nach unten und überhaupt wird man noch über vieles reden wollen müssen.