Der Mindestlohn und seine Kontrolle. Der Zoll bekommt jetzt Verstärkung. Von den Unternehmen

Er ist aus den großen Schlagzeilen verschwunden, der zum Jahresanfang eingeführte gesetzliche Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro pro Stunde für fast alle. Die Berichterstattungskarawane ist weitergezogen, aber gerade deshalb lohnt immer wieder ein Blick darauf, was sich denn in der Praxis tut. Und wenn wir uns erinnern an die großen Debatten Anfang des Jahres – neben den von vielen Ökonomen vorhergesagten massiven Beschäftigungsverlusten, die bislang auf sich warten lassen, wurde das Bild einer Überdosis an Kontrollen an die Wand geworfen, bei dem Beamte der Zollverwaltung – bewaffnet und in Rudeln auftretend – arme Geschäftsinhaber drangsalieren. Und eine zweite Front wurde eröffnet beim Thema Stundennachweise, also der Arbeitszeitdokumentation, aus der angeblich ein Bürokratiemonster erwachsen sei. Insgesamt ist es hier deutlich ruhiger geworden, aber die Politik hat ja zwischenzeitlich auch erste Lockerungsübungen veranstaltet. Das Mindestlohngesetz verlangt die Dokumentation von Arbeitszeiten aller Mitarbeiter, die unter 2.985 Euro verdienen. Zum 1. August 2015 wird die Grenze abgesenkt auf 2.000 Euro. Auch Familienangehörige werden von der Dokumentationspflicht ausgenommen. Eine Verordnung für diese Lockerungen wird gerade vom Bundesarbeitsministerium auf den Weg gebracht. Aber diese Kontrollen. Wie ist der Stand nach mehr als einem halben Jahr?

Der Zoll kontrolliert und offensichtlich ist das Ergebnis überschaubar. So berichtet die Allgemeine Hotel- und Gastronomie-Zeitung in dem Artikel Bisher wenig Verstöße gegen den Mindestlohn:

»Das Gastgewerbe steht im Fokus des Zolls. So bestätigte ein Sprecher des Bundesarbeitsministeriums …, dass in den ersten sechs Monaten des Jahres das Gastgewerbe gleich nach dem Baugewerbe am häufigsten kontrolliert wurde … „Von insgesamt 25.000 Kontrollen fanden rund 15 Prozent davon im Gaststättengewerbe statt“, sagte ein Sprecher des Ministeriums. Im Baugewerbe hätten insgesamt 46 Prozent aller Kontrollen stattgefunden. Am dritthäufigsten sei die Spedition/Transport kontrolliert worden. Im Rahmen der Kontrollen wurden insgesamt 210.000 Personen befragt.«

Und wie sieht es aus mit Verstößen gegen das Mindestlohngesetz? In 146 Fällen – weniger als ein Prozent – sind laut Ministerium Ermittlungen eingeleitet worden. Hört sich nicht gerade dramatisch an. Nun ist das mit den Zahlen immer so eine Sache – sind nun 25.000 Kontrollen viel oder weniger? Was ist die Grundgesamtheit? Offensichtlich erkennbar ist derzeit nur eines: Der Zoll läuft nicht herum und pickt sich wahllos Unternehmen heraus, sondern es gibt schon klare Schwerpunktsetzungen auf Branchen, in den denen man mit plausiblen Gründen Mindestlohnverstöße vermutet.

Aber die Kontrolldichte des Zolls wird kritisiert. Ein Beispiel, hier aus dem Artikel Wird der Mindestlohn eingehalten?:

»… Unmut herrscht … auf der Gewerkschaftsseite. Die Industriegewerkschaft Bauen – Agrar – Umwelt (IG BAU) fordert nun mehr Mindestlohn-Kontrollen, auch in Wilhelmshaven. „Wir stellen eklatante Verstöße gegen das Mindestlohngesetz in fast allen Bereichen fest“, erklärt der stellvertretende Regionalleiter der IG BAU im Bezirksverband Nordwest-Niedersachsen, Gero Lüers, und bezieht sich dabei auf Angaben von Arbeitnehmern.
Festzumachen sei das auch an den Umgehungsstrategien. So würden Arbeitnehmer zu Selbstständigen gemacht und Manipulationen bei der Arbeitszeiterfassung vorgenommen. Viele Arbeitnehmer würden das aus Angst, ihren Job zu verlieren, auch mittragen. Die Gewerkschaft glaubt, dass mehr Kontrollen gegen die Verstöße helfen könnten.«

Helfen könnte natürlich auch, wenn mögliche oder tatsächliche Verletzungen des Mindestlohngesetzes überhaupt verfolgt werden. Und an dieser Stelle betreten jetzt ganz neue Player das Parkett. Pizzalieferanten gehen gegen Niedriglohn-Konkurrenz vor, kann man dem in Berlin erscheinenden Tagesspiegel entnehmen.
Der Artikel beginnt mit einem konkreten Sachverhalt aus der Welt der  Gastronomie: den Pizzadiensten:

»Dass er sich keine Hoffnungen auf den Mindestlohn machen dürfe, wurde Manuel P. (Name geändert) schon im Bewerbungsgespräch in der Pizzeria deutlich gemacht. Für die Auslieferung werde er einen Stundenlohn von sechs Euro erhalten, die Touren müsse er mit seinem privaten Pkw fahren, teilte ihm sein künftiger Arbeitgeber mit. Das Geld werde er ihm am Ende jeder Schicht bar ausgezahlt.
Am Ende des ersten Arbeitstages ging Manuel P. nach vier Touren und drei Stunden Arbeit mit insgesamt 22 Euro nach Hause, also mit einem Stundenlohn von 7,33 Euro.«

Mit Hilfe einer eidesstattlichen Erklärung des Manuel P. konnte die Anwältin Nicole Thomas vor dem Landgericht Berlin einen Erfolg erzielen.

»In einer einstweiligen Verfügung untersagte das Gericht daraufhin der Berliner Pizzeria unter Androhung eines Ordnungsgeldes bis zu 250 000 Euro oder einer Ordnungshaft, Arbeitnehmer unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns zu bezahlen.«

Das Besondere  im vorliegenden Fall: Nicole Thomas ist nicht etwa eine Anwältin einer Gewerkschaft, sondern Hauptgeschäftsführerin des Vereins zur Bekämpfung unlauteren Wettbewerbs, der im September 2014  in der Gastronomie gegründet worden ist. Pizzalieferanten wie Joey’s Pizza, Call a Pizza oder Smiley’s gehören dem Verein an.

»„In der Gastronomie gibt es viele schwarze Schafe, die Schwarzarbeiter beschäftigen und keine Mindestlöhne zahlen“, sagt Hauptgeschäftsführerin Nicole Thomas. Wenn ein Unternehmen den Mindestlohn nicht zahle, könne es auch bei den Kunden niedrigere Preise verlangen. „Das führt zu massiven Wettbewerbsverzerrungen“, kritisiert die Anwältin. Seit Anfang des Jahres geht ihr Verband gegen solche Verstöße vor.«

Um Mindestlohnverstöße aufzudecken, arbeitet der Verband auch mit einer Detektei zusammen. Bislang haben sich in zwei weiteren Fällen in Bayern und Schleswig-Holstein Unternehmen in einer Unterlassungserklärung verpflichtet, ihren Mitarbeitern künftig den Mindestlohn zu zahlen. Vor dem Landgericht Berlin ist außerdem eine weitere Klage gegen einen Pizzalieferanten anhängig, berichtet Cordula Eubel in ihrem Artikel.

Interessant ist die Reaktion der Gewerkschaft:

»Bei der Gewerkschaft Nahrung Genuss Gaststätten beobachtet man die Tätigkeiten des Vereins mit Skepsis. Die Vereinsmitglieder hätten sich in der Vergangenheit dadurch ausgezeichnet, nicht tarifgebunden zu sein und Niedriglöhne zu zahlen, sagte Sprecherin Karin Vladimirow. Der Verein verfolge lediglich den Zweck, Konkurrenz zu denunzieren. Unstrittig sein, dass Mindestlohnverstöße wettbewerbsverzerrend seien, sagt Vladimirow.«

Das klingt doch jetzt ein wenig nach beleidigter Leberwurst.

Der Mindestlohn mal wieder. Er wirkt vor sich hin und Andrea Nahles korrigiert ein paar Stellschrauben im Getriebe

»Wirtschaft und Arbeitsmarkt sind kräftig und schultern den Mindestlohn ohne Mühe. Die Lage auf dem Arbeitsmarkt ist weiter gut. Die Zahlen aus Nürnberg zeichnen ein stabiles und robustes Bild: Die Arbeitslosigkeit liegt deutlich unter dem Vorjahreswert. Auch die Zahl der Aufstocker lag im Februar deutlich unter der des Vorjahresmonats. Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ist nach vorläufigen Angaben im April im Vergleich zum Vorjahresmonat um über eine halbe Million angestiegen.« Von wem das wohl kommt? Richtig, ein O-Ton von der Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) anlässlich der Kommentierung der Arbeitsmarktzahlen für Juni 2015. Und dabei ging es nicht nur um das erneute Rekordtief bei den offiziellen Arbeitslosenzahlen, sondern der 30. Juni markiert auch die ersten sechs Monate des gesetzlichen Mindestlohns für alle mit Ausnahmen. Ein schönes Datum, um eine erste Bilanzierung vorzulegen, was denn auch vom Bundesmindestlohnministerium gemacht wurde: Bestandsaufnahme Einführung des allgemeinen Mindestlohnes in Deutschland Juni 2015. So technokratisch-lieblos haben die Beamten der Frau Ministerin ihre Wahrnehmung überschrieben. Sie kommen nicht wirklich überraschend zu einer rundum positiven Bewertung. Also könnte man meinen, gut ist, nächstes Thema. Dann aber überraschte die Ministerin mit der Ankündigung, einige Korrekturen am Regelwerk vorzunehmen – sogleich wurde gemeldet: Nahles entschärft Mindestlohn-Regeln oder Nahles lockert Mindestlohn – ein bisschen. Offensichtlich meint die Ministerin, irgendwie reagieren zu müssen auf die permanenten Nörgeleien seitens der Union und von Wirtschaftsfunktionären an dem „Bürokratiemonster“ Mindestlohn. Dabei gibt es nachvollziehbare Korrekturen, aber auch wieder neue Regelungen, die doch entlasten sollen, aber im Ergebnis wieder mal zur Komplexitätssteigerung beitragen werden.

Das zentrale Entgegenkommen der Ministerin: Sie hat angekündigt, die Dokumentationspflicht bei der Arbeitszeit verringern zu wollen. Aufzeichnungspflichten bei der Beschäftigung von Ehepartnern, Kindern und Eltern des Arbeitgebers sollen entfallen.

Bei der Auftraggeberhaftung sicherte Nahles eine gemeinsame Klarstellung von Arbeits- und Finanzministerium bei der Zollverwaltung zu. Damit werde in den meisten Fällen einer Beauftragung eines anderen Unternehmens klargestellt, dass im Hinblick auf den Mindestlohn keine Haftung seitens des Auftraggebers bestehe.

So weit, so nachvollziehbar. Jetzt wird es aber ein wenig komplizierter, denn die Ministerin hat eine weitere „Entlastung“ im Koffer:

»Derzeit müssen Arbeitgeber in neun für Schwarzarbeit besonders anfälligen Branchen bis zu einer Gehaltsgrenze von 2.958 Euro brutto genau dokumentieren, wie viele Stunden ihre Angestellten für diese Summe gearbeitet haben. Betroffen davon sind zum Beispiel Baugewerbe, Gaststätten oder Schausteller«, kann man der Meldung Nahles entschärft Mindestlohn-Regeln entnehmen. Der eine oder andere wird sich fragen, wie man denn auf diese krumme Summe von 2.958 Euro brutto pro Monat kommt. Um mit dem Mindestlohn 2.958 Euro zu verdienen, müsse man im Monat an 29 Tagen zwölf Stunden lang arbeiten – das sei gar nicht möglich, so die Kritiker dieser Lohngrenze. Die Gegenargumentation der Bundesmindestlohnministerin geht dann so: Bei Saisonarbeitern oder Beschäftigten mit stark schwankenden Arbeitszeiten seien solche Arbeitsbelastungen durchaus vorstellbar. Nun ist sie an dieser Stelle bereit, eine Absenkung des Schwellenwerts zu akzeptieren, aber die neue Regelung erhöht den Komplexitätsgrad ein ordentliches Stück:

  • Künftig soll diese Grenze bei 2.000 Euro liegen, allerdings nur, wenn das Arbeitsverhältnis schon länger besteht und der Lohn in den vergangenen zwölf Monaten regelmäßig bezahlt wurde.
  • Zugleich bleibt die Lohngrenze von 2.958 Euro weiter erhalten, denn die Absenkung auf 2.000 Euro gilt ja nur dann, wenn die genannte Bedingung erfüllt ist. Für Saisonbeschäftigte und Minijobber im gewerblichen Bereich bleibe die Aufzeichnungspflicht jedoch bis zur Einkommensschwelle von 2.958 Euro unverändert bestehen.

Da fragt sich auch der dem Mindestlohn sehr zugeneigte Leser vielleicht: Warum jetzt 2.000 Euro? Ist das empirisch ermittelt worden oder hat man gewürfelt? Oder hat man die Zahl genommen, weil sie so schön rund ist? Und wenn man das irgendwie erklärt bekommt, bleibt eine weitere Frage mit Ratlosigkeitspotenzial, denn die Absenkung gilt ja nur, »wenn das Arbeitsverhältnis schon länger besteht und der Lohn in den vergangenen zwölf Monaten regelmäßig bezahlt wurde.« Ja wie? Was genau ist denn „schon länger besteht“? Geht’s noch präziser? Oder ist das dann aus dem zweiten Teil abzuleiten, wo von den vergangenen zwölf Monaten die Rede ist. Also zwölf Monate. Warum nicht 11 oder 10 oder 9? Hat man da gewürfelt?

Der arbeitsmarktpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Karl Schiewerling (CDU), wird mit der kritischen Anmerkung zitiert, durch die Einführung einer weiteren Gehaltsschwelle werde das Gesetz für Arbeitgeber und Kontrollbehörden noch komplizierter. Das ist nicht von der Hand zu weisen. Insgesamt erscheint das nicht wirklich durchdacht, offensichtlich will Andrea Nahles den Mindestlohnkritikern in der Union und in den Wirtschaftsverbänden irgendwie entgegenkommen. Die legen aber gleich nach und stellen weitere „Entlastungsforderungen“.

Und natürlich – das eigentliche Problem für viele Unternehmen, beispielsweise aus dem Gaststättenbereich – wird erneut nicht angesprochen. Denn das eigentliche Problem sind weniger die 8,50 Euro, sondern dass durch die Mindestlohnkontrollen zwar kein Verstoß gegen das Mindestlohngesetz festgestellt wird, sehr wohl aber ein anderer Rechtsverstoß: Die Umgehung bzw. Nicht-Beachtung des Arbeitszeitgesetzes mit den dort normierten Regelungen Höchstarbeitszeiten betreffend.

Wem das alles zu trocken ist, dem sei hier die folgende Reportage zum Anschauen empfohlen:

Das Mindestlohn-Experiment: Eine erste Bilanz (29.06.2015, 22.00 – 22.45 Uhr, WDR-Fernsehen)
Der Mindestlohn gilt – flächendeckend, unbegrenzt. Das jedenfalls behauptet die Politik. Wir ziehen eine erste Bilanz des größten sozialpolitischen Experiments seit den Hartz-Reformen.
Unsere ReporterInnen besuchen Arbeitnehmer und Arbeitgeber, aber auch Gewerkschaften und Behörden. Und: Wir begleiten einen Arbeitssuchenden auf seiner Bewerbungstour durch Nordrhein-Westfalen. Der gelernte Koch nimmt jeden Job an, den er kriegen kann. Egal, ob als Kurierfahrer, Reinigungskraft oder Tankstellen-Aushilfe. Wer zahlt den Mindestlohn? Wer zahlt ihn nicht? Denn genau darum geht es.

Wie der Mindestlohn mit der altehrwürdigen Gesellschaft bürgerlichen Rechts unterlaufen wird. Und warum es trotz Mindestlohn immer mehr deutschen Spargel gibt

Es ist schon deutlich ruhiger geworden um das Thema Mindestlohn, vor allem hinsichtlich der anfangs gerne von den Medien aufgegriffenen apokalyptischen Ausblicke in eine Welt der Beschäftigungsverluste. Aber man sollte sich dieser die Medienlandschaft leider weitgehend dominierenden Themenhopperei nicht anschließen, sondern konnsequent weiter beobachten, was auf dem Arbeitsmarkt passiert oder eben nicht passiert.

Wie Arbeitgeber den Mindestlohn umgehen – eine solche Fragestellung war einige Wochen nach Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes zum 1. Januar 2015 überaus beliebt und von großem Interesse für die Medien. Dabei konnte und musste man darauf hinweisen, dass wir schon seit vielen Jahren zahlreichen Versuche und reale Ausformungen der Umgehung kennen, denn in bestimmten Branchen gibt es schon seit längerem so genannte Branchen-Mindestlöhne. Der Bau wäre so ein Bereich, aber auch die Gebäudereinigung oder die Altenpflege. Und im Bau ist der Mindestlohn nicht nur deutlich höher als der neue gesetzliche Mindestlohn, sondern hier sind wir seit eh und je konfrontiert mit einer teilweise ganz erheblichen kriminellen Energie, was das Unterlaufen solcher Standards angeht, nur um noch billiger anbieten zu können bzw. noch höhere Renditen abzuschöpfen.

Mit Tricks versuchen Arbeitgeber, Mindestlohn und Sozialabgaben zu umgehen. Ein beliebtes Mittel ist die Gründung von Gesellschaften bürgerlichen Rechts. Ihre Zahl soll seit Einführung des Mindestlohns verstärkt gestiegen sein, so Thomas Öchsner in seinem Artikel Wie der Mindestlohn unterlaufen wird. »Sie arbeiten auf Baustellen, als Ausbeiner in Schlachthöfen oder als Lkw-Fahrer. So, wie sie dabei ihr Geld verdienen, sind sie eigentlich Arbeitnehmer. Auf dem Papier sind sie aber als Selbständige etikettiert.« Es geht also um Scheinselbständige. Für den Auftraggeber, der in Wirklichkeit Arbeitgeber ist, handelt es sich um eine überaus angenehme Konstellation: Er muss keine Sozialabgaben abführen, er muss keinen Kündigungsschutz beachten. Und er muss sich auch keinen Kopf machen über die Einhaltung gesetzlicher oder branchenspezifischer Mindestlohnregelungen, denn die gelten für Selbständige ja nicht.
Und die Zahl an Scheinselbständigen, die sich in sogenannten Gesellschaften bürgerlichen Rechts (GbR) verbergen, scheint offensichtlich immer beliebter zu werden, auch und gerade vor dem Hintergrund einer angestrebten Vermeidung der Einhaltung von Mindestlohnbestimmungen. Das ist schon bemerkenswert, handelt es sich doch bei der GbR um ein echtes Traditionsstück in der deutschen Rechts- und Unternehmenslandschaft. Die Gesellschaft bürgerlichen Rechts (auch als BGB-Gesellschaft bezeichnet) ist ein Zusammenschluss von mindestens zwei Gesellschaftern (natürlichen oder juristischen Personen), die sich durch einen Gesellschaftsvertrag gegenseitig verpflichten, die Erreichung eines gemeinsamen Zwecks in der durch den Vertrag bestimmten Weise zu fördern (§ 705 BGB). Eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts ist die ursprüngliche und einfachste Form und damit die Mutter oder der Vater der Personengesellschaft.

Das kennen wir gerade aus dem Baubereich (aber auch beispielsweise aus den Untiefen der deutschen Fleischwirtschaft) schon seit vielen Jahren: Normalerweise treten vermeintliche Selbständige, die häufig aus den neuen EU-Mitgliedstaaten in Osteuropa kommen, als Einzelunternehmer auf. Dazu melden sie sich in Deutschland als Gewerbetreibende an. Nun wird dem einen oder der anderen an dieser Stelle sofort die Frage kommen, wie die denn das schaffen, so ganz ohne Sprachkenntnisse und ohne den rechtlichen Hintergrund, oftmals auch ohne einen festen Wohnsitz hier in Deutschland. Öchsner dazu in seinem Artikel: „Nicht selten werden sie bei der Anmeldung zu Gewerbetreibenden von deutschen Auftraggebern unterstützt, die von den günstigen Arbeitsleistungen profitieren möchten“, heißt es bei der Deutschen Zoll- und Finanzgewerkschaft. Es überrascht an dieser Stelle nicht wirklich, dass sich organisierte Strukturen mit Vermittlern und/oder Rechtsanwälten und Steuerbüros herausgebildet haben, die die Formalitäten der Firmengründung übernehmen als auch die Verbindungen zu deutschen Auftraggebern herstellen.

In dieser eigenen Welt, die auf Betrug angelegt ist, nutzt man de GbR als Hülle, wenn mehrere dieser „Einzelunternehmer“ sich zusammenschließen wollen bzw. müssen, um darüber ihre Scheinselbständigkeit zu verschleiern. Was dabei rauskommt? »Dann sind alle Mitarbeiter Gesellschafter, keiner Arbeitnehmer, und einer ist in Wahrheit der Chef.«
Es sind in der Regel ausländische Arbeitnehmer, oft aus Bulgarien oder Rumänien, die unter diese Hülle getrieben werden.

Aus den Reihen des Zolls werden Stimmen laut, die einen Anstieg der GbR-Gründungen seit Einführung des Mindestlohnes meinen erkennen zu können, einen statistischen Nachweis gibt es hier nicht und der wäre nicht nur allgemein nötig, sondern auch branchenspezifisch, denn im Baubereich gab es ja schon lange vor dem 1. Januar dieses Jahres einen, zudem höheren branchenspezifischen Mindestlohn. Öchsner dazu: »Angaben des Statistischen Bundesamtes zeigen nur, dass die Zahl solcher Gesellschaften seit der EU-Osterweiterung 2004 schrittweise auf mehr als 200.000 zugenommen hat.« Aber darunter können und werden auch viele ganz normale GbRs sein.
„Das Problem für die Ermittler dabei ist, herauszufinden, ob hinter einer solchen Gesellschaft kriminelle Machenschaften stecken“, so Martin Schinke, Vorsitzender bei der Bezirksgruppe Zoll der Gewerkschaft der Polizei (GdP), der von Öchsner zitiert wird. „Da reicht die Kontrolle der Ausweise auf der Baustelle eben nicht. Da sind Ermittlungen der Hintergründe notwendig, und dafür fehlt leider oft die nötige Zeit.“
Die bösen Kontrollen, gegen die die Mindestlohn-Gegner in den vergangenen Wochen Amok gelaufen sind, nachdem sich bislang ihre Horrorprognosen über Massen an Arbeitslosen durch die gesetzliche Lohnuntergrenze nicht bewahrheitet haben.
Zu den apokalyptischen Reitern in der Mindestlohndebatte gehören auch die Funktionäre aus dem Bereich der Landwirtschaft, die ein großes Wehgeklage angestimmt haben, nach dem der deutsche Spargel nun wirklich keine Zukunft mehr haben wird, denn das mit dem Mindestlohn werde den deutschen Spargelbauern den Todesstoß versetzen, auch wenn es sogar einen abgesenkten Mindestlohn gibt für die Saisonarbeiter und auch Kost und Logis angerechnet werden kann.
Vor diesem Hintergrund muss man hellhörig werden, wenn man in der Print-Ausgabe der FAZ vom 24.06.2015 dem Artikel „Der Spargel wird immer deutscher“ die Information entnehmen kann: 80 Prozent der verkauften Stangen kommen heute aus heimischer Produktion. Seit dem Jahr 2000 hat sich die heimische Fläche für Spargel knapp verdoppelt, die Menge legte sogar noch etwas stärker zu, berichtet das Statistische Bundesamt. Man sei mit dem Absatz zufrieden. Aber natürlich darf der Mindestlohn trotzdem nicht fehlen, auch wenn man ihn nicht unmittelbar für irgendwelchen negativen Entwicklungen haftbar machen kann. Und die Äußerungen aus der Verbandslandschaft sind bezeichnend:

»Neue Vorzeichen und einen möglichen Preistreiber für das Gemüse gibt es mit dem Mindestlohn. Dabei sind den Spargelbauern vor allem bürokratische Vorgaben und Dokumentationspflichten ein Ärgernis. „Das ist in der Hektik der Ernte ein Problem“, sagt der im Bauernverband für Sozialpolitik zuständige Geschäftsführer Burkhard Möller. Zudem wollten viele Saisonkräfte mehr arbeiten, dürfen es wegen der Grenzen und strikter Aufzeichnungspflichten aber nicht. „Das stößt bei den Arbeitnehmern auf viel Kritik und Unverständnis“, sagt Möller.
Ein anderes Problem sei die Pflicht, den Lohn spätestens Ende des nächsten Monats auszuzahlen. Denn viele ausländische Helfer wollten am liebsten am Einsatzende Bargeld, da sie hier kein Konto haben.«

Auch an dieser Stelle muss erneut der Hinweis darauf gegeben werden, dass man sich hier nicht wirklich über die Höhe des Mindestlohnes aufregt und auch nicht über das Mindestlohngesetz an sich, sondern weil mit der Dokumentationspflicht die Arbeitszeiten betreffend ein Fundamentalproblem mit dem Arbeitszeitgesetz offenbar wird, ein Problem, das wir beispielsweise auch im Bereich Hotel und Gaststätten beobachten müssen. 
Bleibt die frohe Botschaft: Auf im kommenden Jahr wird es ganz viel deutschen Spargel geben, wenn man denn das Zeug mag.

Löhne in den Schlachthäusern treffen sich mit Gagen in den Musentempeln der Hochkultur. Also weit unten. Zu den Folgen einer mindestens halbierten „Ökonomisierung“

„Ökonomisierung“ ist bekanntlich zu einem bei vielen Menschen negativ besetzten Begriff geworden. Dabei ist der wie so viele andere Begriffe auch erst einmal mindestens ambivalent, nicht nur einseitig schlecht. Wenn damit ausgedrückt wird, dass angesichts knapper Ressourcen etwas besser, schneller und günstiger gemacht wird als bislang, dann ist das durchaus positiv und Verbesserung. Und uns fallen sicher viele Beispiele ein, wo der Schlendrian haust und gerne Mittel, die andere aufbringen müssen, also Steuern und Sozialversicherungsbeiträge, verpulvert werden.

In vielen sozialpolitischen Bereichen hingegen ist der Terminus „Ökonomisierung“ zu einem Schreckensbegriff mutiert, wird er doch verbunden mit Arbeitsverdichtung, Controlling-Wahn und immer wieder auch Lohndumping. Ein genauerer Blick auf die Sachverhalte würde aufzeigen können, dass es dabei in aller Regel gar nicht um Ökonomisierung im eher technisch-prozeduralen Sinne einer Effizienzsteigerung geht, sondern schlicht um die Tatsache, dass budgetierte Systeme mit einem sehr hohen Personalkostenanteil und einer inneren Rationalisierungsbremse – man denke hier an die Pflege oder die Bildungs- und Betreuungsleistungen in Kitas und Tagespflege oder die Familienberatung, um nur einige wenige Beispiele zu nennen – konfrontiert sind mit zumeist planwirtschaftlich daherkommenden Steuerungsversuchen, die dann oftmals im Ergebnis nicht nur zu weniger „Qualität“ führen, sondern zuweilen den ganzen Gegenstand zerstören.

Wie in einem Lehrbuch kann man das, was damit gemeint ist, studieren an einem Bereich, an den die wenigsten Menschen denken, wenn sie über Lohndumping nachdenken (müssen): Die deutsche Theater- und Orchesterlandschaft mit ihren mehr als 150 öffentlich-rechtlichen Häusern.

»Mit immer weniger Personal wird, bei immer weiter sinkenden Honoraren für die Künstlerinnen und Künstler, immer mehr produziert. Konkret wurden über 6000 Stellen abgebaut. Der Reallohn eines Schauspielensemblemitglieds hat sich nahezu halbiert. Gleichzeitig hat sich die Zahl der freien Verträge verdreifacht. Die Spirale des Gagen-Dumpings dreht sich immer weiter.«

So kompakt hämmert Daniel Ris den Befund in die Tasten. Er hat den Beitrag In der Spirale des Gagen-Dumpings veröffentlicht, dem diese Zeilen entnommen sind. Daniel Ris ist Schauspieler, Regisseur und Autor. Er hält einen „Executive Master in Arts Administration“ der Universität Zürich und hat vor kurzem die Arbeit „Unternehmensethik für den Kulturbetrieb“ veröffentlicht.

Lesen wir weiter in den Ausführungen von Daniel Ris:

»Der Mindestlohn den der Deutsche Bühnenverein mit der Gewerkschaft der Deutschen Bühnenangehörigen ausgehandelt hat, beträgt 1650 Euro brutto. An vielen Häusern ist dieser Mindestlohn mittlerweile der Einheitslohn für alle außerhalb der Kollektive von Chören und Orchestern künstlerisch Tätigen geworden.«

Er weist darauf hin, dass auch auf der kulturpolitischen Seite die Ökonomisierung angekommen ist, allerdings in einer sehr reduzierten Art und Weise, die wir auch in vielen sozialpolitischen Handlungsfeldern tagtäglich erleben müssen:

Die »Kulturpolitik beschäftigt sich in ihren Zielvereinbarungen vielerorts ausschließlich mit ökonomischen Parametern; mit Besucherzahlen, der Anzahl der zu produzierenden Premieren und der Aufforderung zur Steigerung des Eigenfinanzierungsanteils der Theater. Das ist nichts anderes als eine Kommerzialisierungsforderung. Und vielen Häusern bleibt ohnehin gar nichts anderes übrig. Denn bei eingefrorenen Etats und gleichzeitig steigenden Tariflöhnen der im öffentlichen Dienst befindlichen nichtkünstlerischen Mitarbeitenden entsteht ein sogenanntes “strukturelles Defizit“.«

Die Folgen sind fatal wie unausweichlich in der Systemlogik begründet:

»Die Theater müssen also einerseits an der Kunst sparen, denn nur dort geht es ja, und andererseits die Einnahmen erhöhen. Oder man baut, wie derzeit in Rostock, gleich ganze Sparten ab.«

Aber Daniel Ris geht in seiner Argumentation einen Schritt weiter und seziert die Theater- und Orchesterlandschaft: Er diagnostiziert eine tiefe Verwurzelung des Prinzips “Vorne hui – hinten pfui“, das man ja auch aus anderen Handlungsfeldern und Institutionen zur Genüge kennt.

»Die auf der Bühne oft nachdrücklich eingeforderten Grundwerte von Menschenwürde, Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit werden im streng hierarchischen Theaterbetrieb kaum in ausreichendem Maß gelebt. Konkret gilt beispielsweise seit 2006 das allgemeine Gleichbehandlungsgesetz. Aber an vielen Theatern verdienen gleich qualifizierte Mitarbeiterinnen, auf und hinter der Bühne, immer noch deutlich weniger als ihre männlichen Kollegen.«

Die Theater und Orchester stecken im »Hamsterrad der zunehmenden Ergebnisorientierung ihrer Arbeit«. In der Angst davor sich angreifbar zu machen, und am Ende dann vielleicht doch ganz weggespart zu werden, kämpfen die Theater um den Erhalt des Systems – ein System, das sie aus einer ganz zwangsläufigen Logik heraus immer stärker in eine strukturelle Schieflage bringen muss und eine seit Jahren beobachtbare Auszehrung der Substanz zur Folge hat. Dem etwas entgegenzusetzen – Daniel Ris spricht hier von „Kulturpolitik muss wieder als Gesellschaftspolitik verstanden werden“ – kann nur dann funktionieren, wenn sich Politik, in diesem Fall Kulturpolitik aus den systematischen Fängen einer Reduktion von Ökonomisierung auf Kennzahlenklamauk und aus der Umarmung durch die Kommerzialisierung befreien würde – mit einer politischen Entscheidung für oder gegen etwas. Die Chancen dafür sind überschaubar, um optimistisch zu enden.

Die Aufregung über den gesetzlichen Mindestlohn scheint langsam hinter den Kulissen zu verschwinden. Ein besonderer Grund, erneut hinzuschauen

Auf der einen Seite war das ja zu erwarten gewesen – nach der anfänglich nicht nur aufgeregten, sondern stellenweise apokalyptisch daherkommenden Debatte über die bestimmt schlimmen Folgen des gesetzlichen Mindestlohns ist mittlerweile, nach der definitiven Feststellung, dass die meisten noch am Leben und sogar noch weitere dazugekommen sind, eine eigenartige, weil scheinbare Beruhigung eingekehrt. Das liegt nun sicher auch an der Tatsache, dass sich die Medien bereits auf neue Themen gestürzt und den Mindestlohn hinter sich gelassen haben, vor allem, weil es nicht zu den von zahlreichen Kritikern im Vorfeld in Aussicht gestellten dramatischen Arbeitsmarktszenen gekommen ist. Da berichtet man dann lieber über verzweifelte Eltern im Angesicht des Kita-Streiks oder die verwundbare „Amazon“-Gesellschaft, wenn die Paketzusteller der Deutschen Post DHL in den Ausstand treten. Hin und wieder wird das Thema erneut angerissen – so in Artikeln über die derzeitige Spargel-Ernte (die es nach den Vorhersagen einiger Kritiker des Mindestlohns eigentlich betriebswirtschaftlich gesehen gar nicht mehr geben dürfte) bis hin zu teilweise skurrilen Ausführungen wie denen von Dietrich Creutzburg in seinem Artikel Vernichtet der Mindestlohn die Spreewaldgurke?  Liest man den Beitrag genau, dann wird einem an mehreren Stellen klar, dass die Probleme derjenigen, die die Spreewaldgurke anbauen und verarbeiten, vielgestaltig sind und der Mindestlohn sicher nicht das Hauptproblem darstellt. Auch wenn die anfänglich partiell nur als hysterisch zu bezeichnende Debatte über den Mindestlohn hinter die Kulissen zu verschwinden scheint, zeigt ein genaueres Hinschauen einige Baustellen, mit denen man sich beschäftigen muss.

Derzeit können mindestens fünf mehr oder weniger große Baustellen identifiziert werden:

1. Die These vom „Bürokratiemonster“


In Teilen der Wirtschaft (und vor allem auf Seiten der Funktionäre aus den Verbänden) läuft man immer noch Sturm gegen bestimmte Folgen, die aus der Einführung eines stundenbezogenen Mindestlohns resultieren – vor allem die Erfassung und Dokumentation der Arbeitszeit. Verdeutlichen wir diese Argumentation am Beispiel der Landwirtschaft und den dort so wichtigen Saisonarbeitern vor allem aus Osteuropa. Dabei muss angemerkt werden, dass dieser Bereich insofern einen Sonderstatus hat, weil der ansonsten fällige Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde hier (noch) nicht gilt, sondern für eine Übergangszeit ein abgesenkter Stundenlohn von 7,40 Euro, wobei übrigens bestimmte Kosten für Unterbringung und Verpflegung sogar noch verrechnet werden können. Thorsten Winter beschreibt in seinem Artikel Da wird der Landwirt zum Papierwirt die Wahrnehmung eines Teils der Unternehmen:

„Was uns stört, ist die Zettelwirtschaft“, heißt es beim Anbieter Wetterauer Früchtchen in Münzenberg. Bauernpräsident Friedhelm Schneider spricht sogar von einem „Bürokratiemonster“. Denn nun müssten auch Familienbetriebe für alle Erntehelfer, die Kost und Logis als Sachleistung erhielten, Miet- und Bewirtungsverträge abschließen.
Zudem sei die Auszahlung regelmäßig zu quittieren, obwohl Saisonarbeiter aus Sicherheitsgründen ihr Geld lieber zur Abreise hätten. Praxisfern sei die Pflicht, Arbeitszeiten aufzuzeichnen und Familien vorzuschreiben, wie diese helfende Verwandte zu entlohnen hätten. „Es kann doch nicht Ziel sein, uns Landwirte von unserer eigentlichen Tätigkeit, der Nahrungsmittelerzeugung, abzuhalten“, hat Schneider Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) per Brief wissen lassen.
Und die Chefin des Landfrauenverbands, Hildegard Schuster, mahnt: „Der Landwirt ist doch kein Papierwirt.“

Es gibt allerdings auch zahlreiche andere Stimmen, dazu beispielsweise der Artikel Berliner Gastgewerbe hat kaum Grund zur Klage von Nick Kaiser. Hier müsste was zu finden sein, denn nach Angaben es IAB ist Anteil der vom Mindestlohn betroffenen Betriebe deutschlandweit im Gastgewerbe mit rund 30 Prozent besonders groß. »In Berlin bleiben in der Gastronomie und Hotellerie bislang allerdings größere finanzielle Auswirkungen der neuen Lohnuntergrenze von 8,50 Euro pro Stunde aus, wie eine Umfrage der Deutschen Presse-Agentur ergab«, so Kaiser. Er liefert einige Zitate aus Nachfragen bei den Betrieben:

„Für uns hat der eingeführte Mindestlohn und die dazugehörige Dokumentation momentan keine direkte Auswirkung“, sagte Jana Seifert, die Geschäftsführerin der „Arena“ in Treptow, zu der das im Sommer beliebte „Badeschiff“ gehört …
Am „Beach Mitte“, der nach Angaben der Betreiber größten innerstädtischen Strandfläche Europas, gibt es neben zahlreichen Beachvolleyballplätzen auch einen großen Gastronomiebereich. Auch hier seien „keine nennenswerten Änderungen“ durch den Mindestlohn festzustellen, erklärte ein Sprecher.

Anders wieder die Verbandsebene: »Der Deutsche Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) gehört zu den schärfsten Kritikern des Mindestlohns. Nach Angaben des Hauptgeschäftsführers des Dehoga Berlin, Thomas Lengfelder, sind nicht etwa gestiegene Personalkosten das Problem, sondern die „bürokratischen Begleiterscheinungen“. Vor allem wegen der Verpflichtung, Arbeitszeiten zu dokumentieren, sei der Unmut sehr groß.« Für diese Position findet sich zumindest ein Zeuge aus dem betrieblichen Bereich: „Die Bürokratie ist abartig, völlig über das Ziel hinaus geschossen“, wird Oliver Winter zitiert, Geschäftsführer der Hostel- und Hotelkette A&O, die mit drei Häusern in Berlin vertreten ist. „Wir verwalten uns mit Stundenzetteln jetzt zu Tode.“

Allerdings trennt sich hier wohl die Spreu vom Weizen, denn: In vielen Unternehmen ist es schon zuvor gang und gebe gewesen, Arbeitszeiten aufzuzeichnen. Dazu zählt auch das bereits erwähnte „Circus“, wie Gesellschafter Hierath erklärte: „Der zusätzliche bürokratische Aufwand für uns geht gegen null, da wir bereits vorher ein elektronisches Zeiterfassungssystem genutzt haben.“
Übrigens: Das Bundesarbeitsministerium hat auf die Kritik reagiert und bietet auf seiner Internet-Seite eine zum Download an. Arbeitnehmer können Sie auf Ihr Handy herunterladen und mit einer Start- und stopft-Taste ihrer Arbeitszeiten erfassen. Pausen können durch anhaltende einberechnet werden. Die so erfassten Zeiten werden dem Arbeitgeber automatisch per Mail zugesandt. Kontrollbehörden akzeptieren diese Konten im Mehl-Postfach des Arbeitgebers. Geht es noch einfacher?

Man muss an dieser Stelle darauf hinweisen: Die Dokumentation von Arbeitszeiten war auch vor der Einführung des Mindestlohns zu Beginn dieses Jahres gesetzlich vorgeschrieben. Neu sind jetzt die im Mindestlohngesetz vorgesehenen hohen Geldstrafen von bis zu 30 000 Euro für Verstöße gegen die Dokumentationspflicht – wenn diese denn kontrolliert werden würden. Das hängt aber wie ein Damoklesschwert über den Betrieben, die gegen die mit den Dokumentationspflichten verbundenen Regelungen verstoßen.

Und damit sind wir bei der zweiten, letztendlich viel größeren Baustelle angelangt.

2. Das eigentliche Problem ist das Arbeitszeitgesetz

Bereits am 22.04.2015 wurde im Beitrag (Schein-)Welten des gesetzlichen Mindestlohns nach seiner Geburt anlässlich der Berichterstattung über eine Demonstration von 5.000 Gastwirten gegen das „Bürokratiemonster“ Mindestlohngesetz ausgeführt: Wenn man genauer hinschaut, dass öffnet sich eine ganz andere Sichtweise auf den eigentlichen Gegenstand des Protestes. Denn der ist weniger bis gar nicht das Mindestlohngesetz und die damit verbundene Auflage, mindestens 8,50 Euro pro Stunde zu zahlen, sondern das Arbeitszeitgesetz, wobei die Verstöße gegen dieses Gesetz in der Vergangenheit oftmals und in der Regel kaschiert werden konnten, nunmehr aber durch die Stundendokumentation der beschäftigten Arbeitnehmer offensichtlich werden, wenn es denn mal eine Kontrolle geben sollte. Franz Kotteder hatte in seinem Artikel 5000 Wirte demonstrieren gegen ausufernde Bürokratie anlässlich der Protestveranstaltung den Punkt getroffen:

»Es geht den Hoteliers und Wirten vielmehr um die Pflicht, die geleistete Arbeitszeit minutiös Woche für Woche aufzulisten und gleichzeitig um die Arbeitszeitgrenzen nach dem schon viel länger geltenden Arbeitszeitgesetz, das maximal zehn Stunden Arbeit pro Tag festschreibt. „Wenn ich eine Hochzeit habe“, so ein Wirt aus Freyung am Rande der Demo, „dann dauert die doch oft zwölf oder gar 14 Stunden – oder auch nicht. Ich müsste dafür also auf Verdacht neue Leute verpflichten, die nach zehn Stunden den Service übernehmen.“«

Sagen wir es in aller Deutlichkeit: Ganz offensichtlich ist es so, dass das Mindestlohngesetz mit der aus ihm resultierenden Verpflichtung, die Arbeitszeiten der Beschäftigten zu dokumentieren, vor allem deshalb als Problem wahrgenommen wird, weil dadurch gleichsam offensichtlich wird, dass man gegen das Arbeitszeitgesetz verstößt. Dann ist aber die Regelung der Beschränkung der Höchstarbeitszeit im Arbeitszeitgesetz das eigentliche „Problem“, nicht aber der Mindestlohn. Der kann nichts dafür, wenn ein anderes Gesetz (bisher) umgangen wurde, was jetzt schwieriger wird, weil mit einem Mindeststundenlohn, der nur dann nachvollziehbar ist, wenn es eine Dokumentation der geleisteten Arbeitsstunden gibt, denn ansonsten kann man den nicht überprüfen. Da beißt die Maus keinen Faden ab.

Wie das bei der Diskussion über das so genannte „Bürokratiemonster“ Mindestlohn munter durcheinander geht, verdeutlicht auch der Artikel unter der sicher nicht unbewusst meinungsstimulierenden Überschrift „Fünf Stunden täglich für den ganzen Papierkram“, der in der Print-Ausgabe der FAZ am 13.05.2015 erschienen ist. in diesem Artikel wird eine Frau zitiert, die in Stuttgart ein Café leitet:

„Jeden Tag jede Stunde festzuhalten: Wer soll das leisten?“ Große Betriebe und Ketten hätten ein System dafür. „Für die Kleinen ist es bitter.“ 25 Mitarbeiter habe das Café … Hinzu kämen andere bürokratische Anforderungen für den Café-Betreiber: Allergiker-Angaben und Vermessungen, etwa von Spülbecken. „Eigentlich müsste man täglich 5 Stunden extra arbeiten für den ganzen Papierkram.“ Der Mindestlohn selbst sei Dank kein Problem für das Stuttgarter Café.

Um es ganz deutlich zu sagen – hier wird alles in einen Topf geworfen und einmal ungerührt. Ohne Zweifel ist es so, dass viele Betriebe, vor allem die kleinen und mittleren Unternehmen, heute zahlreichen bürokratischen und teilweise völlig abstrusen Auflagen unterworfen werden, die das Leben der Inhaber bzw. der Betriebsleiter nicht nur erschweren, sondern oftmals zu einer kafkaesken Veranstaltung werden lassen.  Und es lassen sich ohne weiteres zahlreiche Beispiele für eindringt notwendigen und den entsprechenden willen vorausgesetzt auch realisierbaren Bürokratie-Abbau anführen. Aber nun gerade die Arbeitszeit-Erfassung im Kontext des Mindestlohngesetzes als Paradebeispiel dafür heranzuziehen, das entbehrt nicht nur jeder Grundlage, sondern legt die Vermutung nahe, dass man andere Ziele verfolgen will.

Und auch in diesem Artikel werden wir erneut konfrontiert mit der Tatsache, dass nicht das Mindestlohngesetz, sondern das Arbeitszeitgesetz das zentrale Problem ist: Ein niedersächsischer Spargelbauer wird mit den folgenden Worten zitiert:  Ihn stört vor allem das Arbeitszeitgesetz. „Der Mähdrescher kann nicht aufhören, wenn der Fahrer zehn Stunden gemacht hat“, sagt er.
Es ist richtig, das Arbeitszeitgesetz sieht eine tägliche Arbeitszeitgrenze von zehn Stunden vor.  Allerdings können Betriebe ihre Mitarbeiter in Ausnahmefällen 12 Stunden pro Tag arbeiten lassen, wenn Sie dies vorher beantragen. Dies muss von den Aufsichtsbehörden der Länder genehmigt werden. Nach einem Beschluss der Arbeits- und Sozialministerkonferenz Mitte April dieses Jahres können diese Ausnahmen zudem leichter erteilt werden.

Fazit zu diesem Teil: Wenn schon die Betriebe und ihre Verbände hier Amok laufen gegen das Mindestlohngesetz, dann sollten Sie so ehrlich sein, und das richtige Gesetz adressieren, also das Arbeitszeitgesetz. Also, Visier nach oben klappen und der Politik offen gegenübertreten, dass man längere Arbeitszeiten haben möchte. Darüber kann man dann ja offen streiten.

3. Die angebliche „Zerstörung“ der Minijobs

Die Kritiker des Mindestlohns haben im Vorfeld der Einführung der Lohnuntergrenze immer wieder und voller Vehemenz davor gewarnt, dass es zu erheblichen Beschäftigungsverlusten nach der Einführung kommen würde. Mehr als 900.000 Arbeitsplätze, die verloren gehen werden, wurden damals in den Raum gestellt, beispielsweise von dem Münchener ifo-Institut für Wirtschaftsforschung. Allerdings haben alle seriösen Bilanzierung der ersten 100 Tage des gesetzlichen Mindestlohns gezeigt, dass es ganz im Gegenteil zu den Vorhersagen nicht zu den negativen Beschäftigungseffekten gekommen ist, sondern die Beschäftigung in Deutschland ist weiter deutlich angestiegen. Vor diesem unerfreulichen Hintergrund für die Kritiker musste deren Argumentationslinie verhindert werden und man hat sich, neben der Argumentation, dass die großen Beschäftigungsverluste erst mit einer gewissen Zeitverzögerung eintreten werden, darauf fokussiert, die rückläufige Zahl an Minijobbern gleichsam als „Beweis“ für die schädlichen Folgen des gesetzlichen Mindestlohns der Öffentlichkeit zu präsentieren.

Ein trauriges Beispiel dafür ist beispielsweise diese Meldung aus der WirtschaftsWoche vom 15. Mai 2015: Mindestlohn kostete allein im Februar 136.000 Mini-Jobs. Ohne irgend eine notwendige Ergänzung wie beispielsweise vermutlich oder geschätzt oder vielleicht. Der Artikel bezieht sich dabei auf Aussagen des Präsidenten des Zentrums für Europäische Wirtschaftsforschung, Clemens Fuest, der auch Mitglied der Mindestlohnkommision des Bundes ist. Wie kommt er darauf? Welche Belege kann er vorweisen? Nichts, gar nichts.

Der gleiche Versuch wurde bereits vor einiger Zeit versucht. So beispielsweise von Dietrich Creutzburg in seinem Artikel „Der Mindestlohn vernichtet Minijobs“ in der Online-Ausgabe der  FAZ vom 26.03.2015. Der bezog sich auf die Veröffentlichung Hundert Tage Mindestlohn: Unternehmen unter Anpassungsdruck von Andreas Knabe und Ronnie Schöb, die im Auftrag der Lobbyorganisation Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM) erstellt wurde. Creutzburg schrieb damals:

»Die Zahl der Minijobs geht neuerdings stark zurück. Für den Monat Januar zählte die zuständige Meldestelle, die Minijobzentrale, bundesweit 255.000 geringfügige Beschäftigungsverhältnisse weniger als noch für Dezember. Die Gesamtzahl der Minijobs im gewerblichen Sektor ging damit um fast 4 Prozent auf 6,6 Millionen zurück. Zwar gibt es zum Jahreswechsel oft einen Rückgang: Von Dezember 2013 auf Januar 2014 sank die Zahl um 91.000. Nun aber ist der Rückgang fast dreimal so stark. Das könnte bedeuten, dass der zum 1. Januar eingeführte Mindestlohn mehr als 150.000 Minijobs vernichtet hat.«

Creutzburg schreibt wenigstens noch von „könnte bedeuten“ – die mit der Erstellung des so genannten Frühjahrsgutachtens beauftragten Wirtschaftsforschungsinstitute waren da weniger zimperlich:

»Der seit Anfang 2015 geltende gesetzliche Mindestlohn vernichtet nach Einschätzung der führenden Wirtschaftsforscher im laufenden Jahr bis zu 220.000 Minijobs in Deutschland. Dieser Trend habe sich in Erwartung der Lohnuntergrenze von 8,50 Euro pro Stunde schon im Herbst gezeigt und im Januar dann stark beschleunigt. In der Summe seien – bereinigt um saisonale Schwankungen – in dem Bereich bereits rund 120.000 Menschen weniger beschäftigt, sagte der Konjunkturchef des Ifo-Instituts, Timo Wollmershäuser, am Donnerstag bei der Vorstellung des Frühjahrsgutachtens in Berlin. Im Jahresverlauf werde die Zahl der geringfügigen Beschäftigten (450-Euro-Jobs) dann um insgesamt etwa 220.000 sinken.« (Quelle: Rhein-Zeitung, 17.04.2015, S. 7)

Das ist – vorsichtig formuliert – eine mutige Interpretation der vorliegenden Daten. Denn das die Arbeitsplätze verloren gegangen sind, könnte so sein. Das muss es aber nicht zwangsläufig bedeuten. »Offen ist, was aus den Betroffenen wurde. Ob die Minijobs in reguläre Stellen umgewandelt wurden oder wegfielen, lasse sich aus den Zahlen noch nicht ablesen«, so Dietrich Creutzburg die Minijob- Zentrale zitierend. Es kann und wird in einem bislang allerdings noch nicht bestimmbaren Umfang zu einer Verschiebung von der bisherigen geringfügigen in den teilzeitigen
sozialversicherungspflichtigen Beschäftigungsbereich gekommen sein oder aber eine Aufstockung der Arbeitszeit bei anderen in den Unternehmen Beschäftigten bei Wegfall des Minijobs.

Interessante Hinweise, die in diese Richtung gehen, kann man in dem Artikel Mindestlohn wirkt anders als gedacht von Eva Roth finden: Der Mindestlohn hat im Einzelhandel überraschende Auswirkungen: In einigen Supermärkten werden zusätzliche Minijobber eingestellt – wegen des Mindestlohns, schreibt sie in ihrem Beitrag. Und den hätte der Herr Fuest mal lesen sollen:

»Die Handelsgesellschaft Edeka Hessenring hat im Januar die Gehälter ihrer Minijobber erhöht – und genau deswegen stellt sie nun zusätzliche Beschäftigte ein. Edeka Hessenring ist in der Gegend um Fulda, Kassel, Erfurt und Göttingen für 49 Edeka-Verbrauchermärkte mit rund 8000 Beschäftigten zuständig.
Etwa 1.700 bis 1.900 der Angestellten sind Minijobber, die die Regale einräumen, putzen und aufräumen. Ihre Stundenverdienste seien durch den Mindestlohn um rund einen Euro gestiegen, sagt Hans-Richard Schneeweiß, Geschäftsführer von Edeka Hessenring. Dadurch entstand folgendes Problem: Wenn die Leute weiter wie bisher gearbeitet hätten, wären sie über die monatliche Verdienstschwelle von 450 Euro gekommen, die ein Minijobber maximal verdienen darf. Viele Rentner, Schüler und Studenten wollten aber laut Schneeweiß Minijobber bleiben. Also hat das Unternehmen ihre Arbeitszeit verkürzt, damit sie nicht über die Verdienstschwelle kommen. Die Arbeit ist aber nicht weniger geworden. Deshalb will Schneeweiß insgesamt 150 bis 200 zusätzliche Minijobber einstellen, bis Ende Februar seien bereits 60 neue Leute angeheuert worden.«

Also mehr (statt weniger) Minijobber einzustellen ist eine Art und Weise, mit den Mindestlohnauswirkungen umzugehen. Daneben gebe es noch zwei andere typische Reaktionen.

»Manche Unternehmen haben demnach die Arbeitszeit der Leute belassen, dadurch sind ihre monatlichen Verdienste über die Schwelle von 450 Euro gestiegen. Die Händler haben deswegen die Stellen in sozialversicherungspflichtige Arbeitsplätze umgewandelt … Diese Variante ist offenbar relativ häufig praktiziert worden … Die Umwandlung von Minijobs in reguläre Stellen hat für Unternehmen einen Vorteil: Sie müssen weniger Abgaben entrichten. Bei einem Minijob zahlt der Arbeitgeber rund 30 Prozent Sozialbeiträge, der Beschäftigte nur knapp vier Prozent. Bei einer voll sozialversicherungspflichtigen Stelle beträgt der Arbeitgeber-Anteil nur rund 20 Prozent. Etwa den gleichen Beitrag müssen Beschäftigte von ihrem Bruttogehalt an die Renten-, Kranken- und Arbeitslosenversicherung abführen.«

An dieser Stelle wird auch erkennbar, dass die bisherigen „Wettbewerbsvorteile“ der Minijobs aus Arbeitgebersicht durch den Mindestlohn verändert worden sind zuungunsten der geringfügigen Beschäftigung:

»Früher waren die Minijobs für Unternehmen trotz der höheren Abgaben kostengünstig, weil die Stundenlöhne sehr niedrig waren, und oft nur bei sechs oder sieben Euro lagen. Beschäftigte wiederum haben die geringe Entlohnung häufig deshalb akzeptiert, weil sie fast keine Abzüge hatten und – anders als regulär Beschäftigte – kaum Steuern und Sozialbeiträge entrichten mussten.«

Es wird noch von einer weiteren Reaktion berichtet: In manchen Unternehmen hat der Mindestlohn zu Outsourcing geführt: Händler hätten Minijobber entlassen und Tätigkeiten wie das Regale-Einräumen an externe Firmen vergeben.

Fazit: »Von einem massiven Jobabbau durch den Mindestlohn, wie ihn führende Ökonomen vorhergesagt haben, ist im Einzelhandel derzeit also keine Rede«, so Eva Roth am Ende ihres Beitrags.

4. Anschwellende Detailfragen und ihr Aufschlagen in der Welt der Rechtsprechung

Natürlich ist es keine wirkliche Überraschung, dass ein derart viele Arbeitsverhältnisse und damit eben auch unterschiedliche Fallkonstellationen betreffende gesetzliche Regelung wie der Mindestlohn zu Definitions- und Abgrenzungsfragen führt, die oftmals letztendlich von der Rechtsprechung geklärt werden müssen.  Mit Blick auf den folgenden Fall bzw. die neue Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts muss hinzugefügt werden, dass wir bereits seit mehreren Jahren über unterschiedliche Branchen-Mindestlöhne verfügen, wo es auch immer wieder Unklarheiten gibt, die am Ende nur durch eine richterliche Entscheidung einer vorläufigen Klärung zugeführt werden können.

»Mindestlöhne gelten auch an Feiertagen und bei Krankheit. Das hat das Bundesarbeitsgericht entschieden. Das Urteil betraf zwar noch nicht den seit Jahresbeginn geltenden allgemeinen Mindestlohn, dürfte aber übertragbar sein«, so Christian Rath in seinem Artikel anlässlich einer Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts, bei der es allerdings nicht um den seit Januar dieses Jahres geltenden gesetzlichen Mindestlohn ging, sondern um den Branchen-Mindestlohn für pädagogische Fachkräfte in der Weiterbildung.
Zum Sachverhalt berichtet das Bundesarbeitsgericht in seiner Pressemitteilung Mindestlohn für pädagogisches Personal auch bei Entgeltfortzahlung an Feiertagen und bei Arbeitsunfähigkeit:

»Die Klägerin war bei der Beklagten als pädagogische Mitarbeiterin beschäftigt. Sie betreute Teilnehmer in Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen nach dem SGB II und SGB III. Das Arbeitsverhältnis unterfiel kraft „Verordnung über zwingende Arbeitsbedingungen für Aus- und Weiterbildungsdienstleistungen nach dem Zweiten oder Dritten Buch Sozialgesetzbuch“ (MindestlohnVO) des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales dem Geltungsbereich des Tarifvertrags zur Regelung des Mindestlohns für pädagogisches Personal vom 15. November 2011 (TV-Mindestlohn). Dieser sah eine Mindeststundenvergütung von 12,60 Euro brutto vor. Die Beklagte zahlte zwar für tatsächlich geleistete Arbeitsstunden und für Zeiten des Urlaubs diese Mindeststundenvergütung, nicht aber für durch Feiertage oder Arbeitsunfähigkeit ausgefallene Stunden. Auch die Urlaubsabgeltung berechnete sie nur nach der geringeren vertraglichen Vergütung.«

Die Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts fiel eindeutig aus: »Auch für Feiertage und bei Krankheit muss der Mindestlohn bezahlt werden. Schließlich verlange in beiden Fällen bereits das Entgeltfortzahlungsgesetz, dass der Beschäftigte das bekommt, was „er ohne den Arbeitsausfall erhalten hätte“. Dies gelte auch dann, wenn sich das Entgelt nach einer Mindestlohnregelung richte, betonte das Bundesarbeitsgericht«, so Rath in seinem Artikel.
Dies ist nur ein Beispiel für das, was uns noch bevorstehen wird.

5. Die Mindestlohnkommission. War da nicht mal was?

Natürlich muss es  am Anfang eines derart umfangreichen und völlig unterschiedliche Fallkonstellationen umfassenden Gesetzes zu zahlreichen Fragen und sicherlich auch Problemstellungen kommen, die dann, wenn sie auftreten, einer nüchternen Analyse und Bewertung unterworfen werden sollten. Bereits lange vor der Einführung des gesetzlichen Mindestlohnes habe ich dafür plädiert, die Mindestlohnkommission von Anfang an gerade zu diesen dann auftretenden strittigen Fällen sowie mit Blick auf eine differenzierte Arbeitsmarkteinschätzung der neuen Lohnuntergrenze unter Volllast arbeiten zu lassen. Daraus ist bekanntlich nichts geworden. Nur wenige Monate nach dem offiziellen Start der Kommission hatte ihr Vorsitzender Henning Voscherau Anfang April aus gesundheitlichen Gründen das Amt niederlegen müssen. Bislang ist noch kein Nachfolger bzw. keine Nachfolgerin in Sicht. Auch die wenigen Stellen für die Geschäftsstelle, die der Mindestlohnkommission zur Verfügung gestellt wurden, sind derzeit noch nicht besetzt, von einer Arbeitsfähigkeit der Kommission kann also in keiner Art und Weise die Rede sein. Das ist gerade in dieser Phase weit mehr als nur eine ungute Situation (vgl. zu diesem Thema den Artikel mit der bezeichnenden Überschrift Mindestlohn ohne Expertise). Damit werden grundsätzlich mögliche Chancen vergeben.

Foto: © Stefan Sell