Neuer alter Tarifvertrag für die Leiharbeit – über sozialpartnerschaftlichen Pragmatismus und Mindest-Mindestlohnrhetorik

Nach mehrmonatigen Verhandlungen zwischen den Gewerkschaften und den Verbänden der Leiharbeitsbranche ist die Katze aus dem Sack: „Leiharbeit: Löhne steigen, Abstand zwischen West und Ost sinkt„, so der DGB in seiner Pressemitteilung. Das hört sich ordentlich an. Und von Holger Piening, der stellvertretende Verhandlungsführer auf der Gegenseite, wird der Ausspruch berichtet: „Ich freue mich, dass es gelungen ist, noch vor der Bundestagswahl ein tragfähiges Verhandlungsergebnis zu erzielen“. Die Bundesarbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) verfällt gar in eine wahre Jubelarie, wenn sie von einem „überragenden“ Schritt in der Mindestlohndebatte spricht. Was ist denn hier passiert? Welchen Durchbruch können und dürfen wir feiern für eine Personengruppe, die seit einigen Jahren im Mittelpunkt einer intensiven Debatte über die Verhältnisse auf dem Arbeitsmarkt steht und die zuletzt fast schon einen Symbol-Status für fragwürdige Ausformungen des deutschen „Jobwunders“ angenommen hat? Ist jetzt etwa endlich die alte Forderung nach „Equal Pay“, also gleicher Lohn für gleiche Arbeit, in die Wirklichkeit gehoben worden?

Die Tabelle fasst die wichtigsten Ergebnisse des neuen Tarifabschlusses zusammen. Ab dem kommenden Jahr bekommen die Leiharbeiter in drei Schritten mehr Geld, die prozentualen Steigerungsraten liegen in Westdeutschland bei 3,8%, 3,5% und 2,3%. Die Euro-Beträge für die niedrigste Entgeltgruppe in der Leiharbeit markieren zugleich den Mindestlohn für Leiharbeiter – bzw. korrekter formuliert für den einen West- und den anderen Ost-Mindestlohn, wenn denn diese Beträge seitens des Bundesarbeitsministeriums für allgemeinverbindlich erklärt wird, woran aber kein großer Zweifel bestehen kann. Dazu hat sich die amtierende Ministerin sogleich zu Wort gemeldet und das Ergebnis der Tarifparteien auch noch gegen die Oppositionsparteien eingebaut in den gerade auslaufenden Wahlkampf:

»Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) kündigte an, sie wolle die neuen Mindestlöhne umgehend für allgemeinverbindlich erklären, „damit alle Beschäftigten der Branche ab 1. Januar 2014 von dem Aufschlag profitieren können“. Die Einigung habe „eine überragende Bedeutung für die Mindestlohndebatte in Deutschland“. Das Ergebnis zeige auch, dass die Tarifparteien keine Vorgaben der Politik brauchten, um auf vernünftige Lohnhöhen zu kommen, sagte von der Leyen. Sie verwies damit auf Forderungen von SPD, Linken und Grünen nach einem flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn zwischen 8,50 und 10 Euro.«

„Von Anfang an war es für die DGB-Tarifgemeinschaft Leiharbeit klar, dass keinem Ergebnis zugestimmt wird, das nicht die 8,50 Euro als unterste Entgeltgruppe festschreibt. Damit haben wir zugleich die Lohnuntergrenze für den Branchenmindestlohn in der Leiharbeit festgelegt.“, sagte DGB-Vorstandsmitglied Claus Matecki. Das ist eine durchaus mutige Interpretation des nun vorliegenden Tarifergebnisses, denn schaut man sich die Werte für Ostdeutschland an, dann ist festzuhalten, dass dort  der auf der Forderungsebene für jetzt seitens der Gewerkschaften gleichsam in Stein gemeißelte Betrag von 8,50 Euro tatsächlich erreicht wird – allerdings erst im Juni 2016!
Zugleich ist die mit dem Tarifabschluss auf Jahre festgeschriebene Zementierung einer ungleichen Bezahlung der Leiharbeiter in West und Ost zumindest begründungsbedürftig.

Das wird Ärger geben innerhalb der Gewerkschaften, worüber gleich noch zu sprechen sein wird. Hinter diesem Punkt werden dann auch die anderen erzielten Verbesserungen im Regelwerk verblassen und verschwinden. So weist der DGB darauf hin: Mit dem Abschluss sei es auch gelungen, den Einsatz von Leiharbeitsbeschäftigten als Streikbrecher zu unterbinden. Und weiter: »Geändert wurden die missbrauchsanfälligen Entgeltgruppenbeschreibungen in den untersten Entgeltgruppen EG 1-4. Leiharbeitsbeschäftigte, die z.B. als VerkäuferInnen im Einzelhandel eingesetzt sind, können nun nicht mehr grundsätzlich in EG 1 eingruppiert werden. FacharbeiterInnen haben durch die neuen Beschreibungen die Möglichkeit, höher gruppiert zu werden.«

Aber zurück zu den Hinweisen auf den drohenden Ärger innerhalb des gewerkschaftlichen Lagers. Die Kritiker haben sich bereits zu Wort gemeldet: Der Gewerkschaftsbund würde durch die Verlängerung der Tarifverträge für Leiharbeiter weiter den Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ unterlaufen, so der Vorwurf von Daniel Behruzi in seinem Artikel „Dumping dank DGB„. Das ist starker Tobak. Wie begründet er seinen Vorwurf mit Blick auf den aktuellen Tarifabschluss?

»Den Unternehmern bleibt damit … auf Jahre hinaus die Möglichkeit, reguläre Tarifverträge zu unterlaufen. Ohne eine Neuauflage des DGB-Vertrags wäre das laut Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) nicht mehr möglich gewesen … Die Schlechterstellung von Leiharbeitern gegenüber den Stammbeschäftigten wird mit dem DGB-Kontrakt zementiert. Dabei sieht das AÜG eigentlich gleiche Bezahlung (Equal Pay) vor – wenn dem kein Tarifvertrag entgegensteht. Da die Vereinbarungen der »christlichen Gewerkschaften« von den Gerichten längst für illegal erklärt wurden, ist es nun allein der DGB-Tarif, der Equal Pay verhindert.«

Hier wird eine offene Wunde innerhalb des Gewerkschaftslagers angesprochen – denn in den vergangenen Monaten hatten sich nicht wenige Gewerkschaftsmitglieder und -funktionäre für einen Ausstieg aus dem Tarifvertrag ausgesprochen, um den „Equal Pay“-Mechanismus des Gesetzes auszulösen. So wurde im Mai dieses Jahres unter der Überschrift „Gewerkschafter gegen Leiharbeitstarifvertrag“ berichtet: »In einem Offenen Brief fordern Sekretäre, Basisaktivisten und ganze Betriebsratsgremien, die Vorstände des DGB und seiner Einzelgewerkschaften auf, den Tarifvertrag für die Leiharbeitsbranche einfach auslaufen zu lassen.« Der hier angesprochene Offene Brief „Equal Pay durchsetzen statt Lohndumping tarifieren – Nein zum DGB Tarifvertrag in der Zeitarbeit!“ datiert vom 11. April 2013. Darin findet man u.a. die folgenden Ausführungen:

»Wir sind gemeinsam mit zahlreichen Arbeitsrechtler/innen der Überzeugung, dass die Vorteile einer ersatzlosen Kündigung angesichts des Equal-Pay-Grundsatzes im Arbeitnehmerüberlassungsgesetz gegenüber möglichen und angeblichen Risiken deutlich überwiegen. Eine ersatzlose Kündigung des Tarifvertrags ermöglicht die Durchsetzung einer gleichen Bezahlung von Leiharbeiter/innen. Eine Neuauflage des Tarifvertrags hingegen zementiert Lohndumping durch die Leiharbeit und beschädigt unsere gewerkschaftliche Glaubwürdigkeit nachhaltig.«

Das hört sich im Lichte der nun bekannt gewordenen tarifvertraglichen Fortführung nach einer großen verlorenen Gelegenheit an. Das Hauptargument der Kritiker lautet ja, dass die Gewerkschaften nur einen tarifvertragslosen Zustand herbeiführen müssten, damit die im AÜG normierte Regelung des „Equal Pay“ greifen kann und muss. An dieser Stelle darf die Erinnerung erlaubt sein, dass die DGB-Gewerkschaften bei der umfassenden Deregulierung der Leiharbeit im Gefolge der rot-grünen Agenda 2010-Politik ihren Tarifabschluss zur Leiharbeit damit gerechtfertigt haben, dass sie damals vor dem Problem standen, »dass ihnen die Arbeitgeber der Branche immer drohen konnten (und teilweise haben sie es auch praktiziert), statt mit ihnen mit den so genannten „christlichen Gewerkschaften“, einer wundersamen Truppe „gelber“ Nicht-Gewerkschaften, abzuschließen, die bereit waren, auch unterirdische Vergütungsbedingungen zu akzeptieren«, wie ich erst vor kurzem in einem Blog-Beitrag auf dieser Seite angemerkt habe. Nachdem das Bundesarbeitsgericht diese ominösen „Tarife“ 2010 wegen der fehlenden Tariffähigkeit für unwirksam erklärte, haben die „christlichen Gewerkschaften“ das Tarifgeschäft aufgegeben.

Was kann gegen die kritische Argumentation, dass mit einer Fortführung der tarifvertraglichen Regelung eine einmalige Chance vertan wird, zu einer „Equal Pay“-Regelung zu kommen, ins Feld geführt werden? Unter der Überschrift „Tarifverträge Leiharbeit – überflüssig oder notwendig?“ findet man auf der Seite der IG Metall die folgenden drei Haupt-Argumente für einen Tarifvertrag:

»Tarifverträge schaffen Klarheit: Das Gesetz beschreibt nicht, wie Equal Pay im Betrieb funktionieren soll. Für Beschäftigte wäre nicht transparent, welche Ansprüche sie haben. Das können Arbeitgeber ausnutzen. Leiharbeitnehmer müssten unter Umständen bei jedem Einsatz ihre Ansprüche selbst ermitteln, geltend machen und notfalls vor Gericht einklagen. Im Tarifvertrag ist alles klar geregelt. Er schafft Rechtssicherheit.«

»Im Gesetz gilt das Equal-Pay-Gebot nicht für Zeiten, in denen Leihbeschäftigte nicht in Einsatzbetriebe entliehen sind. Anders als im Tarifvertrag ist dazu im Gesetz nichts geregelt.»

»Der Mindestlohn in der Leiharbeit basiert auf Tarifverträgen. Der Gesetzgeber hat den Tariflohn als Lohnuntergrenze in der Branche anerkannt. Daran müssen sich auch Verleihfirmen etwa mit Sitz in Polen halten. Ohne Tarifverträge könnten sie ihre Arbeitskräfte zu den niedrigeren polnischen Löhnen nach Deutschland schicken.«

An anderer Stelle hört man dann immer wieder auch noch den Hinweis, dass ja bei abgelaufenen Tarifverträgen eine Nachwirkung der Tarifverträge gelten würde und die betroffenen Arbeitnehmer dann unter den bestehenden schlechten Bedingungen weiter arbeiten müssen. Diese Nachwirkungsthese wird allerdings von den Kritikern mit Blick auf die gesetzliche Normierung des „Equal Pay“ bei fehlendem Tarifvertrag bestritten – eine Frage, deren letztendliche Beantwortung in den Händen von Arbeitsrechtlern liegen muss.

Auch wenn man ein Befürworter einer pragmatischen Vorgehensweise ist, dann muss zumindest die lange Laufzeit, die nun vereinbart wurde, verwundern. Hier wird tatsächlich auf Jahre hinweg ein tarifliche Eigenwelt für die Leiharbeit zementiert.

Eine der größten Gefahren für die Gewerkschaften wird sein, dass sie am Beispiel dieses neuen Tarifabschlusses vorgeführt werden hinsichtlich ihrer „Mindest-Mindestlohnrhetorik“, die seit längerem immer auf die 8,50 Euro fokussiert war und ist und nachdem dieser Betrag immerhin Beschlusslage der Gewerkschaften darstellt, auch gut abgesichert im Binnengefüge der Gewerkschaften. In der Praxis geht es aber offensichtlich sehr wohl, hiervon zumindest für einen langen Übergangszeitraum abzuweichen.

Dem einen oder der anderen könnte hier die These in den Kopf kommen, da waren ja sogar die Friseure, von denen nun wirklich nicht wenige Betriebe Probleme mit einem halbwegs akzeptablen Mindestlohn haben, schneller und mutiger. Allerdings kann man die auch in der Tabelle ausgewiesenen Beträge natürlich nicht eins zu eins vergleichen mit den angestrebten Mindestlohnsätzen bei den Friseuren, denn bei denen kommen dann zwar auch noch die Arbeitgeberkosten dazu, aber bei der Leiharbeit tritt als weitere Kostenkomponente der Betrag dazu, der an die Leiharbeitsfirma fließt. Deshalb muss der entleihende Betrieb ja auch kostenseitig einen Betrag kalkulieren, der im Schnitt mindestens das Doppelte dessen beträgt, was dem einzelnen Leiharbeiter am Ende der Nahrungskette zugestanden wird. Und nicht nur das: In einigen Branchen, allen voran der Metall- und Elektroindustrie, wurden ja auch tarifvertraglich „Branchenzuschläge“ vereinbart, die den Leiharbeiter nach längerer Beschäftigungsdauer in die Nähe der Vergütung der Stammbelegschaft in seinem bzw. ihren Tätigkeitsfeld führt („natürlich“ ohne die sonstigen Zusatzleistungen, die die Stammbelegschaft oftmals noch beziehen kann). Eine deutlich stärkere Anhebung der Vergütungssätze für die Leiharbeit hätte diese Beschäftigungsform kostenseitig dann sicher in einer zunehmenden Zahl von Fällen den betriebswirtschaftlichen Relevanzboden entzogen (was zugleich ein explizites Ziel ist eines Teils der Kritiker an der Leiharbeit generell). Und schon wären wir mittendrin in einer notwendigerweise höchst komplexen Tiefenanalyse der unterschiedlichen Aufgaben der Leiharbeit und der Beschäftigung von Leiharbeitern, auch und gerade mit Blick auf die Stammbelegschaften und deren Eigeninteressen. Das würde den Rahmen dieses Blog-Beitrags sprengen, aber darauf hinweisen sollte man schon.

Da kann die vielbeschäftigte Kanzlerin auch schon mal durcheinander kommen: Zu den Untiefen der Leiharbeit und der anscheinend nicht eindeutigen Bedeutung des Wörtchens „vorübergehend“. Aber sie will sich ja „kümmern“

Der Wahlkampf verlangt den Politikern so einiges ab. Zu allem und jeden sollen sie was sagen (können). Das geht natürlich eigentlich nicht, aber die meisten tun es trotzdem. Dann kann es zuweilen peinlich werden oder zumindest erhellend. Vor allem, wenn die Regierung ihre eigenen Gesetze nicht kennt – wobei das im Grundatz schon mathematisch nicht möglich ist.

Die Bundeskanzlerin hat dies eindrucksvoll unter Beweis gestellt. So berichten Matthias Loke und Daniela Vates in ihrem Artikel „Krasser Fall“ von Leiharbeit über das nicht gerade unbedeutende Thema Leiharbeit:

»Da war die Bundeskanzlerin aber besorgt und beeindruckt: Das sei doch „ein sehr krasser Fall“, stellte sie in der ARD-Sendung „Wahl-Arena“ am Montagabend fest, nachdem ein Leiharbeiter seine Erfahrungen geschildert hatte. Zehn Jahre Leiharbeit hintereinander in einem Betrieb seien ja quasi eine Beschäftigung wie ein Stammarbeiter, sagte sie. Zeitarbeit sei „so nicht gedacht gewesen“, das sei doch eine „sehr weitgehende Auslegung“.«

Also ob das nicht so gedacht war – darüber müssen wir noch sprechen. Vorher aber kurz zu dem Sachverhalt, der das Erstaunen der Kanzlerin ausgelöst hat: Leiharbeiter und Betriebsrat Christian Graupner hatte erzählt, dass er seit 2003, also schon zehn Jahre lang, als Leiharbeiter ununterbrochen im gleichen Unternehmen beschäftigt sei. In dem Betrieb nahe Leipzig, der Achsen für die Autobauer Porsche und BMW liefere, seien 30 bis 40 Stammbeschäftigte tätig, aber zugleich rund 500 Leiharbeiter, berichten uns Loke und Vates.

Die IG Metall konnte das Erstaunen der Kanzlerin nicht nachvollziehen. Eine solche lange Einsatzzeit eines Leiharbeiters bei einem Unternehmen sei zwar nicht die Regel, „aber auch kein Einzelfall“. Die Gewerkschaft nannte explizit den europäischen Flugzeughersteller Airbus, bei dem ähnlich lange Einsätze von Leiharbeitern vorkommen.

Bevor man sich in den Untiefen der Details verliert, hilft ein Blick auf das zugrundeliegende Gesetz, in diesem Fall das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz und vor allem auf die bisherige Entwicklungsgeschichte dieses Gesetze:
Begonnen hat alles mit einem Urteil des Bundesverfassungsgericht: Das Bundesverfassungsgericht hatte im April 1967 die Erstreckung des staatlichen Arbeitsvermittlungsmonopol auf die gewerbsmäßige Arbeitnehmerüberlassung für verfassungswidrig erklärt und ermöglichte damit die legale Arbeitnehmerüberlassung durch Private (vgl. hierzu BVerfG, Urteil vom 4. April 1967, Az. 1 BvR 84/65, BVerfGE 21, 261). 1972 wurde dann das Arbeitnehmerüberlassungsgesetz (AÜG) ins Leben gerufen. Die nun folgende Entwicklungsgeschichte ist eine der schrittweisen Deregulierung bis hin zum „big bang“ im Kontext der so genannten „Hartz-Reformen“. Nachzeichnen kann man das an der Regelung der hier besonders interessierenden Überlassungsdauer:

Als das AÜG geschaffen wurde, begrenzte man die maximal zulässige Überlassungdauer der Leiharbeitnehmer auf 3 Monate. Dahinter stand die sicher nicht ganz unberechtigte Vorstellung, dass Leiharbeit Sinn machen kann, wenn es um die Deckung eines zeitlich eng begrenzten Arbeitsanfalls geht, beispielsweise die Vertretung einer Sekretärin oder ein zusätzlicher Auftrag, der aber absehbar nur einen punktuellen Mehraufwand generiert. Betrachtet man die weiteren Eingriffe des Gesetzgebers hinsichtlich der zulässigen Überlassungsdauer in der Leiharbeit, dann zeigt sich ganz praktisch das, was hier bereits als sukzessive Deregulierung bezeichnet worden ist.

1985 wurde eine Verlängerung der maximal erlaubten Überlassungsdauer von 3 auf 6 Monate vorgenommen, 1994 von 6 auf 9 Monate, 1997 von 9 auf 12 Monate (bei dieser Gesetzesänderung wurden außerdem weitreichende Deregulierungen vorgenommen: Zulassung der erstmaligen Synchronisation von Ersteinsatz und Arbeitsvertrag, Zulassung der Wiedereinstellung nach Ablauf von 3 Monaten, Lockerung des Befristungsverbotes), im Jahr 2002 wurde dann die maximale Überlassungsdauer von 12 auf 24 Monate ausgeweitet. Und dann der „big bang“ am 1. Januar 2003 im Zuge der „Hartz-Gesetze“: Wegfall der zeitlichen Beschränkung der Überlassungsdauer. Angereichert wurde diese vollständige Freigabe mit dem Wegfall des besonderen Befristungsverbotes, des Wiedereinstellungsverbotes und des Synchronisationsverbotes sowie einer Lockerung des Überlassungsverbotes im Baugewerbe bei Überlassung zwischen Betrieben des Baugewerbes. Der damalige sozialdemokratische „Superminister“ für Wirtschaft und Arbeit der rot-grünen Koalition, Wolfgang Clement, hatte für eine totale Deregulierung der Leiharbeit gesorgt. Nur der Vollständigkeit halber: Ebenfalls Bestandteil der Deregulierung war die Aufnahme des Grundsatzes des Equal Pay in das AÜG mit einer Öffnungsklausel für Tarifverträge, die davon zuungunsten des Arbeitnehmers abweichen. Anders ausgedrückt: Aufgrund der Anforderungen einer EU-Richtlinie müssten die Leiharbeitnehmer eigentlich die gleichen Arbeitsbedingungen und damit auch die gleiche Entlohnung bekommen wie die Stammbeschäftigten des entleihenden Unternehmens – es sei denn, für die Leiharbeitnehmer gilt ein eigenständiger Tarifvertrag, der nach unten abweichende Löhne vorsieht. Genau das ist dann bei der Umsetzung der gesetzlichen Neuregelung passiert. Die Arbeitgeber der Leiharbeitsbranche haben Tarifverträge abgeschlossen, wobei damals die DGB-Gewerkschaften vor dem Problem standen, dass ihnen die Arbeitgeber der Branche immer drohen konnten (und teilweise haben sie es auch praktiziert), statt mit ihnen mit den so genannten „christlichen Gewerkschaften“, einer wundersamen Truppe „gelber“ Nicht-Gewerkschaften, abzuschließen, die bereit waren, auch unterirdische Vergütungsbedingungen zu akzeptieren. Bezeichnenderweise wurde bereits im Februar 2003 der erste Tarifabschluss zwischen der Interessengemeinschaft Nordbayerischer Zeitarbeitsunternehmen (INZ) und der Tarifgemeinschaft der Christlichen Gewerkschaften Zeitarbeit und PSA (CGZP) gemacht. Es hat dann Jahre gedauert, bis die Rechtsprechung richtigerweise die Nicht-Tariffähigkeit dieser Nicht-Gewerkschaften und damit die Unwirksamkeit der mit ihnen vereinbarten „Tarifverträge“ festzustellen. Bis dahin aber war erst einmal ein umfassender Niedriglohnsektor über die gesamt Leiharbeit implementiert.

Im Zuge der umfassenden Deregulierung der Leiharbeit durch die damalige rot-grüne Bundesregierung gab es dann eine massive Expansion der Leiharbeit in Deutschland, wie man der Abbbildung mit der Zahl der Leiharbeiter entnehmen kann. Dabei wurde schnell klar, dass ein nicht kleiner Teil der die Leiharbeit nutzenden Unternehmen die Beschäftigung von Leiharbeitern nicht als Überbrückung einmaliger Arbeitsanfälle oder als verlängerte Probezeit vor der Übernahme in Anspruch genommen hat – was den Hoffnungen eines Teils der Befürworter einer Deregulierung der Leiharbeit, über den „Klebeeffekt“ Arbeitslosigkeit abbauen zu können, bestätigt hätte -, sondern die Leiharbeiter wurden als „zweite Belegschaftsschicht“ zur Tarifflucht und zum Lohndumping innerhalb der Betriebe instrumentalisiert.

Zurück zum Thema Überlassungsdauer bzw. dem seit 2003 implementierten Wegfall irgendeiner maximalen Überlassungsdauer im AÜG: Damit wurde legal die Option eröffnet, dass ein Entleihunternehmen faktisch einen Leiharbeiter lebenslang in seinem Betrieb beschäftigen kann, ohne diesen fest einstellen zu müssen. Das ist bzw. war die Rechtslage – auch unter der von Angela Merkel angeführten und derzeit regierenden schwarz-gelben Koalition.

Nun gibt es neben dem zum 1. Januar 2011erfolgten Inkrafttreten eines Mindestlohnes in Höhe von damals 7,89 € im Westen und 7,01 € im Osten auf der Basis einer Rechtsverordnung des BMAS weitere Re-Regulierungen, die zu einer „Verteuerung“ des Instruments Leiharbeit geführt haben, so beispielsweise die tarifvertraglich seitens einiger Gewerkschaften durchgesetzten „Branchenzuschläge“. Stichtag ist hier der 1. November 2012 gewesen: Erstmals sind an Leiharbeitnehmer aufgrund eines Tarifvertrags Branchenzuschläge zu zahlen, wenn sie in die Metall-, Elektro- und Chemieindustrie überlassen werden. Die Zuschläge betragen in 5 Stufen gestaffelt nach der Überlassungsdauer zwischen 15 % nach 6 Wochen und 50 % nach 9 Monaten. Eine Folge dieser Verteuerung ist u.a. die beobachtbare Ausweichreaktion eines Teils der Unternehmen in den Bereich der Werkverträge.

Aber auch bei der hier im Mittelpunkt stehenden Überlassungsdauer gibt es Bewegung: Seit dem 01.12.2011 sieht § 1 Abs. 1 S. 2 AÜG vor, dass die Überlassung von Arbeitnehmern „vorübergehend“ zu erfolgen hat. Leider hat der Gesetzgeber nicht näher definiert, was er unter „vorübergehend“ versteht – weswegen man sich auch prima darüber streiten kann, so die Kommentierung in dem Beitrag „Rechtsprechungs-Kuddelmuddel zur Leiharbeit: Was bedeutet eigentlich „vorübergehend“?“ auf „Betriebsrat Blog“. Hier wurde über  zwei Entscheidungen ein un desselben Gerichts (allerdings zweier Kammern) berichtet, die vor allem die Unklarheit verdeutlichen, die bei der Frage, was das Wörtchen „vorübergehend“ bedeuten mag, auftauchen können:

»Die 7. Kammer des LAG Berlin-Brandenburg hatte sich in einem Urteil vom 16.10.2012 (Az.: 7 Sa 1182/12 …) mit den individualarbeitsrechtlichen Konsequenzen des dauerhaften Einsatzes von Leiharbeitnehmern beschäftigt. Im vorliegenden Fall hatte die Klägerin geltend gemacht, dass zwischen Ihr und dem Entleiher ein Arbeitsverhältnis zustande gekommen sei, da ihre Überlassung nicht mehr vorübergehend gewesen sei.Das LAG Berlin-Brandenburg wies die Klage ab. Die Richter vertraten die Ansicht, dass selbst bei einer nicht vorübergehenden Überlassung kein Arbeitsverhältnis mit dem Entleiher zustande kommt. Das LAG ließ dabei offen, ob es sich hierbei um eine nicht nur vorübergehende Arbeitnehmerüberlassung handelte. Die von der Klägerin geltend gemachte Rechtsfolge des Zustandekommens eines Arbeitsverhältnisses sei jedenfalls vom Gesetzgeber für diesen Fall nicht vorgesehen worden.«

Und abweichend davon eine andere Entscheidung:

»Interessanterweise sind die Richter der 15. Kammer des LAG Berlin-Brandenburg genau gegensätzlicher Ansicht. In einem Parallelverfahren (Urteil vom 09.01.2013 – Az.: 15 Sa 1635/12) urteilten sie, dass eine auf Dauer angelegte Arbeitnehmerüberlassung von der erteilten Erlaubnis zur Arbeitnehmerüberlassung nicht gedeckt sei. Es komme daher ein Arbeitsverhältnis zwischen dem Entleiher und dem Leiharbeitnehmer zustande. Es stelle einen „institutionellen Rechtsmissbrauch“ dar, wenn das konzerneigene Verleihunternehmen nicht am Markt werbend tätig sei und seine Beauftragung nur dazu diene, Lohnkosten zu senken oder kündigungsschutzrechtliche Wertungen ins Leere laufen zu lassen.«

Das Bundesarbeitsgericht hat zwischenzeitlich ebenfalls eine hier relevante Entscheidung verkündet. Es geht um den Beschluss vom 10. Juli 2013 – 7 ABR 91/11, die sich auf die besondere Frage des Mitbestimmungsrecht des Betriebsrates bezieht. Hierzu aus der Pressemitteilung des Bundesarbeitsgerichts „Einsatz von Leiharbeitnehmern – Zustimmungsverweigerung des Betriebsrats“:

»Der Betriebsrat des Entleiherbetriebs kann seine Zustimmung zum Einsatz von Leiharbeitnehmern verweigern, wenn diese dort nicht nur vorübergehend eingesetzt werden sollen.«

Und hier der entscheidende Passus:

»Danach erfolgt die Überlassung von Arbeitnehmern an Entleiher „vorübergehend“. Die Bestimmung enthält nicht lediglich einen unverbindlichen Programmsatz, sondern untersagt die nicht nur vorübergehende Arbeitnehmerüberlassung. Sie dient zum einen dem Schutz der Leiharbeitnehmer. Zum andern soll sie auch die dauerhafte Aufspaltung der Belegschaft des Entleiherbetriebs in eine Stammbelegschaft und eine entliehene Belegschaft verhindern. Der Betriebsrat des Entleiherbetriebs kann daher seine Zustimmung zur Einstellung von Leiharbeitnehmern verweigern, wenn diese im Entleiherbetrieb nicht nur vorübergehend beschäftigt werden sollen. Dabei kommt es nicht darauf an, ob und ggf. welche Rechtsfolgen sich aus einem Verstoß gegen § 1 Abs. 1 Satz 2 AÜG für das Rechtsverhältnis des einzelnen Leiharbeitnehmers zum Entleiher ergeben.«

Wie so oft bei solchen wegweisenden, weil grundsätzlichen Entscheidungen liegt der Teufel im Detail, denn das Bundesarbeitsgericht hat sich der naheliegenden Aufgabe, das Wörtchen „vorübergehend“ zu definieren, elegant entzogen:

»Der Streitfall verlangte keine genaue Abgrenzung des Begriffs „vorübergehend“. Der Arbeitgeber beabsichtigte, die Leiharbeitnehmerin ohne jegliche zeitliche Begrenzung statt einer Stammkraft einzusetzen. Das ist jedenfalls nicht mehr „vorübergehend“.«

So wird derzeit weiter gerätselt und diskutiert, was genau denn nun „vorübergehend“ bedeuten kann und muss. Wichtig allerdings ist das klare Signal des Bundesarbeitsgerichts, dass die bislang vorhandene Option einer gleichsam „lebenslangen“ Leiharbeiterexistenz in einem Entleihunternehmen keine mehr sein wird, wenngleich die Entscheidung erst einmal nur die Varianten betrifft, in denen es einen Betriebsrat gibt, der sich dieser Ausgestaltung verweigert. Auf der anderen Seite kann man die Richter aber auch verstehen, denn warum sollen sie wieder den Job machen, der gefälligst vom Gesetzgber zu erledigen ist. Hierzu wieder ein Zitat aus dem Beitrag von Loke und Vates: »Einsilbig blieb hingegen das Bundesarbeitsministerium: Ob Handlungsbedarf bestehe, müsse die nächste Bundesregierung klären.«

Da wird uns dann Hoffnung gemacht, denn wir können in dem Artikel der beiden auch lesen: »Immerhin versprach die Kanzlerin in der Fernsehsendung, sich den Fall von Christian Graupner noch einmal genauer anzusehen.« Mutti wird sich kümmern wollen. Gut, wenn man das auf die Wiedervorlageliste setzt.

Fazit: Die Option (sicher nicht der Regelfall) einer lebenslangen Beschäftigung im Niemandsland der Leiharbeit bei ein und demselben Unternehmen war ein Bestandteil der umfassenden De-Regulierung der Leiharbeit. Folgt man der Entwicklungsachse der beobachtbaren Re-Regulierung der Leiharbeit in den vergangenen drei, vier Jahren – auch und gerade vorangetrieben durch die oftmals anklagende Berichterstattung in den Medien -, dann erscheint diese Forderung nur konsequent: »Die IG Metall fordert eine gesetzliche Begrenzung der Überlassungsdauer für Leiharbeiter und beruft sich dabei unter anderem auf ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts vom Juli. Darin war festgestellt worden, dass ein Leihbeschäftigter nicht dauerhaft in einem Unternehmen beschäftigt werden, sondern nur vorübergehend eingesetzt werden darf. Allerdings hatte das Gericht nicht festgelegt, was „vorübergehend“ zeitlich genau bedeutet. Deshalb, so die IG Metall, müsse der Gesetzgeber eine Festlegung treffen«, so Loke und Vates in ihrem Artikel.

Darüber hinaus würde natürlich die echte Umsetzung von „equal pay“ helfen, die Leiharbeit wieder auf ihre eigentliche Funktion zu reduzieren, vorübergehende Arbeitsausfälle mit flexiblen – und das muss heißen teureren – Personal zu überbrücken. Dass die Lohndumper unter den Unternehmen dann wieder andere Ausweichstrategien suchen und probieren werden, ist gewiss wie das Amen in der Kirche, aber kein Argument gegen die notwendige Regulierung dieser Form des modernen „Menschenhandels“.

Die österreichische „Partei der Arbeit“ in der Realität der Leiharbeit sowie ein deutscher Wahlkampf ohne Arbeitslose

Bei ihrem Wahlkampfauftakt im Wiener Museumsquartier inszenierte sich die österreichische Sozialdemokratie, die SPÖ, als „Partei der Arbeit“. Das tut sie auch in Werbefilmen und im Internet. Jedes einzelne prekäre Arbeitsverhältnis sei eines zu viel in Österreich, die „sogenannte Flexibilisierung“ sei nichts anderes als ein Abbau der Arbeitnehmer-Rechte, so der Bundeskanzler Werner Faymann in seiner Eröffnungsrede. Hört sich gut an. Aber für den „Schutzpatron der Arbeitnehmer“ sind dann solche Schlagzeilen weniger schön: „Bei der „Partei der Arbeit“ bedienen Leiharbeiter„. Die meisten der 1.500 Genossinnen und Genossen wussten aber nicht, dass sie von Angestellten einer Personalvermittlung, also von Leiharbeitern, mit Essen und Trinken versorgt wurden. Wenn Anspruch und Wirklichkeit aufeinander treffen:

»Rund neun Euro verdienen die Beschäftigten der Leiharbeiterfirma laut eigenen Angaben pro Stunde – für den Geschmack vieler SPÖ-Mitglieder viel zu wenig. Man habe ihm „fast den Appetit“ verdorben, meinte ein Funktionär, der „15 Euro aufwärts“ für einen angemessenen Stundenlohn hält.«

Der SPÖ-Bundesgeschäftsführer Norbert Darabos verdeutlicht in seiner Stellungnahme ein Grundproblem, das hier viel interessanter ist, verweist es doch auf die allgemeinen Mechanismen, die auf dem Arbeitsmarkt ablaufen: „Es ist so, dass wir die Firmen, die hier Catering betreiben, als Firma anstellen“.

Und weiter erfahren wir, dass die SPÖ sich ganz korrekt wie ein stinknormaler Arbeitgeber verhalten hat, der sich in der Welt des Outsourcing bewegt – wir lernen aber auch etwas, was ich an dieser Stelle besonders hervorheben möchte, nämlich die Relationen von dem, was Auftraggeber zahlen und was unten ankommt:

»Die SPÖ beteuerte am Samstag in einer Stellungnahme, der beauftragten Firma Cateringdesign pro Stunde und Person 22 Euro ohne Steuern bezahlt zu haben, für die Dauer der Veranstaltung also 110 Euro netto pro Person. Die Cateringfirma habe für den Personalbereich wiederum das Unternehmen GVO beaufragt und die 22 Euro pro Person und Stunde „1:1 an GVO weitergegeben“. Es sei der SPÖ versichert worden, dass GVO laut Kollektivvertrag entlohnt, heißt es in der Stellungnahme weiter.«

Erneut zeigt dieses Beispiel einen Grundtatbestand, den wir aus der Debatte über Leiharbeit, aber auch dem zunehmend an Relevanz gewinnenden Thema Werkverträge schon kennen: Es ist eine Frage der Logik, dass es keine große Differenz geben muss zwischen dem, was unten ankommt und was oben gezahlt wird, wenn zwischen dem, der die Arbeit macht und dem, der die Arbeit in Anspruch nimmt ein oder mehrere Unternehmen zwischengeschaltet sind, die aus diesem Vorgang ihren Gewinn ziehen wollen. Das war schon beim Sklavenhandel so und ist in der modernen Welt des Mit-Arbeitskräften-Handelns nicht anders.

Wenn wir schon aus Österreich irgendwie wieder in Deutschland angekommen sind, dann fällt einem ergänzend der in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung erschienene Kommentar „Wahlkampf ohne Arbeitslose“ von Winand von Petersdorff ins Auge. Er zitiert in seinen Anmerkungen eine leider bittere Wahrheit und eine steile These, die allerdings derzeit immer öfter in den Medien verbreitet wird.

Der Kommentator bezieht sich auf vor kurzem vorgelegte Umfrageergebnisse des Instituts für Demoskopie Allensbach über Themen, die den Deutschen in Zeiten des Wahlkampfs wichtig seien: Auf dem vorletzten Platz lag das Thema Sicherheit des Arbeitsplatzes. Und das sei, so der Kommentator, absolut verständlich: »Deutschland hat so viele Erwerbstätige wie nie. Die Zahl der sozialversicherungspflichtigen Normalarbeitsplätze steigt stetig. Immer mehr Regionen in Deutschland nähern sich der Vollbeschäftigung.«

Grundsätzlich stimmt die Aussage, vor dem Hintergrund von mehreren Jahren positiver Arbeitsmarktentwicklung in Deutschland im Zusammenspiel mit vielen anderen Faktoren wie demografischer Entwicklung usw. ist das auch kein Wunder, wobei man an dieser Stelle natürlich immer wieder Einwände vorbringen kann, wenn man – wie beispielsweise in der Abbildung der Gewerkschaft ver.di – versucht, einen differenzierteren Blick zu werfen auf die Arbeitsmarktentwicklung. Und hier ist noch gar nicht die Entwicklung der Qualität der Arbeitsverhältnisse hinsichtlich der Löhne berücksichtigt. Weitaus bedrückender – zugleich aber auch weitaus realitätsnäher – wird es, wenn man dann auch noch in Rechnung stellt, dass es für einen bestimmten Teil der Arbeitslosen in den vergangenen Jahren sogar noch schwieriger geworden ist, auf dem Markt für bezahlte Arbeit wieder Fuß zu fassen: Wir beobachten eine massive Verhärtung der Langzeitarbeitslosigkeit im „Hartz IV-System“, die aber auch so gut wie gar nicht mehr auftaucht im Wahlkampf und – was noch schlimmer ist – im Bewusstsein vieler politisch Verantwortlicher ebenfalls nicht mehr. Es sei an dieser Stelle nur auf die Veröffentlichungen auf der Seite „O-Ton Arbeitsmarkt“ hingewiesen, wo immer wieder auf die empirisch beobachtbare Verhärtung der Langzeitarbeitslslosigkeit hingewiesen wird. Hierzu nur zwei Beispiele: Die Dauer des Hilfebezugs ist nach „Hartz IV“ deutlich länger als in der alten Arbeitslosen- und Sozialhilfe („Hartz IV“: Dauer des Hilfebezugs deutlich länger als vor den Reformen) sowie „Von Erfolgsmeldungen und der Wirklichkeit: Nur monatlich 0,3 Prozent der „Hartz IV“-Empfänger beenden ihre Hilfebedürftigkeit durch Arbeit„.

Doch für den Kommentator Winand von Petersdorff spielen diese Aspekte keine Rolle, er kaut statt dessen das wieder, was der Mainstream so perpetuiert: Gerhard Schröders »Arbeitsmarktreformen haben nicht nur die nötige Flexibilisierung gebracht, sie haben auch die Arbeitsmoral selbst gestärkt«. Stärkung der Arbeitsmoral, so kann man die Wirkungen der Hartz-Reformen auch titulieren. Diese immer wieder zu beobachtenden Verkürzung, wenn nicht gar Verdrehung des Auswirkungen des komplexen Gefüges „Hartz IV“ sind schade und unnötig, bringt der Kommentator doch vorher wesentlich relevantere Faktoren zur Erklärung des deutschen Erfolgs auf dem Arbeitsmarkt, der doch immer – das darf hier aus einer alten volkswirtschaftlichen Position erwähnt werden – ein abgeleiteter Markt ist. So schreibt er:

»Die diversifizierte Struktur der Volkswirtschaft mildert die Wirkung von Schocks, die von einzelnen Branchen ausgehen wie zuletzt vom Bankensektor. Die deutsche Industrie profitiert mit ihrem Sortiment besonders stark vom Megatrend der letzten Jahre, von dem Aufstieg der Schwellenländer.
Sehr langsam entspannt zudem die demographische Entwicklung des Landes den Arbeitsmarkt. Firmen und Verwaltungen bekommen zunehmend Probleme, für ausscheidende Arbeitnehmer Ersatz zu finden.«

Aber der hier besonders interessierende Punkt in seiner Argumentation ist ein ebenfalls immer öfter auftauchendes Bild: »Die Jugendarbeitslosigkeit – in den meisten europäischen Ländern eine der größten sozialen und ökonomischen Herausforderungen überhaupt – verschwindet hierzulande gerade.« Damit reflektiert er eine Welle der Berichterstattung, die auch durch solche Artikel vorangetrieben wird: „Suche Azubi, biete Auto„: »Kurz vor Beginn des Lehrjahrs sind in Deutschland noch Zehntausende Ausbildungsplätze frei. Die Lehrbetriebe locken mit Begrüßungsgeld, Smartphone oder einem eigenen Wagen«, so die Frontberichterstattung auf Spiegel Online. Garniert wird der Bericht mit Beispielen aus ostdeutschen Handwerksunternehmen, was jungen Leuten heutzutage angeblich alles so nachgeschmissen wird, wenn sie sich den bequemen, eine Berufsausbildung anzufangen oder eine solche länger als einige wenige Monate durchzuhalten. Dabei findet man komplexere Hinweise auf die Realität in dem Artikel selbst:

»Vor allem in Ostdeutschland habe sich die Zahl der Schulabgänger in den vergangenen zehn Jahren auf rund 114.000 halbiert. Zudem gebe es einen anhaltenden Trend zum Studium. Und von den tatsächlichen Bewerbern erfülle eben ein Teil nicht die Anforderungen für die Berufsausbildung.«

So ist es. Eine komplexe Gemengelage, die im Ergebnis dazu führt, dass zwar immer mehr Ausbildungsplätze unbesetzt bleiben, andererseits aber auch immer noch mehr als 270.000 junge Menschen pro Jahr in das überaus heterogene „Übergangssystem“ eingetreten sind, teilweise in mehrjährige Warteschleifen. Allerdings werden die dann alle nicht als „arbeitslos“ gezählt, weil sie ja irgendwie beschäftigt sind.

Zu der ganzen – wie gesagt komplexen – Problematik und den Notwendigkeiten wie auch die Möglichkeiten einer Unterstützung der dualen Berufsausbildung vgl. weiterführend die Beiträge in Christine Henry-Huthmacher und Elisabeth Hoffmann (Hrsg.): Duale Ausbildung 2020. 14 Fragen & 14 Antworten, St. Augustin: Konrad-Adenauer-Stiftung, 2013.