„Entschärfter“ sanktionieren beim Existenzminimum? Das Bundesarbeitsministerium streut ein „Diskussionspapier“ über mögliche Veränderungen bei den Hartz IV-Sanktionen

Es kommt Bewegung in die Debatte über ein hoch kontroverses Thema: Sanktionen im Grundsicherungssystem. Für die einen sind sie von zentraler Bedeutung für das „Fordern“ im Hartz IV-System, um Druck auszuüben und auch um zu „bestrafen“, wenn man sich nicht regelkonform verhält. Für die anderen gibt es nur den Weg einer Abschaffung der Sanktionen und sie argumentieren, es kann nicht sein, Menschen das Existenzminimum zu entziehen. Irgendwo dazwischen sind diejenigen, die zwar keine grundsätzliche Abschaffung von Sanktionen unterstützen, aber mit guten empirischen Argumenten darauf hinweisen, dass die Sanktionspraxis durch eine erhebliche Streuung zwischen den Jobcentern (und sogar innerhalb von Jobcentern) charakterisiert ist, die nicht durch entsprechende Unterschiede zwischen den Personengruppen erklärt werden kann und insofern deutliche Hinweise auf eine willkürliche Ausgestaltung vorliegen. Hinzu kommt: Zahlreiche Sanktionen werden von den Sozialgerichten wieder einkassiert und waren demnach offensichtlich rechtlich nicht fundiert (dazu Hohe Erfolgsquoten bei Klagen und Widersprüchen gegen Sanktionen). Um welche Dimension es hier geht, verdeutlicht ein Blick auf die Zahlen: »Gut eine Million Mal haben die Jobcenter im vergangenen Jahr Leistungen gekürzt, in mehr als zwei Dritteln aller Fälle, weil Arbeitslose Termine unentschuldigt platzen ließen. Im Durchschnitt wurden 2013 fast 9000 Personen pro Monat die Zahlung ganz gestrichen«, so Thomas Öchsner in seinem Artikel Nahles will Hartz-IV-Sanktionen entschärfen. Auch der von vielen Medien immer wieder aufgegriffene Zuwachs an Sanktionen in den vergangenen Jahren basiert fast ausschließlich auf so genannten Meldeversäumnissen (dazu Mehr Sanktionen gegen „Hartz IV“-Bezieher wegen Arbeitsverweigerung?). Auch hier wurde schon grundsätzlich über den Streit über den (Un-)Sinn der Sanktionen berichtet (Das große Durcheinander auf der Hartz IV-Baustelle).

Öchsner berichtet in seinem Artikel, dass die strengeren Sonderregeln für unter 25-Jährige besonders umstritten sind. Denn den Jüngeren dürfen die Vermittler schon nach dem ersten gravierenden Verstoß gegen die Auflagen das Arbeitslosengeld II komplett für drei Monate kappen. Nach der zweiten Pflichtverletzung kann es auch vorübergehend kein Geld mehr für Miete und Heizung geben – mit der Folge, dass durch solche Maßnahmen Wohnungs- und Obdachlosigkeit vorprogrammiert sind. Union und SPD haben deshalb in ihrem Koalitionsvertrag angekündigt, zumindest die Sanktionsregeln für unter 25-Jährige „auf ihre Wirkung und möglichen Anpassungsbedarf hin“ zu überprüfen.

Zu dieser Frage gibt es neben vielen normativen Stellungnahmen auf neuere Forschungsbefunde, von denen hier beispielhaft zwei zitiert werden sollen:

  • Zum einen die Expertise Sanktionen im SGB II. Verfassungsrechtliche Legitimität, ökonomische Wirkungsforschung und Handlungsoptionen von Oliver Ehrentraut et al. (2014). »Sie geben einen Überblick über den Umfang und die Entwicklung der Sanktionen im Bereich der Grundsicherung, über unterschied- liche Positionen und Standpunkte, über die zentralen Argumente in der juristischen Debatte sowie über die Wirkungen von Sanktionen und die Schwierigkeiten bei der Interpretation der Ergebnisse. So weisen beispielsweise eine Reihe von Untersuchungen nach, dass Sanktionen im SGB II Auswirkungen auf die Beschäftigungsaufnahme haben. Allerdings wäre es verkürzt, dies schon als Beleg für den „Erfolg“ von Sanktionen zu werten. Die vertiefte Analyse lässt nicht nur einen lückenhaften Forschungsstand zu bestimmten Fragen erkennen, sondern nicht selten zudem eine ausschließlich auf quantitative Wirkungen verengte Forschungsperspektive. Sogenannte „nicht-intendierte“ Effekte wie z.B. gesundheitliche Folgen, Verschuldung oder Rückzug vom Arbeitsmarkt werden eher selten in die Untersuchungen einbezogen. Diese verengte Perspektive schränkt nicht nur die Interpretationsmöglichkeiten, sondern auch die Ableitung von Konsequenzen für die Gesetzgebung und die Verwaltungspraxis erheblich ein. Über Alternativen zu Sanktionen – so der Eindruck aus den vorliegenden Befunden – wird kaum nachgedacht«, so Ruth Brandherd im Vorwort zu der Expertise (Ehrentraut et al. 2014: 5).
  • Anlässlich einer Anhörung des Ausschusses für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landtags von Nordrhein-Westfalen vom 23. Mai 2014 hat sich auch das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit zu dem Thema geäußert: Joachim Wolff: Sanktionen im SGB II und ihre Wirkungen, Nürnberg 2014. Erkennbar ist eine „Sowohl-als-auch“-Positionierung des BA-eigenen Instituts: »Die Befunde einiger quantitativer Studien weisen darauf hin, dass Bezieherinnen und Bezieher von Arbeitslosengeld (ALG) II aufgrund einer Leistungsminderung verstärkt in Beschäftigung übergehen. Eine Befragung von erwerbsfähigen Leistungsberechtigten in Nordrhein-Westfalen liefert ferner Anhaltspunkte dafür, dass ein Teil der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten den im Sozialgesetzbuch II festgelegten gesetzlichen Pflichten ohne die Sanktionsmöglichkeit nicht nachkommen würde. Verschiedene Befragungsstudien verdeutlichen allerdings, dass sehr hohe Leistungsminderungen in Höhe von 60 Prozent des Regelsatzes, Wegfall des Regelsatzes bis hin zur „Totalsanktion“ besondere Einschränkungen der Lebensbedingungen der erwerbsfähigen Leistungsberechtigten mit sich bringen können. Darunter fallen unter anderem verschärfte seelische Probleme, eingeschränkte Ernährung, Sperren der Energieversorgung und in Einzelfällen Obdachlosigkeit. Die Erkenntnisse sprechen nicht für ein generelles Aussetzen der Sanktionen im ALG-II-Bezug. Bei einer Reform der Sanktionsregeln sollte es vielmehr darum gehen, sehr starke Einschränkungen der Lebensbedingungen durch Sanktionen zu vermeiden und gleichzeitig eine Anreizwirkung der Sanktionen im Blick zu behalten« (Wolff 2014: 4). 

Und was tut sich nun aktuell auf der Ebene der Regierungspolitik? »Das von Andrea Nahles (SPD) geführte Bundesarbeitsministerium will … in Zukunft unnötige Härten vermeiden, das Strafsystem vereinfachen und die Sanktionen teilweise lockern. Dies geht aus dem Konzept des Ministeriums „zur Weiterentwicklung des Sanktionenrechts“ in der staatlichen Grundsicherung hervor«, so Öchsner in seinem Artikel. Und konkretisierend erfahren wir:

»Bislang wird den Hartz-IV-Empfängern der Regelsatz von derzeit 391 Euro für einen Alleinstehenden nach einem bestimmten Prozentsatz gekürzt, beim ersten Meldeversäumnis zum Beispiel um zehn Prozent. Dies hält das Ministerium für „verwaltungsaufwendig“ und „fehleranfällig“. Künftig sollen die Mitarbeiter in den Jobcentern den Hartz-IV-Satz pauschal um zum Beispiel 50 oder 100 Euro mindern können. Die strengeren Sonderregeln für unter 25-Jährige sollen ganz entfallen. Es wird also nicht mehr nach Lebensalter entschieden, was einige Verfassungsrechtler schon lange als Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz kritisieren. Rechte und Pflichte sollen künftig „für alle Leistungsberechtigten in gleicher Weise“ gelten, heißt es in dem Regierungspapier …«.

Also das bedeutet vor allem eine „Entschärfung“ des Verwaltungsaufwandes für die Jobcenter, die offensichtlich davon entlastet werden sollen, einen bestimmten Prozentsatz von einem konkreten Leistungsbetrag ausrechnen zu müssen. „Entschärfter“ sanktionieren mit einer Pauschale, so muss man das wohl zusammenfassen. Der Wegfall der Sonderregelungen für Jugendliche und junge Erwachsene wäre allein rechtssystematisch längst überfällig.
Aber es geht weiter – mit einer wichtigen „guten“ Botschaft für die Betroffenen und einer erneuten Verwaltungsentlastungsinaussichtstellung für die Jobcenter aus dem Hause Nahles:

»Das Arbeitsministerium will künftig auch vermeiden, dass Hartz-IV-Empfänger auf Grund von Sanktionen auf der Straße landen können. Die staatliche Übernahme der Kosten für Unterkunft und Heizung werde „nicht mehr von den Sanktionen erfasst“, schreiben Nahles‘ Beamte. „Damit wird auch die Gefahr von Wohnungsverlusten auf Grund von Sanktionen vermieden.“ Weiterer Vorteil: Die Mitarbeiter in den Jobcentern müssen weniger rechnen, weil in einem Hartz-IV-Haushalt mit mehr als einer Person die nach einer Kürzung übrig gebliebenen Ausgaben für die Miete und Heizung nicht mehr auf die übrigen Bewohner aufzuteilen sind. Am Prinzip der Lebensmittelgutscheine, die es nach Sanktionen auf Antrag im Wert von maximal 196 Euro pro Monat gibt, will das Ministerium aber offensichtlich festhalten: Auch künftig seien „zur Sicherung des Existenzminimums Sachleistungen zu erbringen, deren Höhe angemessen sein muss“, heißt es in dem Papier.«

Es muss an dieser Stelle darauf hingewiesen werden, dass es sich um ein „Diskussionspapier“ handelt, erst im Herbst dieses Jahres soll ein Referentenentwurf vorgelegt werden. Wie sich die Union dazu positioniert, ist noch nicht bekannt.

Aus der Opposition kommt bedenkenswerte Kritik, aber zugleich auch ein Hinweis, warum die Bundesregierung offenbar bereit ist, die schärferen Sonderregelungen für junge Menschen abzuschaffen – wieder einmal wohl weniger aufgrund von Einsicht, als denn aus Angst vor den Männern und Frauen aus Karlsruhe:

„Der Grundbedarf muss immer gesichert sein. Das ist auch in dem Konzept des Bundesarbeitsministeriums nicht der Fall“, sagt Wolfgang Strengmann-Kuhn, sozialpolitischer Sprecher der Grünen im Bundestag. Das Bundesarbeitsministerium wolle nur einem Urteil des Bundesverfassungsgerichtes zu den Sondersanktionen für unter 25-Jährige zuvorkommen, die verfassungsrechtlich fragwürdig seien. Der Grünen-Politiker fordert, die Sanktionen grundsätzlich zu überprüfen und sie vorerst durch ein Moratorium außer Kraft zu setzen.

Das Bundesverfassungsgericht grummelt, beißt aber (noch) nicht. Zur Entscheidung über die Bestimmung der Höhe der Regelbedarfsleistungen im Grundsicherungssystem

Sicher hatten manche die Hoffnung, dass das Bundesverfassungsgericht der Bundesregierung mal wieder eine Entscheidung präsentiert, nach der eine bestehende Regelung verfassungswidrig sei und korrigiert werden müsse. Und bei dem hier anzusprechenden Sachverhalt geht es immerhin um die Höhe einer existenziellen Leistung für mehrere Millionen Menschen, konkret wurde vor dem Gericht die Bestimmung der Höhe der Regelleistungen im Grundsicherungssystem beklagt, umgangssprachlich als Hartz IV-System bekannt. Immerhin viereinhalb Jahre nach dem letzten großen Hartz IV-Urteil – das Gericht hatte im Februar 2010 ein Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums formuliert, das die physische Existenz wie auch die „Teilhabe am gesellschaftlichen, kulturellen und politischen Leben“ umfasst (BVerfG, 1 BvL 1/09 vom 9.2.2010) – war das BVerfG wieder mit diesem wichtigen Thema befasst. Und die Hoffnung vieler Kritiker an einer möglichen Verfassungswidrigkeitsfeststellung basiert auf den mehr als fragwürdigen „Modifikationen“ bei der Ermittlung der konkreten Höhe der Regelleistungen, manche werden das auch deutlicher „Manipulationen“ nennen.
Aber die Überschrift der Pressemitteilung des höchsten Gerichts verdeutlicht bereits, dass diese Hoffnung nicht erfüllt wird: Sozialrechtliche Regelbedarfsleistungen derzeit noch verfassungsgemäß.

Das BVerfG schreibt zu dem heutigen Beschluss:

»Die Anforderungen des Grundgesetzes, tatsächlich für eine menschenwürdige Existenz Sorge zu tragen, werden im Ergebnis nicht verfehlt. Insgesamt ist die vom Gesetzgeber festgelegte Höhe der existenzsichernden Leistungen tragfähig begründbar.«

Wie immer bei der richterlichen Sprache achte man aber genau auf die konkrete Wortwahl.
Die ersten Berichte in den Online-Ausgaben der Zeitungen bringen das auf den Punkt:
Hartz-IV-Sätze „noch“ hoch genug, so die FAZ. Und die Süddeutsche Zeitung wird noch deutlicher:
Verfassungsrichter geben Hartz IV die Note Vier.
Wie so oft betont das BVerfG bei sozialpolitisch konkreten Fragen den zumeist sehr weit ausgelegten Ermessensspielraum des Gesetzgebers, so auch im vorliegenden Fall: Das BVerfG spricht von einem »Entscheidungsspielraum sowohl bei der Beurteilung der tatsächlichen Verhältnisse als auch bei der wertenden Einschätzung des notwendigen Bedarfs«. Und das Gericht liefert auch gleich eine Zuständigkeitsabgrenzung mit:

»Das Grundgesetz verpflichtet den Gesetzgeber … nicht, durch Einbeziehung aller denkbaren Faktoren eine optimale Bestimmung des Existenzminimums vorzunehmen; darum zu ringen ist vielmehr Sache der Politik.«

Und an anderer Stelle schreiben die Verfassungshüter:

»Dem Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers entspricht eine zurückhaltende Kontrolle durch das Bundesverfassungsgericht; es setzt sich bei seiner Prüfung nicht an die Stelle des Gesetzgebers. Das Grundgesetz selbst gibt keinen exakt bezifferten Anspruch auf Leistungen zur Sicherung einer menschenwürdigen Existenz vor.«

Wie ist es denn nun aber mit dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums, von dem das Gericht im Jahr 2010 in seiner Entscheidung gesprochen hat? Nun, wie meistens mit den Grundrechten:

»Entscheidend ist aber, dass die Anforderungen des Grundgesetzes, tatsächlich für eine menschenwürdige Existenz Sorge zu tragen, im Ergebnis nicht verfehlt werden.«

Also „im Ergebnis“ darf die Sorge für eine menschenwürdige Existenz „nicht verfehlt“ werden. Das lädt zur Exegese und Interpretation ein, neue Promotionsthemen tun sich hier auf.

Aber schauen wir einmal genauer hin, was genau denn das BVerfG nun entschieden hat. Dazu erst einmal der Hinweis auf die zentralen Kritikpunkte an der von der Bundesregierung im Nachgang zum Hartz IV-Urteil aus dem Februar 2010 vorgenommenen „Modifikationen“ am Berechnungsverfahren zur Bestimmung der konkreten Höhe der Regelleistungen (vgl. dazu ausführlicher aus der Vielzahl an Stellungnahmen, die dem Gericht zugeleitet worden sind: Deutscher Caritasverband: Regelbedarfe müssen erhöht werden):

  • Früher wurden als Referenzgruppe für die Regelbedarfsstufe 1 (alleinstehende Erwachsene) die unteren 20% der nach ihrem Einkommen geschichteten Ein-Personen-Haushalte (ohne Empfänger/-innen von Leistungen des SGB II und SGB XII) herangezogen, nach der Neuregelung des Verfahrens sind es nur noch die untersten 15%.
  • Kritker bemängeln, dass die verdeckt armen Menschen (also Menschen, die ihren Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung nicht wahrnehmen und somit mit einem Einkommen unterhalb des soziokulturellen Existenzminimums leben, aus der Referenzgruppe nicht herausgenommen werden.
  • Auch Haushalte, die Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz (BAföG) beziehen, also Studierende, sind in der Referenzgruppe enthalten, sollten aber herausgenommen werden, denn sie haben aufgrund ihrer Lebenssituation und vielfältiger Vergünstigungen spezifische Bedarfe und Ausgaben, die in der Regelbedarfsbemessung nicht als repräsentativ gelten können.
  • Die Kritiker stellen darauf ab, dass der Anteil für Strom im Regelbedarf zu niedrig bemessen ist. Er muss auf Grundlage des tatsächlichen Stromverbrauchs von Grundsicherungsempfängern ermittelt werden. Legt man der Berechnung des Stromanteils im Regelbedarf den tatsächlichen durchschnittlichen Verbrauch der Referenzgruppe zugrunde, muss der Regelbedarf in der Stufe 1 deutlich erhöht werden, so der Deutsche Caritasverband.

Auch das Bundesverfassungsgericht hat sich mit diesen und weiteren Kritikpunkten auseinandergesetzt und kommt in seiner Entscheidungen zu folgenden Ergebnissen – die zugleich verdeutlichen, wie unsicher das Gericht ist:

»Entscheidet sich der Gesetzgeber bei der Berechnung des Regelbedarfs für ein Statistikmodell, das Leistungen nach Mittelwerten bestimmter Ausgaben bemisst, muss er Vorkehrungen gegen mit dieser Methode verbundene Risiken einer Unterdeckung treffen. Fügt er Elemente aus dem Warenkorbmodell in diese statistische Berechnung ein, muss er sicherstellen, dass der existenzsichernde Bedarf tatsächlich gedeckt ist. Als Pauschalbetrag gewährte Leistungen müssen entweder insgesamt den finanziellen Spielraum sichern, um entstehende Unterdeckungen bei einzelnen Bedarfspositionen intern ausgleichen oder Mittel für unterschiedliche Bedarfe eigenverantwortlich ansparen und so decken zu können, oder es muss ein Anspruch auf anderweitigen Ausgleich solcher Unterdeckungen bestehen. Für einen internen Ausgleich darf nicht pauschal darauf verwiesen werden, dass Leistungen zur Deckung soziokultureller Bedarfe als Ausgleichsmasse eingesetzt werden könnten, denn diese gehören zum verfassungsrechtlich geschützten Existenzminimum.«

Und – tut der Gesetzgeber das? Nach Auffassung des BVerfG ja, aber:
»Nach diesen Maßstäben genügen die vorgelegten Vorschriften für den  entscheidungserheblichen Zeitraum in der erforderlichen Gesamtschau noch den Vorgaben des Art. 1 Abs. 1 GG in Verbindung mit Art. 20 Abs. 1 GG.« Also noch ist das vereinbar, denn: »Die Festsetzung der Gesamtsumme für den Regelbedarf lässt nicht  erkennen, dass der existenzsichernde Bedarf evident nicht gedeckt wäre.  Der Gesetzgeber berücksichtigt nun für Kinder und Jugendliche auch Bedarfe für Bildung und Teilhabe am sozialen und kulturellen Leben.« Mit dem letzteren sind die Leistungen aus dem „Bildungs- und Teilhabepaket“ gemeint, die man nach dem letzten Urteil des BVerfG eingeführt hat.

Hinsichtlich der erwähnten zentralen Kritik an der Zusammensetzung der Referenzgruppe ist das Ergebnis in der Entscheidung des BVerfG für die Kritiker sicher frustrierend:

»Die Entscheidung, bei der EVS 2008 nur noch die einkommensschwächsten 15% der Haushalte als Bezugsgröße heranzuziehen (statt wie bei der EVS 2003 die unteren 20%), ist sachlich vertretbar. Der Gesetzgeber hat auch diejenigen Haushalte aus der Berechnung herausgenommen, deren Berücksichtigung zu Zirkelschlüssen führen würde, weil sie ihrerseits fürsorgebedürftig sind. Dass er die sogenannten „Aufstocker“, die neben den Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts über weiteres Einkommen verfügen, nicht herausgenommen hat, hält sich im Rahmen des gesetzgeberischen Einschätzungsspielraums. Der Gesetzgeber ist auch nicht dazu gezwungen, Haushalte in verdeckter Armut, die trotz Anspruchs keine Sozialleistungen beziehen, herauszurechnen, da sich ihre Zahl nur annähernd beziffern lässt. Schließlich ist nicht ersichtlich, dass es die Höhe des Regelbedarfs erheblich verzerrt hätte, in die Berechnung Personen einzubeziehen, die Leistungen nach dem Bundesausbildungsförderungsgesetz erhielten.«

Ein weiterer häufig kritisierter Punkt ist, dass der Gesetzgeber nicht ausschließlich auf das Statistikmodell abstellt (also eine Ableitung aus den Verbrauchsausgaben der Haushalte in den unteren Einkommensgruppen), sondern zugleich wird auf das Warenkorbmodell dann zurückgegriffen, wenn man es braucht, um die Ausgaben runterzurechnen. Denn derzeit ist es so, dass der Gesetzgeber hingegangen ist und nicht die Verbrauchsausgaben der unteren Einkommensgruppen zu 100% zugrundelegt, sondern das auf 72 bis 78% eindampft. Auch hier wieder seitens des Gerichts eine „noch“-Bewertung:

»Soweit der Gesetzgeber in einzelnen Punkten vom Statistikmodell abweicht, lässt sich die Höhe des Regelbedarfs nach der erforderlichen Gesamtbetrachtung für den entscheidungserheblichen Zeitraum noch tragfähig begründen.«

Und etwas genauer:

»Der Gesetzgeber ist von Verfassungs wegen nicht gehindert, aus der Verbrauchsstatistik nachträglich einzelne Positionen – in Orientierung an einem Warenkorbmodell – wieder herauszunehmen. Die Modifikationen des Statistikmodells dürfen allerdings insgesamt kein Ausmaß erreichen, das seine Tauglichkeit für die Ermittlung der Höhe existenzsichernder Regelbedarfe in Frage stellt; hier hat der Gesetzgeber die finanziellen Spielräume für einen internen Ausgleich zu sichern. Derzeit ist die monatliche Regelleistung allerdings so berechnet, dass nicht alle, sondern zwischen 132 € und 69 € weniger und damit lediglich 72 % bis 78 % der in der EVS erfassten Konsumausgaben als existenzsichernd anerkannt werden. Ergeben sich erhebliche Zweifel an der tatsächlichen Deckung existenzieller Bedarfe, liegt es im Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers, geeignete Nacherhebungen vorzunehmen, Leistungen auf der Grundlage eines eigenen Index zu erhöhen oder Unterdeckungen in sonstiger Weise aufzufangen.«

An dieser Stelle kommen dann wenigstens eine wenige Änderungsaufforderungshäppchen an die Politik:
  • Beim Haushaltsstrom (der derzeit als Pauschale in den Regelleistungen enthalten ist), ist der Gesetzgeber im Falle außergewöhnlicher Preissteigerungen bei dieser gewichtigen Ausgabeposition verpflichtet, die Berechnung schon vor der regelmäßigen Fortschreibung anzupassen.
  • Das gilt auch für den Mobilitätsbedarf, wo der Gesetzgeber Ausgaben für ein Kraftfahrzeug nicht als existenznotwendig berücksichtigen muss, aber sicherzustellen hat, dass der existenznotwendige Mobilitätsbedarf künftig tatsächlich gedeckt werden kann. Was immer das konkret bedeuten mag.
  • Das BVerfG hat sich offensichtlich auch mit den Niederungen der Haushaltsgeräte befasst: »Zudem muss eine Unterdeckung beim Bedarf an langlebigen Gütern (wie Kühlschrank oder Waschmaschine), für die derzeit nur ein geringer monatlicher Betrag eingestellt wird, durch die Sozialgerichte verhindert werden, indem sie die bestehenden Regelungen über einmalige Zuschüsse neben dem Regelbedarf verfassungskonform auslegen. Fehlt diese Möglichkeit, muss der Gesetzgeber einen existenzsichernden Anspruch schaffen.«

Und dann war da doch noch die Kritik an den Leistungen für Kinder und Jugendlichen. Auch hier gilt: Das BVerfG hat „keine verfassungsrechtlich durchgreifenden Bedenken“:

»Gegen die Festsetzung der Regelbedarfe für Kinder bis zur Vollendung des 6. Lebensjahres und Jugendliche zwischen dem 15. und 18. Lebensjahr mit Hilfe von Verteilungsschlüsseln bestehen keine verfassungsrechtlich durchgreifenden Bedenken. Die Höhe der Leistungen ist nach der verfassungsrechtlich gebotenen Gesamtschau derzeit nicht zu beanstanden … Die teilweise gesonderte Deckung von existenzsichernden Bedarfen, insbesondere über das Bildungspaket und das Schulbasispaket, ist tragfähig begründet. Es liegt im Ausgestaltungsspielraum des Gesetzgebers, solche Leistungen teilweise in Form von Gutscheinen zu erbringen. Allerdings müssen die damit abgedeckten Bildungs- und Teilhabeangebote für die Bedürftigen auch tatsächlich ohne weitere Kosten erreichbar sein; daher ist die neu geschaffene Ermessensregelung zur Erstattung von Aufwendungen für Fahrkosten als Anspruch auszulegen.«

Das war’s. Wie man auf der Basis dieser Entscheidung zu der folgenden Schlussfolgerung kommen kann, bleibt wohl das Geheimnis des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes bzw. seines Hauptgeschäftsführers Ulrich Schneider, der laut einer Presseerklärung ausführt:

»Das BVG hat heute die rigorose Pauschalierung der Regelsätze gekippt. Damit ist die seit Rot-Grün verfolgte Philosophie des Vorrangs der absoluten Massenverwaltungstauglichkeit vor der Lebensrealität der Menschen und ihren individuellen Bedarfen endlich juristisch beendet. In zentralen Punkten wie bei der Anschaffung langlebiger Gebrauchsgüter, den Kosten für Mobilität oder den Preissprüngen bei den Energiekosten ist das Bundesverfassungsgericht der Kritik des Paritätischen gefolgt und hat das derzeitige Modell der Regelsatzbemessung an diesen Punkten für untauglich erklärt. Stattdessen ist den tatsächlichen individuellen Bedarfen wieder Rechnung zu tragen.«

Man kann sich aber auch alles irgendwie so hinbiegen, dass es zu passen scheint. Aber diese Bewertung ist nun im Lichte dessen, was das BVerfG entschieden hat, mehr als euphemistisch. Hier ist wohl der Wunsch nach einer anderen Welt Vater des Gedankens.

Böse Anwälte, gute Anwälte? Wie Rechtsanwälte mit dem (angeblichen) Geschäftsmodell „Hartz IV-Klagen“ in die Medien-Mangel genommen werden und warum da was fehlt

Das sind Schlagzeilen, die ein Skandalisierungspotenzial in Aussicht stellen: Wie Anwälte mit der Armut verdienen oder Manche Anwälte leben auf Staatskosten gut von Hartz-IV-Klagen, um nur zwei Beispiele zu zitieren. »Die Erfolgsquote von Klagen gegen Jobcenter ist hoch. Für manche Anwälte ein Geschäftsmodell: Ob sie gewinnen oder verlieren – der Staat bezahlt sie immer«, so Joachim Jahn in seinem Artikel, der sich auf ein Buch des Fernsehjournalisten Joachim Wagner stützt: Vorsicht Rechtsanwalt. Ein Berufsstand zwischen Mammon und Moral. Dem Autor ist auf Spiegel Online reichlich Platz eingeräumt worden, für sein Buch Werbung machen zu können und seinen Vorwurf eines „Geschäftsmodells fabrikmäßig operierender Hartz-IV-Anwälte“ auszubreiten.

Wagner beschreibt in seinem Artikel beispielsweise den Berliner Rechtsanwalt Raymond Schäfer, der von Hartz IV lebt, allerdings mit vier Angestellten in seiner Kanzlei in Schöneberg. Neun von zehn seiner Fälle seien Widersprüche und Klagen von Menschen gegen Jobcenter. Der Anwalt bietet Jobcenter-„Kunden“ die „kostenlose Überprüfung“ ihrer Bescheide an, was ihm eine entsprechende Nachfrage sichert.

»Sein Geld verdient der Anwalt, indem er bei Gericht zunächst einen Antrag auf Beratungshilfe stellt. Wird dieser bewilligt, bekommt er in der Regel 50 Euro für die Erstberatung. Wenn er dann mehr unternimmt, etwa Briefe schreiben, kassiert er 100 Euro. Schwierige Fälle mit mündlicher Verhandlung bringen Schäfer bis zu 800 Euro ein. Lehnt das Gericht den Antrag auf Beratungshilfe ab, verzichtet er auf Honorar – wie viele seiner Kollegen.«

Nach Wagner wurde mit der Einführung des SGB II neues Geschäftsfeld für Juristen geboren: »Hartz-IV-Anwälte, deren Haupteinnahmequelle die Vertretung von Arbeitslosengeld-II-Beziehern ist. Tausende Juristen verdienen auf diese Weise ihr Geld, einige Massenkläger generieren sogar mehrere Hunderttausend Euro pro Jahr.« Es sei eine „Rechtsanwaltsindustrie“ rund um die Behörden entstanden, bei der die an sich niedrigen Gebühren im Sozialrecht durch die Masse von Widersprüchen und Klagen kompensiert werden können – und durch den Umstand, »dass die meisten Anträge auf Beratungs- und Prozesskostenhilfe genehmigt werden.« Wagner verweist mit Blick auf die Auslöser für diese Entwicklung, dass das SGB II im Gefolge der Umsetzung der „Agenda 2010“ mit der heißen Nadel gestrickt und zudem seit 2005 mehr als 60 Änderungen unterworfen wurde.

»Die hohe Fehlerquote der Jobcenter macht es den Anwälten leicht, die Rechnung zahlt der Staat. 2012 gab die Bundesagentur für Arbeit 39,6 Millionen für Anwaltshonorare der Hilfsempfänger aus.«
Nur an einer Stelle in dem Artikel taucht der Hinweis auf, dass nicht nur die Anwälte der klagenden Hilfeempfänger gezahlt werden müssen – es gibt auch eine andere Seite, also die Anwälte, die für die Jobcenter arbeiten: »Das Jobcenter Gifhorn zum Beispiel musste Anwalt Wellnitz im Jahr 2012 mehr als 72.000 Euro Honorar überweisen. Schmerzhafter für die Arbeitsvermittler war, dass sie zudem mehr als 600.000 Euro an eine spezialisierte Anwaltskanzlei zahlten, die für das Jobcenter Prozesse führt. Einen Teil des Geldes musste das Jobcenter aus dem Topf für Arbeitsvermittlung nehmen.«

Nun könnte man an dieser Stelle argumentieren, dass ja der Ausgangspunkt für viele Klagen die hohen Erfolgsquoten sind, was auf das eigentliche Problem, also die schlechte Arbeit in den Jobcentern verweist. Wagner sieht allerdings einen eigenständigen Bestimmungsfaktor für die Zahl der Klagen in einer regional unterschiedlich ausgestalteten „Rechtsanwaltsindustrie“ sowie einem differierenden Niveau der Nicht-Akzeptanz gegenüber Hartz IV und versucht das am Beispiel Ostdeutschland zu belegen:

»Zwischen Rostock und Erfurt legen Hilfsbedürftige doppelt so häufig Widerspruch gegen Bescheide ein wie im Westen. Eine schlechtere rechtliche Qualität der Bescheide kann laut einem internen Bericht der Bundesagentur für Arbeit nicht die Ursache sein. In Sachsen etwa liegt die Fehlerquote niedriger als in Nordrhein-Westfalen, trotzdem legten die sächsischen Hilfsempfänger etwa dreieinhalbmal so häufig Widerspruch ein wie die an Rhein und Ruhr.«

Wagners Thesen wurden auch in anderen Berichten aufgegriffen, vgl. beispielsweise den Artikel Anwälte in Essen verdienen gut an Fehlern des Jobcenters von Janet Lindgens. Sie berichtet, dass das Jobcenter Essen jährlich einen hohen sechsstelligen Betrag an Anwälte zahlt, die mit Erfolg gegen die Behörde geklagt haben. Einige Anwälte leben mittlerweile fast ausschließlich von Fehlern des Amtes. Und die Erläuterungen in dem Artikel scheinen die Aussagen von Wagner zu bestätigen:
»Nach Auskunft der Stadt sind 2013 rund 6.000 Widersprüche gegen das Jobcenter eingereicht worden. Etwa die Hälfte war erfolgreich. Emsige Anwälte … bringen es auf 600 Widersprüche im Jahr.« Pro erfolgreichem Widerspruch wird dem Jobcenter 300 Euro in Rechnung gestellt.
Dann aber kommt ein Satz, der eine weitere Perspektive öffnet: Diese Anwälte »sehen sich jedoch nicht als Abkassierer, sondern vielmehr als Helfer der Armen.« Und weiter: „In unseren kostenlosen Beratungen leisten wir auch Dinge, die Aufgabe des Jobcenters wären“, so wird einer der Rechtsanwälte zitiert. Ein anderer geht noch weiter: »Er habe den Eindruck, dass die Stadt Bedürftige bewusst nicht über deren Ansprüche aufkläre und somit Geld spare. Die Anwaltskosten seien dann das kleinere Übel.«

Aber noch einmal zurück zu Wagner und seiner zentralen These von einem „Geschäftsmodell fabrikmäßig operierender Hartz-IV-Anwälte“. In einer Rezension des Buches auf der Verlagsseite schreibt der Rechtsanwalt Reinhard Jantos:

»Beschrieben werden auch die die Auswüchse neuer anwaltlicher Geschäftsmodelle. Rechtsanwälte überziehen Verbraucher mit Massenabmahnungen aus vermeintlich illegaler Internettätigkeit, Inkassoanwälte treiben fiktive Rechnungen ein, Hartz IV-Anwälte belasten die Gerichte kostenintensiv mit Massenverfahren und Kleinanleger werden zum zweiten Mal mit aussichtslosen Sammelklagen abgezockt.«

An dieser Stelle wird es höchst problematisch, wenn man sich anschaut, in welche – moralisch verwerfliche – Reihe die von Wagner so titulierten „Hartz IV-Anwälte“ hier gestellt werden. Einen anderen, nüchternen Blick hat – das zitiert übrigens Wagner in seinem Artikel selbst – das Bundesverfassungsgericht geworfen. Konkret ging es um den Versuch einiger Sozialgerichte, die Klageflut im Bereich der so genannten Bagatell-Verfahren (also bei einem Streitwert unter 50 Euro) dadurch einzudämmen, dass in diesen Fällen keine Prozesskostenhilfe gewährt werden soll. Dieser Vorstoß wurde vom BVerfG in einer Entscheidung abgelehnt, »da es den Grundsatz der Waffengleichheit zwischen Bemittelten und Unbemittelten verletze. Jobcenter würden von Juristen vertreten, also müssten auch Hartz-IV-Bezieher das Recht auf einen Anwalt haben, so die Karlsruher Richter.«

Genau das ist der eine Punkt: Die Verfassungsrichter haben sehr wohl erkannt, dass gerade im Feld des Sozialrechts das Individuum einem großen Apparat gegenübersteht. Darüber hinaus kann man aus einer funktionalistischen Sicht auf den Sachverhalt auch argumentieren, dass die Klagen eine wichtige Korrektivfunktion in einem offensichtlich gar nicht rund laufenden bürokratischen System haben und als solche auch gebraucht werden.

Ein grundsätzlicher Einwand von meiner Seite bezieht sich auf den Tatbestand, dass Wagner – wenn überhaupt – problematische Ausformungen beschreibt, die sich in einem hoch konfliktären Bereich herausgebildet haben. Indem er Einzelfälle von Rechtsanwälten, die sich a) zum einen auf den Hartz IV-Bereich spezialisiert haben und die b) weniger das Interesse ihrer Klienten im Auge haben, sondern über viel Masse versuchen, so viel wie möglich an Einnahmen zu generieren, besonders herausstellt, trägt er dazu bei, über eine solche Skandalisierung das gesamte sozialrechtliche Feld innerhalb des Grundsicherungssystems zu desavouieren. Das ist natürlich völlig kontraproduktiv und angesichts der Tatsache, dass es hier um existenzielle Leistungen für Menschen geht, auch völlig daneben. Man muss an dieser Stelle ganz besonders aufpassen, dass man nicht Opfer der in unserer Mediengesellschaft so beliebten einseitigen Skandalisierung wird.

Eine durchaus passende Analogie zu  dem, was Wagner hinsichtlich der so genannten „Hartz IV-Anwälte“ macht, kann man im Bereich der beruflichen Weiterbildungsförderung gerade für Langzeitarbeitslose finden. Auch dort gibt es massenweise skandalisierend daherkommenden Berichte über wirklich auch unakzeptable Zustände in Maßnahmen, für die der Steuerzahler eine Menge Geld ausgeben muss. Vgl. aus der Vielzahl des Materials nur beispielhaft die Fernsehberichte Weiterbildung statt Job – Die Tricks der Bildungsträger sowie Stricken fürs Amt, beide vom MDR-Fernsehen produziert. Allerdings – so meine Kritik – wird der Zuschauer völlig alleine gelassen mit der ausschließlich skandalisierenden Aufarbeitung des Themas. Das wird bei vielen am Ende dazu führen, dass sie den gesamten Bereich der beruflichen Weiterbildungsförderung mit diesen Ausformungen von wirklich schlechten Maßnahmen gleichsetzen. Dem Zuschauer wird an keiner Stelle aber der Hinweis gegeben, dass das völlig zu Recht zu beklagende Verhalten solcher „Bildungsträger“ a) nur auf einen Teil der Träger zutrifft und b) dass es zahlreiche wirklich gute Bildungsträger gibt, die vernünftige Angebote machen bzw. machen könnten, die aber nicht zum Zuge kommen, weil die eigentliche Verantwortung für diese Entwicklung nicht auf der Ebene einzelner Träger abschließend lokalisierbar ist, sondern in dem System von Ausschreibungen und Vergabe seitens der Bundesagentur für Arbeit, über das ein extremer Verdrängungswettbewerb induziert wurde, da – allen anderen Beteuerungen der BA zum trotz – ein radikaler Preiswettbewerb zwischen den Anbietern von solchen Maßnahmen ausgelöst wurde und wird, da am Ende nur die billigsten Anbieter zum Zuge kommen können und werden. Die Anbieter der Maßnahmen bewegen sich in einem „monopsonistischen“ Markt, also einem Nachfragemonopol. Und dort beobachtet man regelmäßig Preisdumping (mit der Folge von Lohn- und Qualitätsdumping auf Seiten der Anbieter) bis hin zu ruinöser Konkurrenz. Und wenn man ausschließlich die besonders problematischen Qualifizierungsmaßnahmen an den Pranger stellt, ohne aber darauf hinzuweisen, dass es gerade für die Langzeitarbeitslosen, von denen viele über keine Berufsausbildung verfügen, von zentraler Bedeutung wäre, wenn sie „vernünftige“ Fördermaßnahmen bekommen, zu denen auch Qualifizierungsmaßnahmen gehören, die zu einem neuen bzw. für viele ersten Berufsabschluss führen, dann berichtet man im Ergebnis nicht nur deutlich unterkomplex, sondern man verbaut sich einen realistischen Blick auf die jeweilige Branche bzw. auf das Teilgebiet.

Nun wird bereits seit langem über die so genannte „Klageflut“ im SGB II-Bereich berichtet und gestritten. Immer wieder wird von den Kritikern darauf abgestellt, dass die so genannte „Einzelfallgerechtigkeit“ zu diesen vielen Verfahren führen muss und darüber hinaus insgesamt erhebliche administrative Folgekosten auslöst. Gleichsam wie eine Art Zauberformel taucht dann in den Diskussionen darüber, wie man diese Entwicklung stoppen und umkehren kann, der Hinweis auf mehr Pauschalierung auf. Wie schwierig das dann aber zuweilen in der Realität sein kann, verdeutlicht der folgende Aspekt, der in dem Beitrag Alle 20 Minuten wird geklagt von Olga Gala über die vielen Klagen in der „Hartz IV“-Hauptsadt angesprochen wird:

»Berlin hat versucht, mit einer pauschalen Regelung die Zahl der Klagen zu reduzieren. Einem Haushalt mit zwei Personen stehen demnach 60 Quadratmeter zu. Kosten darf die Wohnung maximal 381 Euro kalt. Hinzu kommen begrenzte Leistungen für Heizung sowie Zuschüsse zur Warmwasserversorgung.«

Das hört sich vernünftig an und es konnten auch Effekte nachgewiesen werden. Marcus Howe, Richter und Pressesprecher am Sozialgericht Berlin, wird mit diesen Worten zitiert: »… die sogenannte Wohnaufwendungsverordnung … (habe) die Arbeit der Jobcenter erleichtert.« Aber die Pauschalierung ist offensichtlich nicht von Dauer, denn:

»Nur hat das Bundessozialgericht die Regelung Anfang Juni kassiert: Die Richter entschieden, dass die Pauschale insbesondere bei den Heizkosten zu hoch sei. Zudem ist nach Ansicht des Gerichts nicht sachgerecht, wie die Beträge ermittelt wurden. Jetzt soll es wieder mehr Einzelfallprüfungen geben. Und damit vermutlich mehr Verfahren, mutmaßt Howe.«

Eine nächste Runde ist vorprogrammiert.

Foto: Buchcover C.H. Beck Verlag