Arbeitsmarktentwicklung – scheinbar alles gut. Und wo bleiben die Flüchtlinge?

Man hat sich fast schon daran gewöhnt – positive Nachrichten aus Nürnberg zur Arbeitsmarktentwicklung in Deutschland: »Die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung und die Nachfrage nach neuen Mitarbeitern nehmen auf hohem Niveau weiter zu. Die Herbstbelebung setzt im September stärker ein als üblich, so dass Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung saisonbereinigt sinken. Auch im Vergleich zum Vorjahr sind Abnahmen zu verzeichnen, obwohl sich mehr geflüchtete Menschen in Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung befinden.« So beginnt der Monatsbericht September 2017 der Bundesagentur für Arbeit. Die Pressemitteilung der BA vom 29.09.2017 ist so überschrieben: Herbstbelebung setzt stärker ein als üblich. Erwerbstätigkeit und sozialversicherungspflichtige Beschäftigung haben im Vergleich zum Vorjahr weiter kräftig zugenommen. Mit 44,50 Millionen Personen fiel sie im Vergleich zum Vorjahr um 692.000 höher aus. Der Anstieg geht allein auf mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigung zurück.
Auch die offiziell ausgewiesene Arbeitslosigkeit ist weiter auf dem Sinkflug. Also alles gut. Oder?
Natürlich könnte man an dieser Stelle auf die immer wieder vorgetragene Kritik verweisen, dass die tatsächliche Zahl der Arbeitslosen höher ist als die offizielle Zahl vermuten lässt. Für September 2017 spricht die BA von 2.449.000 Arbeitslosen – tatsächlich sind es aber mehr: 932.000 „De-facto-Arbeitslose sind nicht in der Arbeitslosen-, sondern in der separaten Unterbeschäftigungsstatistik enthalten“, so der Artikel Was die offizielle Arbeitslosenzahl verschweigt: 3,38 Millionen Menschen ohne Arbeit. Und noch beeindruckender ist vielleicht so eine Größenordnung: 7,08 Millionen Menschen leben von Arbeitslosengeld oder Hartz-IV-Leistungen. Knapp 790.000 Menschen bezogen Arbeitslosengeld I und rund 6,36 Millionen Menschen lebten in einem Hartz-IV-Haushalt mit Arbeitslosengeld II- und Sozialgeld-Bezug, einer so genannten Bedarfsgemeinschaft, darunter über 2 Millionen Kinder und Jugendliche unter 18 Jahren (Juni 2017).

Nun wird sich der eine oder andere fragen, wo denn die Flüchtlinge geblieben sind. Haben die alle Arbeit gefunden? Und wenn nicht: Warum steigt die Zahl der Arbeitslosen nicht an? Wo sind sie geblieben?

Verdeutlichen wir das an einem Beispiel: Rheinland-Pfalz. Auch aus diesem Bundesland werden erfreuliche Botschaften vom Arbeitsmarkt ausgesendet. »In Rheinland-Pfalz ist die Zahl der Arbeitslosen im September zurückgegangen auf rund 100.800 Frauen und Männer … Damit ist die Arbeitslosenquote im September … auf 4,6 Prozent zurückgegangen«, berichtet der SWR auf Basis der Arbeitsmarktzahlen der BA. »Die Quote sei noch nie geringer gewesen, sagte die Chefin der regionalen Arbeitsagentur, Heidrun Schulz … Auf dem rheinland-pfälzischen Arbeitsmarkt werden Kräfte so dringend gesucht, wie seit Jahren nicht mehr … Landesweit waren der Agentur im September 40.500 offene Arbeitsstellen gemeldet. Das waren 6.400 oder 18,7 Prozent mehr als vor einem Jahr.« Der Laden brummt. Und auch die Flüchtlinge tauchen in dem Bericht auf:

»Den rund 8.300 arbeitslosen Flüchtlingen rät die Arbeitsagentur nicht zu Helferjobs … Sie sollten eher eine Ausbildung machen – auch wenn diese zunächst oft schlechter bezahlt ist. Insgesamt haben 583 geflüchtete Menschen in diesem Jahr in Rheinland-Pfalz eine Ausbildung begonnen.«

Wir halten an dieser Stelle mal fest: Es wird von 8.300 arbeitslosen Flüchtlingen berichtet und von 583, die eine Berufsausbildung begonnen haben. Man muss diese Zahlen einordnen. Dazu die nebenstehende Abbildung mit Daten der Bundesagentur für Arbeit.

Und hier wird erkennbar, was in der bislang zitierten Berichterstattung nicht auftaucht. Wir sehen einen massiven Anstieg der Zahl der geflüchteten Menschen im Hartz IV-System. Am Beispiel des Bundeslandes Rheinland-Pfalz kann man sich die Niveauunterschiede in den folgenden Schritten verdeutlichen – in Rheinland-Pfalz waren unter den Migranten aus den zuzugsstärksten, außereuropäischen Asylherkunftsländern

  • knapp 5.500 sozialversicherungspflichtig Beschäftigte (0,4 Prozent Anteil an allen Beschäftigten in Rheinland-Pfalz, + 54,4 Prozent gegenüber dem Vorjahr)
  • rund 9.000 Arbeitslose (8,5 Prozent Anteil an allen Arbeitslosen in Rheinland-Pfalz, + 145,9 Prozent gegenüber dem Vorjahr)
  • sowie über 43.000 Regelleistungsberechtigte Hartz-IV-Empfänger (16,4 Prozent Anteil an allen Regelleistungsberechtigten in Rheinland-Pfalz, + 179,1 Prozent gegenüber dem Vorjahr) 

Offensichtlich tauchen viele Flüchtlinge (noch) nicht auf in der Zahl der offiziell ausgewiesenen Arbeitslosen, aber im Hartz IV-System sehr wohl. Und mit Blick auf die Zukunft ist die Zahl der Hartz IV-Empfänger höchst relevant. Denn zum jetzigen Zeitpunkt gibt es einige Aspekte, die darauf hindeuten, dass viele derjenigen Menschen mit einem Fluchthintergrund, die jetzt in das Grundsicherungssystem kommen, auf Jahre hinweg in diesem System bleiben werden – selbst viele von denen, die eine Arbeit gefunden haben und Geld verdienen, was ja derzeit insgesamt gesehen (noch) eine sehr überschaubare Gruppe darstellt.

Dazu ein Blick auf die Zusammensetzung der Bedarfsgemeinschaften im Hartz IV-System – einmal bezogen auf alle Leistungsempfänger, zum anderen mit Blick auf die Bedarfsgemeinschaften mit mindestens einem Flüchtling, sowohl für Deutschland insgesamt wie auch in Rheinland-Pfalz.
In der öffentlichen Diskussion dominiert (immer noch) die Vorstellung der alleinstehenden männlichen Flüchtlinge in einem eher jüngeren Alter, die hierher gekommen sind. Gut die Hälfte der Bedarfsgemeinschaften im Hartz IV-System, in denen Flüchtlinge leben, besteht aus einer Person. Aber man muss zur Kenntnis nehmen, dass jede vierte Bedarfsgemeinschaft aus vier oder mehr Personen besteht – und das bereits heute, vor dem eigentlich anstehenden, aus politischen Gründen allerdings aufgeschobenen Familiennachzug, der viele Einzel-Bedarfsgemeinschaften zu größeren Haushalten machen wird bzw. würde, wenn er denn kommt.

Und man wird deutlich aussprechen müssen, dass sehr viele Flüchtlinge wahrscheinlich auf viele Jahre im Hartz IV-System bleiben werden. Denn selbst wenn einer irgendeine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung aufnimmt, dann wird es sich häufig um Tätigkeiten im unteren Lohnsegment handeln, von dem man kaum bis sicher gar nicht eine Familie über Wasser halten kann, so dass die Bedarfsgemeinschaft weiter im SGB II verbleiben muss. Zugleich wird zwar seit langem darauf hingewiesen, dass es viel mehr Sprach- und Integrationsangebote geben müssen, nicht nur, aber eben auch, weil die Sprache nun mal das Nadelöhr ist, durch das man mit Blick auf eine Arbeit muss. Hier haben wir auf der einen Seite ein beklagenswertes Systemversagen.
Aber wie jede Medaille hat auch diese eine andere. Denn auch die geflüchteten Menschen müssen sich bewegen und anstrengen. Und immer wieder und zunehmend wird vor Ort berichtet, dass zur Verfügung gestellte Sprachkurse nicht angetreten oder abgebrochen werden – und immer wieder stößt man in den Gesprächen auf den Hinweis, dass es vor allem die Frauen sind. Regelmäßig wird eine Schwangerschaft als Grund für eine angebliche Nicht-Teilnahmemöglichkeit vorgetragen, was natürlich mehr als zweifelhaft ist, denn von Einzelfällen abgesehen ist eine Schwangerschaft bekanntlich keine Krankheit. Dahinter stehen dann auch diskussionsbedürftige Aspekte, die sich niederschlagen in Äußerungen, man brauche ja keinen Sprachkurs, weil man zu Hause bleiben wird oder auch der Druck seitens des Ehepartners, sich vom Erwerbsarbeitsmarkt fern zu halten (vgl. hierzu bereits die kritischen Anmerkungen in dem Beitrag Ein Scheitern mit klarer und frühzeitiger Ansage: Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen. Und nicht wenige Integrationskursteilnehmer sind auf der Flucht vom 18. September 2017).

Selbst unabhängig von der Frage einer möglichen Integration in Erwerbsarbeit wird sich das gesellschaftlich bitter rächen, denn die Sprache ist keine hinreichende, aber ein unverzichtbare Voraussetzung für eine Teilhabe am gesellschaftlichen Leben. Man muss hier schon den Eindruck bekommen, dass man offensichtlich die gleichen Fehler zuzulassen bereit ist, die schon in der Vergangenheit zu beklagen waren.

Das betrifft die Menschen, die schon da sind. Zuweilen kann man den Eindruck bekommen, dass da seit einiger Zeit keine geflüchteten Menschen mehr kommen, was aber nicht den Tatsachen entspricht. So kann man der September-Ausgabe des IAB-Zuwanderungsmonitors entnehmen: »Nach Angaben der Asylgesuch-Statistik des BAMF wurden im August 2017 etwa 16.000 neuzugezogene Flüchtlinge gezählt …  Seit April 2016 bewegt sich die Zahl der monatlich erfassten Geflüchteten etwa auf dem Niveau von 15.000 Personen.« Das wären dann trotz der Schließung der Balkan-Route aufs Jahr gerechnet mehr als 180.000 neue Flüchtlinge, die es nach Deutschland schaffen. Und auch die müssen aufgenommen und versorgt werden. Und an Sprache und Arbeit herangeführt werden.

Und bereits mit Blick auf diejenigen, die da sind (und die teilweise seit Jahren da sind), wird verständlicherweise kritisiert, dass es zu wenig Beschäftigungsangebote gibt. Wenn die enorme Einstiegshürden in den „normalen“ Arbeitsmarkt haben, dann ist es besonders angezeigt, ihnen auch öffentlich geförderte Angebote zu machen, in denen Arbeit verbunden werden kann mit dem Erlernen der deutschen Sprache. Das gilt natürlich auch für die Neuankömmlinge. Je länger man da wartet, um so größer werden die Folgeprobleme werden, die man sich durch unterlassenes Tun selbst schafft. Über die in mehrfacher Hinsicht zerstörerischen Wirkungen lang anhaltender Erwerbslosigkeit wurde ja nun vielfach berichtet.

Und da muss man auch kritisch auf die Situation im Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) schauen. Bereits Anfang September wurden solche Meldungen bekannt, die angesichts der zentralen Bedeutung des BAMF zu Pessimismus Anlass geben: Tausende Bamf-Mitarbeiter bangen um ihre Zukunft: »Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge bietet mehr als tausend befristet eingestellten Mitarbeitern keine Weiterbeschäftigung an. Stattdessen stellt es neue, unerfahrene Kräfte ein, die noch eingearbeitet werden müssen.« Damit schafft man eine weitere sichere Quelle für Verzögerungen bei den notwendigen Entscheidungen wie aber auch bei deren Qualität, was sich dann an anderer Stelle, beispielsweise in Form von vielen Klagen vor den zuständigen Gerichten niederschlägt. Wenigstens da, so könnte man zynisch einwenden, werden sichere und nicht schlecht dotierte Arbeitsplätze geschaffen, also für Richter.

Das ist übrigens keine Neuigkeit: »Unternehmensberater haben das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge auf Effizienz getrimmt. Zulasten der Flüchtlinge – und der Gerichte, bei denen sich die Klagen stapeln.« So bereits am 30. März 2017 Caterina Lobenstein in ihrem Artikel Behörde auf Speed. Frank-Jürgen Weise, der ehemalige Chef der Bundesagentur für Arbeit, der dann auch noch die Leitung des BAMF übernommen hatte, ließ sich für seine „Reform“ der Behörde feiern bei seinem Abgang. Ausbaden müssen das jetzt andere.

Hartz IV, die Wahlprogramme und ein Blick hinter die Kulissen

Am morgigen Sonntag wird der neue Bundestag gewählt. Die Grundsicherung nach dem SGB II, umgangssprachlich Hartz IV genannt, war im Wahlkampf nicht wirklich ein Thema, obgleich es Millionen Menschen betrifft. Und die haben teilweise richtig große Probleme, über die Runden zu kommen – auch aufgrund von Schwierigkeiten, die sich aus der Konstruktion der Grundsicherung ergeben. Vgl. dazu beispielsweise den Beitrag Hartz IV-Empfänger bekommen 1,63% mehr Geld. Von der Angemessenheit, ungedeckten Stromkosten und Mieten mit Selbstbeteiligung vom 22. September 2017. Vor diesem Hintergrund macht es durchaus Sinn, in die Wahlprogramme der Parteien zu schauen – denn entweder finden sich dort weiterführende Hinweise auf Änderungsbedarf und Änderungsvorschläge, die nur keinen Eingang gefunden haben in den Wahlkampf oder aber die Nicht-Befassung mit dieser nun wirklich sehr großen sozialpolitischen Baustellen spiegelt sich auch in den Wahlprogrammen der Parteien. Dann müsste man zu der Feststellung kommen, dass dieser Bereich aus dem Blickwinkel der politisch Verantwortlichen gerutscht ist.

Insgesamt wird man mit Blick auf die Arbeitsmarktpolitik zu dem Ergebnis kommen müssen, dass in den Wahlprogrammen der Parteien eine gewisse „arbeitsmarktpolitische Müdigkeit“ zu erkennen ist im Vergleich zu den zurückliegenden Wahlkämpfen (vgl. dazu ausführlicher Stefan Sell: Arbeitsmarktpolitik in den Wahlprogrammen der Parteien. Eine Bestandsaufnahme vor der Bundestagswahl 2017, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 26/2017, S. 18-24).

Hinsichtlich des hier interessierenden Grundsicherungssystems (SGB II) gilt das ganz besonders – man muss teilweise sogar zur Kenntnis nehmen, dass das gar nicht auftaucht. So findet man beispielsweise im Wahlprogramm der CDU/CSU (das übrigens gleich Regierungsprogramm 2017-2021 genannt wird) gar keine Ausführungen zu Themen wie Hartz IV, oder Arbeitslosengeld (II). Ausschließlich dieser sehr wolkig gehaltene Passus unter der Überschrift „Langzeitarbeitslosen helfen“ kann zitiert werden (S. 12):

  • CDU und CSU wollen eine Chance auf Arbeit für jeden Menschen in Deutschland. Denn Arbeit dient der Selbstverwirklichung des Einzelnen und schafft Lebensqualität. Wir finden uns mit der hohen Zahl von Langzeitarbeitslosen nicht ab. Wir werden ihre Qualifizierung, Vermittlung und Re-Integration in den Arbeitsmarkt deutlich verbessern.
  • Langzeitarbeitslosen, die aufgrund der besonderen Umstände auf dem regulären Arbeitsmarkt keine Chance haben, werden wir verstärkt die Möglichkeit geben, sinnvolle und gesellschaftlich wertige Tätigkeiten auszuüben. Das ist ein starker Beitrag für den Zusammenhalt in unserem Land.
  • Wir werden finanzielle Mittel bereitstellen, damit jungen Menschen, deren Eltern von Langzeitarbeitslosigkeit betroffen sind, in ganz Deutschland der Weg in Ausbildung und Arbeit geebnet wird.

Ansonsten – nichts.

Sieht es denn bei den anderen Parteien anders aus? Ordnen wir die bzw. deren Aussagen in den jeweiligen Wahlprogrammen so, dass wir mit den Parteien beginnen, wo sehr weitreichende Forderungen gestellt werden.

Die Linke: Im Bereich der Grundsicherung finden wir hier zahlreiche Vorschläge, die auf einen Systemwechsel abzielen:

  • Gefordert wird eine „Mindestsicherung“ statt Arbeitslosengeld II (ALG II). Der Regelleistungssatz dieser Mindestsicherung soll bei 1.050 Euro für Erwerbslose, aufstockende Erwerbstätige, Langzeiterwerbslose und Erwerbsunfähige liegen, bei Bedarf Wohngeld (auf Basis der Bruttowarmmiete) und für Kinder eine Grundsicherung in Höhe von 564 Euro. Die Mindestsicherung soll für alle dauerhaft in Deutschland lebenden Menschen gewährt werden, damit einher geht die Forderung nach einer Abschaffung das Asylbewerberleistungsgesetzes.
  • Die Linke plädiert für die Abschaffung von Sanktionen im Grundsicherungssystem 
  • sowie die Abschaffung der Bedarfsgemeinschaften (also ein Wechsel zum Individualprinzip).
  • Gefordert wird die Schaffung eines öffentlichen Beschäftigungssektors, für Menschen, die derzeit keiner regulären Beschäftigung nachgehen können. 
  • Abgerundet wird das durch die Forderung, ein Recht auf Arbeit sowie das Recht, eine konkrete Arbeit abzulehnen, zu verankern.

Für den Bereich der Arbeitslosenversicherung (SGB III) wird vorgeschlagen, eine längere Zahlung von Arbeitslosengeld I sowie kürzere Anwartschaftszeiten als erleichterte Zugangsvoraussetzung zu ermöglichen. Auch hier wird das Sanktionsinstrumentarium kritisiert und für eine Abschaffung von Sperrzeiten plädiert. Die Linken fordern ein Recht auf (arbeitgeberfinanzierte) Weiterbildung.

Bündnis 90/Die Grünen: Auch die Grünen haben einige substanzielle Veränderungsvorschläge die Grundsicherung betreffend, die aber nicht so weitreichend ausfallen wie die der Linken:

  • Erhöhung des Regelsatzes beim Arbeitslosengeld II, vor allem für Kinder wird eine bedarfsgerechte Neuberechnung der Leistungshöhe gefordert. 
  • Für Stromkosten soll es eine gesonderte Pauschale geben. 
  • Die Grundsicherung soll als individuelle Leistung ausgestaltet werden, mithin also eine Abschaffung der Bedarfsgemeinschaften. 
  • Auch die Grünen fordern eine Abschaffung von Sanktionen 
  • und sie plädieren für die Schaffung eines „sozialen Arbeitsmarktes“ für Langzeitarbeitslose.

Im Bereich der Arbeitslosenversicherung fordern die Grünen einen Wechsel hin zu einer „Arbeitsversicherung“, die auch Selbstständige miteinbezieht. Hinsichtlich der Weiterbildung wird gefordert, dass diese nicht nur bei Arbeitslosigkeit gefördert werden soll.

SPD: Im Wahlprogramm fallen hinsichtlich der Grundsicherung diese Punkte auf:

  • Eine Verdopplung des Schonvermögens im SGB II, 
  • eine Streichung der schärferen Sanktionen für unter 25-Jährige im SGB II 
  • sowie eine Überführung des Bundesprogramms „Soziale Teilhabe“, das sich an Langzeitarbeitslose richtet, als Regelleistung in das SGB II.

Für die Arbeitslosenversicherung wird vorgeschlagen, Selbständige, die sich in der Arbeitslosenversicherung absichern wollen, das durch einkommensbezogene Beiträge zu ermöglichen. Eine kürzere Anwartschaft für Arbeitslosengeld I: Ein Anspruch soll ermöglicht werden, wenn innerhalb von drei Jahren vor der Arbeitslosigkeit mindestens zehn Monate sozialversicherungspflichtig Beschäftigung gegeben ist, was einen erleichterten Zugang zu Leistungen der Arbeitslosenversicherung ermöglichen würde. Gefordert wird die flächendeckende Einführung von Jugendberufsagenturen.

Ein wichtiger Baustein im Programmentwurf der SPD ist der angestrebte Umbau der Bundesagentur für Arbeit zu einer „Bundesagentur für Arbeit und Qualifizierung“ und die damit einhergehende Transformation der Arbeitslosen- zu einer „Arbeitsversicherung“. Gefordert wird damit einhergehend ein Recht auf Weiterbildung, das im Bedarfsfall auch berufsbegleitend umgesetzt werden soll. Hier taucht dann auch der bereits in der Öffentlichkeit heftig diskutierte Vorschlag des Kanzlerkandidaten Martin Schulz auf, ein „Arbeitslosengeld Q (ALG Q)“ für die Dauer von Qualifizierungsmaßnahmen einzuführen: Der Bezug des ALG Q soll nicht auf das Arbeitslosengeld I-Anspruch angerechnet werden (was diesen verlängern würde), die Höhe entspricht dem Arbeitslosengeld I, nach Beendigung einer Qualifizierungsmaßnahme gibt es dann erneut einen Anspruch auf Arbeitslosengeld I nach den bisherigen Regeln.

AfD: Auch die AfD hat sich positioniert zur Grundsicherung und Arbeitslosenversicherung.

  • Gefordert werden höhere Arbeitslosengeld-II-Leistungen bei einer Vorbeschäftigung von mindestens zehn Jahren, 
  • eine bedarfsangepasste Qualifizierung von Arbeitslosen in enger Abstimmung insbesondere mit der mittelständischen Wirtschaft 
  • sowie eine realistische Datenerhebung und eine Reform bei der Errechnung der offiziellen Arbeitslosenzahl.

Für die Arbeitslosenversicherung wird eine längere Bezugsdauer gefordert, wenn eine mindestens zehnjährige Vorbeschäftigungszeit erfüllt ist. Ebenfalls länger bezugsberechtigt beim Arbeitslosengeld I sollen Eltern sein.
Sozialleistungen für EU-Bürgern sollen erst dann gewährt werden, wenn diese zuvor vier Jahre versicherungspflichtig in Deutschland beschäftigt waren und ihren Lebensunterhalt damit vollständig selbst decken konnten. Ansonsten sollen sie von Sozialleistungen ausgeschlossen werden. Bei den Leistungen für Asylbewerber soll der Grundsatz gelten: „Sachleistungen vor Geldleistungen“.

FDP: Im Bereich der Grundsicherung wird

  • die Einführung eines „liberalen Bürgergeldes“ gefordert, also eine Zusammenfassung von Arbeitslosengeld II, Grundsicherung im Alter, Hilfe zum Lebensunterhalt nach SGB XII, Kinderzuschlag und Wohngeld zu einer Transferleistung.  
  • Die Zuverdienstgrenzen bei Arbeitslosengeld II-Bezug sollen erhöht werden durch eine Absenkung des Anrechnungssatzes. 
  • Für Langzeitarbeitslose wird ein „Training on the Job“ gefordert sowie eine Kombination von Grundsicherung und Lohn des Arbeitgebers (also ein Kombi-Lohn), falls erforderlich auch die Ermöglichung einer psychosozialen Begleitung. 

In der Arbeitslosenversicherung wird jede Verlängerung der Arbeitslosengeld I-Bezugsdauer abgelehnt. Auch die FDP fordert eine Förderung der Weiterbildung von Beschäftigten, die allerdings arbeitgeber- und arbeitnehmerfinanziert stattfinden soll sowie mit einer öffentlichen Förderung in Höhe von maximal 50 Prozent der Kosten.

Soweit die wahlprogrammatische Ebene. Aber wie sieht es hinter den Kulissen aus, also in der Fachdiskussion? Denn offensichtlich ist, dass es zahlreiche Probleme und ungelöste Aufgaben im Grundsicherungssystem gibt, die unbedingt zu bearbeiten wären.
Nun gibt es an dieser Stelle je nach Interessenlage und politischer Ausrichtung ganz unterschiedliche Reformvorschläge. Eine vertiefende Analyse würde den Rahmen dieses Beitrags völlig sprengen. Aber es gibt in Deutschland eine Institution, in der fast alle Akteure der Sozialpolitik mit ihren teilweise erheblich abweichenden Interessen vertreten sind und diese Institution meldet sich regelmäßig zu Wort mit Stellungnahmen und Empfehlungen, die sich natürlich dadurch „auszeichnen“ müssen, dass sie eher konsensorientierte Ausarbeitungen darstellen: Gemeint ist der Deutsche Verein für öffentliche und private Fürsorge. Für viele mag der Name irgendwie angestaubt klingen, was aber an der nun wirklich beeindruckend langen Geschichte dieser Institution liegt – immerhin wurde die Organisation 1880 als „Deutscher Verein für Armenpflege und Wohlthätigkeit“ gegründet. Während der Weimarer Republik wurde der Verein zu einem professionellen Interessenverband, der großen Einfluss auf die Fürsorgegesetzgebung nahm. Während der Zeit des Nationalsozialismus wurde der DV gleichgeschaltet und entging so seiner Auflösung. Nach 1945 erfolgte der Neuaufbau.

Der Deutsche Verein ist ein Zusammenschluss der öffentlichen und freien Träger sozialer Arbeit. Er  hat über 2.500 Mitglieder, hierzu gehören Landkreise, Städte und Gemeinden sowie deren Spitzenverbände und die Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege ebenso wie Bundesministerien und -behörden, Länderverwaltungen, überörtliche Träger der Sozialhilfe, Universitäten und Fachhochschulen, Vereine, soziale Einrichtungen, Ausbildungsstätten, Einzelpersonen und Unternehmen der Sozialwirtschaft. Also die gesamte „Sozialszene“ ist da irgendwie vertreten – vor allem aber sowohl die „Leistungserbringer“ wie die „Kostenträger“, was gerade für das hier interessierende Thema Hartz IV von besonderer Bedeutung ist.
Und der Deutsche Verein hat sich gerade aktuell erneut in diesem Themenfeld mit zwei Empfehlungen an die Öffentlichkeit gewandt.
Es wurde eingangs bereits auf das besondere Problem der Kosten für Unterkunft und Heizung hingewiesen (dazu der Beitrag Hartz IV-Empfänger bekommen 1,63% mehr Geld. Von der Angemessenheit, ungedeckten Stromkosten und Mieten mit Selbstbeteiligung vom  22. 09.2017). Hierzu hat der Deutsche Verein am 12. September 2017 Empfehlungen zur Herleitung existenzsichernder Leistungen zur Deckung der Unterkunftsbedarfe im SGB II und SGB XII veröffentlicht.

Dort werden Empfehlungen zur „Ausfüllung des Angemessen­heitsbegriffs nach geltendem Recht“ gegeben, darüber hinaus aber auch in einem eigenen Teil eine „Erste Positionierungen zur gesetzlichen Neu­gestaltung der Rechtssituation“ dargelegt, was für die Reform dieses so wichtigen Bereichs besonders interessant ist.
Über diesen Teilbereich hinaus hat der Deutsche Verein ebenfalls am 12. September 2017 Empfehlungen für eine Weiterentwicklung der Grundsicherung für Arbeit­suchende (SGB II) veröffentlicht, also das ganze SGB II in den Blick nehmend.
Darin geht es nach einer Bestandsaufnahme der Probleme im SGB II vor allem um drei große Baustellen, die identifiziert und mit Reformvorschlägen versehen werden:
  1. Konsistente Neuausrichtung der Beschäftigungsförderung
  2. Verbesserung der Existenzsicherung
  3. Aufgabengerechte Ausgestaltung der vorgelagerten Sicherungssysteme
Die einzelnen Vorschläge können hier nicht im Detail vorgestellt oder gar bewertet werden. Wer sich aber die Mühe macht, in die Empfehlungen zu schauen, der wird zum einen eine Übersicht über den gegenwärtigen Änderungsbedarf im SGB II – wohlgemerkt aus einer konsensual angelegten Perspektive ganz unterschiedlicher Interessengruppen – bekommen und zum anderen wird man erkennen können, dass die weit verbreitete Nicht-Thematisierung des Hartz IV-Systems im Wahlkampf und auf der politischen Bühne dem Problemdruck innerhalb des Systems (von dem für die betroffenen Menschen ganz zu schweigen) in keiner Weise gerecht wird. 
Man wird das Wahlergebnis und die sich anschließende Koalitionsbildung abwarten müssen, um zu sehen, ob der drängende Handlungsbedarf dann wenigstens in der Koalitionsvereinbarung aufgegriffen wird.

Hartz IV-Empfänger bekommen 1,63% mehr Geld. Von der Angemessenheit, ungedeckten Stromkosten und Mieten mit Selbstbeteiligung

Der Bundestagswahlkampf neigt sich dem Ende zu, am Sonntag Abend sind wir schlauer. Und viele haben sich beklagt, dass wichtige Themen keine oder nur am Rande eine Rolle gespielt haben. In den letzten Zügen des Wahlkampfs haben wir noch erleben dürfen, wie eine große sozialpolitische Baustelle in das Scheinwerferlicht der öffentlichen Aufmerksamkeit gezogen oder geschoben wurde – die Pflege. Aber ein großer Bereich, von dem mehr als sechs Millionen Menschen betroffen sind, ist in seinem Schattendasein verblieben: Hartz IV, das Grundsicherungssystem (SGB II). Wenn überhaupt, dann wird sehr allgemein und oftmals plakativ über das Hartz IV-System diskutiert. Tobias Lill fasst diese Ebene in seinem Beitrag „Erfolgsgeschichte“ oder „Armut per Gesetz“?, der in der Online-Ausgabe der Bayerischen Staatszeitung zu finden ist, gut zusammen. In diesem Zusammenhang kann man auch immer wieder beobachten, dass Hartz IV und die davon Betroffenen auf Arbeitslosigkeit reduziert werden – übersehen wird dabei, dass die Grundsicherung Millionen Menschen betrifft, die gar nicht dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen (können). 2 Mio. Kinder und Jugendlichen lebten 2016 in Familien, die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts gemäß SGB II (Hartz IV) erhielten – das waren 14,8 Prozent aller Kinder und Jugendlichen. In den Bundesländern reichte diese SGB II-Quote von 7,0 Prozent in Bayern bis 31,2 Prozent in Berlin. In der Hauptstadt lebt also fast jedes dritte Kind in einem Hartz IV-Haushalt. 

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Sie nimmt zu, sie nimmt nicht zu. Die Ungleichheit. Und einige machen Vorschläge, was man tun könnte, wenn man wollte

Wenn es eine Begrifflichkeit gibt, die den Blutdruck vieler Diskussionsteilnehmer nach oben treibt, dann die Ungleichheit. Für die einen ist die zunehmende Ungleichheit ein zentrales gesellschaftliches Problem, gerade in Deutschland – die anderen verweisen darauf, dass es das gar nich geben würde. Für die letztere Position vgl. beispielsweise  Judith Niehues vom arbeitgebernahen Institut der deutschen Wirtschaft (IW) mit ihrem Beitrag Die Mittelschicht ist stabiler als ihr Ruf. Das lässt das andere Lager nicht ruhen und als Antwort veröffentlichte Marcel Fratzscher vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) eine Replik mit dem fast schon trotzig daherkommenden Titel Und die Ungleichheit hat doch zugenommen. Man ahnt schon, dass der eben nich eindeutige Begriff der Ungleichheit mit vielen Fallstricken verbunden ist, wenn man ihre Entwicklung in Zahlen auszudrücken versucht. Dann muss man genau hinschauen. Reden wir über die Ungleichheit beim Haushaltseinkommen, das sich aus mehren Quellen speist? Oder schauen wir uns die Entwicklung der Löhne an, mit denen die Arbeitnehmer nach Hause kommen? Oder geht es gar nicht nur um die (laufenden) Einkommen, sondern um die Verteilung des vorhandenen Vermögens?

Verengt man beispielsweise den Blick auf die Entwicklung am Arbeitsmarkt und speziell der dort erzielten Löhne, dann muss man sehr wohl eine auseinanderlaufende Entwicklung zur Kenntnis nehmen, obgleich man immer wieder die Behauptung zu hören bekommt, die Lohnungleichheit in Deutschland hätte in den vergangenen Jahren nicht zugenommen, ganz im Gegenteil, gerade die unteren Lohngruppen hätten doch profitiert beispielsweise von dem gesetzlichen Mindestlohn.

Marcel Fratzscher kommt zu einem anderen Befund: Seit 1995 ist die Lohnungleichheit stark angestiegen: »Die unteren 40 Prozent erzielen heute sogar geringere Reallöhne, also Löhne nach Bereinigung der Inflation, als noch 1995. Die oberen 40 Prozent dagegen erlebten einen zum Teil sehr starken Anstieg ihrer Reallöhne. Es ist richtig, dass seit 2010 auch die Löhne am unteren Ende steigen, zum Teil durch die Einführung des Mindestlohns und zum Teil durch die verbesserte Lage am Arbeitsmarkt. Aber im selben Zeitraum sind die Reallöhne für das obere Drittel stärker gestiegen als die in der Mitte und am unteren Rand der Einkommensverteilung.«

Am Ende seines Beitrags verweist Fratzscher auf einen wichtigen Punkt in der aktuellen Ungleichheitsdebatte (und die jetzt wieder auf der höheren Ebene der Einkommen der haushalte angesiedelt): Nicht wenige Ökonomen verweisen darauf, die Einkommensungleichheit sei seit 2005 in Deutschland nicht systematisch weiter gestiegen. Dazu seine Bewertung: »Selbst wenn man das Krisenjahr 2005 als Vergleichsjahr akzeptiert: Soll dies wirklich als Erfolg gefeiert werden? Ist es nicht eher ein Scheitern, wenn trotz Wirtschaftsbooms, Halbierung der Arbeitslosenquote und guten Wirtschaftswachstums die Einkommensungleichheit auf ihren historischen Höhepunkt von 2005 verharrt?«

Auch das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung gehört zu denen, die eine zunehmende Ungleichheit als Problem diagnostizieren. Und die IMK-Ökonomen bleiben nicht bei der Diagnose – über die man sich streiten kann – stehen, sondern sie haben auch Vorschläge vorgelegt, wie man die Ungleichheit bekämpfen könne – worüber man sich noch mehr streiten kann, vor allem, wenn jemand konkrete politische Maßnahmen zur Diskussion stellt. Dazu diese Veröffentlichung:

Gustav A. Horn et al. (2017): Was tun gegen Ungleichheit? Wirtschaftspolitische Vorschläge für eine reduzierte Ungleichheit. IMK Report 129, Düsseldorf: Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK), September 2017

Ein zusammenfassender Bericht über die Vorschläge des IMK wurde unter die Überschrift Ein Drei-Säulen-Konzept gegen Ungleichheit und Armut gestellt. Eine Übersicht über die wichtigsten Vorschläge findet man auch in der Abbildung am Anfang dieses Beitrags.

Eine der drei Säulen steht unter der Überschrift „Die Starken mehr beteiligen“. Und die IMK-Ökonomen wagen sich auf ein Terrain, das in Deutschland besonders vermint ist – die Steuerpolitik. Ihre zentralen Forderungen: »Um Gutverdiener stärker an der Finanzierung des Gemeinwesens zu beteiligen, seien Änderungen des Steuersystems unumgänglich, so die Experten. Sie schlagen unter anderem vor, Unternehmensgewinne durch das Schließen von Schlupflöchern effektiver zu besteuern, private Steuerflucht konsequent zu verfolgen, den Spitzensteuersatz anzuheben, die überzogene Privilegierung von Unternehmenserben bei der Erbschaftsteuer abzuschaffen und die Vermögensteuer zu reaktivieren. Um auszuschließen, dass höhere Steuern Unternehmen in Schwierigkeiten bringen, halten es die Wissenschaftler für sinnvoll, dass der Staat in solchen Fällen mit den geschuldeten Summen als stiller Teilhaber einsteigen kann. Die entsprechenden Anteile würde ein Staatsfonds verwalten.«

Und dann gibt es da noch einen weiteren höchst sensiblen steuerpolitischen Reformvorschlag, der zugleich relevant ist für eine der drängendsten sozialpolitischen Fragen – die Wohnungsfrage und der Anstieg der Mieten in vielen Gegenden unseres Landes, vor allem in den Städten:
»Ein wichtiger Schritt wäre darüber hinaus die Umwandlung der Grundsteuer in eine Bodenwertsteuer, so das IMK. Eine Reform der Grundsteuer, die mit 13 Milliarden Euro für einen erklecklichen Teil der kommunalen Einnahmen verantwortlich ist, sei wegen eines anhängigen Verfahrens beim Bundesverfassungsgericht ohnehin fällig. Der Übergang zu einer reinen Bodenwertsteuer hätte den Vorteil, dass die Belastung je Wohneinheit umso geringer ausfällt, je intensiver ein Grundstück genutzt wird. Das heißt: Die Bewohner von Ein- oder Zweifamilienhäusern, die oft auch die Eigentümer und vergleichsweise wohlhabend sind, werden stärker belastet. Die Bewohner von mehrgeschossigen Gebäuden – typischerweise Mieter – werden entlastet. Der größere Anreiz für die effiziente Nutzung von Grundbesitz dürfte zudem dazu beitragen, die Wohnungsknappheit in Ballungsgebieten zu lindern.«

Ebenfalls fehlt nicht der Hinweis auf die unmittelbar nach der Finanzkrise im Schockzustand der Politik versprochene, mittlerweile auf die lange Bank geschobene Finanztransaktionssteuer. Das IMK plädiert für einen neuen Anlauf zur Einführung dieser Besteuerung: »Da die betroffenen Akteure an den Finanzmärkten in der Regel gut betucht sind, könnte eine solche Steuer nach Einschätzung der IMK-Forscher einen nennenswerten Beitrag zum Abbau der Ungleichheit leisten. Einen konkreten Vorschlag der EU-Kommission, der Steuersätze von 0,1 Prozent auf Wertpapiertransaktionen und 0,01 Prozent auf den Handel mit Derivaten vorsieht, gibt es bereits. Das Sitzlandprinzip soll dabei verhindern, dass sich Handelspartner der Besteuerung durch Verlagerung der Geschäfte entziehen.«

Und die vielbeschworene „Mitte“? Dazu findet man Vorschläge in der Kategorie „Die Mitte stärken“. Das IMK fordert hier mehr Kindergeld statt Ehegattensplitting und die Entlastung finanzschwacher Kommunen als Beitrag zu einer besseren öffentlichen Infrastruktur. Und für gewerkschaftsnahe Ökonomen nicht überraschend ist die Forderung an die Politik, das Tarifsystem zu stärken. Denn von Tarifverträgen profitiere insbesondere der mittlere und untere Bereich der Lohnverteilung, so die Wirtschaftswissenschaftler. Nur ist die Tarifbindung bekanntlich seit Jahren auf dem Sinkflug (vgl. hierzu beispielsweise den Beitrag Zur Entwicklung der Tarifbindung und der betrieblichen Mitbestimmung. Die Kernzone mit Flächentarifverträgen und Betriebsräten ist weiter unter Druck vom 5. Juni 2017).

Was aber soll und kann die Politik hier machen? »Als einfachen, aber wirkungsvollen Schritt empfehlen sie, Allgemeinverbindlicherklärungen zu erleichtern. Bislang ist vorgesehen, dass beide Tarifpartner einen gemeinsamen Antrag einreichen, dem ein paritätisch besetzter Tarifausschuss zustimmen muss. Zudem muss die Allgemeinverbindlichkeit „im öffentlichen Interesse geboten“ sein. Die Folge: Von 73.000 derzeitig gültigen Tarifverträgen sind nur 443 allgemeinverbindlich. Die Autoren der Studie sprechen sich dafür aus, dass Anträge vom Tarifausschuss nicht mehr mit Mehrheit bestätigt werden müssen, sondern nur noch mit Mehrheit abgelehnt werden können. So hätten die Arbeitgeber kein Vetorecht mehr. Zudem sollte der Begriff des „öffentlichen Interesses“ präzisiert werden.« Vgl. zu diesem wichtigen Punkt auch den Beitrag Tarifbindung mit Schwindsucht und die Allgemeinverbindlichkeit als möglicher Rettungsanker, der aber in der Luft hängt vom 9. Mai 2017.

Die Diskussion über ein „bedingungsloses Grundeinkommen“ kennen viele. Die IMK-Ökonomen präsentieren einen Vorschlag, der eine semantische Nähe dazu hat, aber einem ganz anderen Ansatz folgt: Sie schlagen ein „bedingungsloses Kapitaleinkommen“ vor. Was muss man sich darunter vorstellen?

»Kapitaleinkünfte seien bei der Oberschicht konzentriert, weil die Angehörigen der unteren und mittleren Einkommensklassen kaum Ressourcen zum Investieren übrig haben. Abhilfe schaffen könnte ein Staatsfonds, der in Wertpapiere investiert und die Rendite jährlich zu gleichen Teilen an alle Bürger ausschüttet. Der Aufbau eines solchen Fonds könnte aus Haushaltsüberschüssen geleistet werden sowie aus stillen Beteiligungen an Unternehmen, die sich aus Verpflichtungen im Zusammenhang mit der Erbschafts- und der Vermögenssteuer ergeben, schreiben die Ökonomen.«

Nach dem Oben und der Mitte fehlt nun noch das Unten – die Vorschläge hierzu finden sich in der Rubrik „Die Armut reduzieren“. Auch hier eine klare und sicher diskussionsauslösende Ansage: »Geeignete Mittel gegen Armut wären der Analyse zufolge die Eindämmung prekärer Beschäftigung und eine Stärkung der gesetzlichen Rente.

Zusätzlich sollte der Mindestlohn schneller steigen.« Der Mindestlohn solle »stärker steigen als der Medianlohn. Das heißt: Die Kommission, die für die Anpassung zuständig ist, sollte sich nicht wie bisher allein an der Reallohnentwicklung orientieren, sondern einen Aufschlag einkalkulieren.«

Auch eine angemessene Höhe des Hartz-IV-Regelsatzes ist hier Thema: »Der derzeitige Anpassungsmodus enthalte einen „Automatismus zu mehr Ungleichheit“. Denn als Maßstab diene die Entwicklung der Konsumausgaben beim ärmsten Fünftel der Haushalte. Das führe dazu, dass Hartz-IV-Empfänger in Zeiten gesamtwirtschaftlich steigender Reallöhne in der Einkommensverteilung immer weiter zurückfallen. Das könnte verhindert werden, indem die Anpassung an die Entwicklung des Mindestlohns gekoppelt wird. Der Abstand zum niedrigsten Lohn bliebe so unverändert, gleichzeitig würden die Arbeitslosen am steigenden Wohlstand beteiligt.«

Fazit: Das IMK hat hier konkrete und zugleich die Strukturen verändernde Vorschläge gemacht, über die man sich hoffentlich streiten wird. Aber keiner soll sagen, es gibt keine Alternativen zu dem angeblich „alternativlosen“ bisherigen Gang der Dinge.

Jetzt doch morgens jagen und abends Viehzucht betreiben? Die Debatte über ein bedingungslose Grundeinkommen 150 Jahre nach der Zangengeburt des ersten Bandes des „Kapital“

Gerade in diesen Tagen geht ein Karl Marx-Rauschen durch die Medien, wie so oft angeregt durch ein Jubiläum: Das „Börsenblatt für den Deutschen Buchhandel“ meldet am 14.09.1867 das Erscheinen des „Kapitals“ in 1.000 Exemplaren.

Der Deutschlandfunk hat im Vorfeld eine sechsteilige Serie mit ganz unterschiedlichen Autoren über „Das Kapital“ ausgestrahlt, mit tieferen Einsichten und Meinungen zu diesem historischen Werk. Bezeichnend für diese Tage ist auch so eine Diskussionssendung des SWR: Der Mehrwert von „Das Kapital“: Wie aktuell sind die Thesen von Karl Marx?

Auch die Wirtschaftsblätter lassen sich da nicht lumpen: 800 Seiten, die die Welt veränderten, so hat Nikolaus Piper seinen Artikel überschrieben. Der Philosoph Christoph Henning meldet sich in der Neuen Zürcher Zeitung mit diesem Beitrag zu Wort: «Das Kapital» ist ein Klassiker mit trauriger Aktualität. Und selbst in der WirtschaftsWoche wird man mit so einer den einen oder anderen Leser dieser Zeitschrift sicher irritierenden Headline:  Leute, lest Karl Marx! So ist eine „Hommage“ von Dieter Schnaas überschrieben: »Als Prophet ein Versager, als Soziologe ein Riese«, so lautet die Kurzformel seines Blicks auf den Mann aus Trier. Als Prophet ein Versager? Das mag so sein, wenn man sich den Gang der Dinge anschaut, aber der eine oder andere würde zum Ausdruck bringen, dass das doch sehr schade wäre, wenn man sich an so eine Ausmalung der ferneren Zukunft erinnert: Die Gesellschaft werde es dem einzelnen Menschen ermöglichen, „heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, mittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirte oder Kritiker zu werden“.

Zuweilen ist es interessant, sich das Originalzitat genauer anzuschauen, in diesem Fall findet man einen interessanten Hinweis, der erschließen kann, warum der alte Marx hier im Kontext der Debatte über ein bedingungsloses Grundeinkommen angeführt wird:

»Sowie nämlich die Arbeit verteilt zu werden anfängt, hat Jeder einen bestimmten ausschließlichen Kreis der Tätigkeit, der ihm aufgedrängt wird, aus dem er nicht heraus kann; er ist Jäger, Fischer oder Hirt oder kritischer Kritiker und muss es bleiben, wenn er nicht die Mittel zum Leben verlieren will – während in der kommunistischen Gesellschaft, wo Jeder nicht einen ausschließlichen Kreis der Tätigkeit hat, sondern sich in jedem beliebigen Zweige ausbilden kann, die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht zu treiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden.« So zu finden in Marx/Engels, Die deutsche Ideologie, MEW 3, S. 33, 1846/1932

Er spricht hier neben der Vision eines anderen Lebens den Tatbestand der auch heute gegebenen gesellschaftlichen Arbeitsteilung an, der zu Tätigkeiten führt, die man ausschließlich ausübt bzw. ausüben muss, in die man teilweise hineingedrängt wurde und aus die man auch nicht mehr herauskommt, weil man auf den Verkauf der eigenen Arbeitskraft angewiesen ist, weil man eben nicht über andere Quellen des Einkommens verfügt, die einem etwas anderes überhaupt ermöglichen können.

Und die Ermöglichung eines solchen Lebens ist sicher eines der attraktivsten Argumente der Apologeten eines bedingungslosen Grundeinkommens, in dem darüber die Menschen aus dem unmittelbaren Zwang, die eigene Arbeitskraft und das nicht selten bedingungslos zu Markte tragen zu müssen, herausgenommen werden sollen.

Selbst wenn man das aus welchen Gründen auch immer für idealistische und weltfremde Spinnerei hält – hier liegt sicher eine visionäre Kraftquelle für das im übrigen überaus heterogene Lager der Befürworter eines bedingungslosen Grundeinkommens (vgl. auch schon die Beiträge Zwischen Heilserwartung und sozialpolitischen Widerständen. Einige Anmerkungen zum bedingungslosen Grundeinkommen vom 14. Februar 2017 sowie Mit dem Herz dafür, aber mit dem Kopf dagegen? Oder mit dem Verstand dafür, aber ohne Herz? Das „bedingungslose Grundeinkommen“ ist (nicht) krachend gescheitert vom 7. Juni 2016).

Das Thema wird in der aktuellen Medienberichterstattung immer wieder aufgegriffen. Die Sendereihe ZDFzoom hat das in einem neuen Beitrag zu verarbeiteten versucht: Grundeinkommen für alle – Fair oder ungerecht? »Brauchen wir das „Bedingungslose Grundeinkommen“ für alle? Wäre das fair oder ungerecht? Würde es die Menschen anspornen zu arbeiten oder eher dafür sorgen, in der Hängematte zu bleiben?« So die Fragestellung der Filmemacher.

»Das deutsche Sozialsystem ist seit der Einführung der Hartz-IV-Reformen 2005 zu einem gigantischen Verwaltungs- und Kontrollapparat geworden, der große Summen verschlingt. Demografischer Wandel und die zunehmende Automatisierung und Digitalisierung der Arbeitswelt bringen neue Herausforderungen mit sich. Experten bezweifeln, dass der Sozialstaat in seiner jetzigen Form den Belastungen der Zukunft gewachsen ist. Manche halten das „Bedingungslose Grundeinkommen“ (BGE) für die Lösung.

Die „ZDFzoom“ Reporter Ulrike Brödermann und Halim Hosny sprechen mit Befürwortern und Gegnern aus der Wissenschaft und zeigen Menschen in Deutschland, die probeweise ein „Bedingungsloses Grundeinkommen“ beziehen und wie sich ihr Leben seitdem verändert hat. Sie besuchen auch Familien, die von Hartz IV leben. Der alleinerziehende Vater Perry, der mit seinen drei Kindern in Leipzig lebt, erzählt von seinen Erfahrungen bei der Arbeitssuche, mit dem Jobcenter und dem bürokratischen Hürdenlauf.

Die Autoren fahren nach Finnland, wo in einer Testphase 2000 Menschen ein „Bedingungsloses Grundeinkommen“ bekommen und sprechen mit den Beziehern und der Regierung über erste Erfahrungen.

Für die einen wäre die Einführung eines „Bedingungslosen Grundeinkommens“ die Antwort auf die Krise des deutschen Sozialstaats, für die anderen der Anfang vom Ende der Solidargemeinschaft.«
Selbst die BILD-Zeitung hat das Thema in einem längeren Artikel – Wie gerecht ist das Grundeinkommen?–  über die ZDF-Doku aufgegriffen.

Während die Idee eines bedingungslosen Grundeinkommens bei einer bunten Gruppe, die den heutigen Zwängen schlecht bezahlter, unsicherer Erwerbsarbeit (gerade im Bereich der sogenannten Kreativwirtschaft) ausgeliefert ist oder die unter dem teilweise kafkaesk daherkommenden, von vielen als entwürdigend empfundenen Regime der eben nicht-bedingungslosen Grundsicherung mit ihren Sanktionen und ihrem auf Dauer gestellten Mangelstatus zu leiden haben, auf große Sympathie stößt, weil man sich davon eine im wahrsten Sinne des Wortes Befreiung verspricht, wird ein gewichtiger Teil der aktuelleren Debatte über das bedingungslose Grundeinkommen aus einer spezifisch ökonomischen Perspektive geführt – manche würde das auch als eine ökonomistische Verengung charakterisieren. Wie dem auch sei, diese „ökonomische Aufladung“ des Themas hat dem bedingungslosen Grundeinkommen (scheinbar) neue Unterstützer von großer gesellschaftlicher Bedeutung erschlossen – denn immer öfter wird berichtet, dass sich namhafte Vertreter der Kapitalseite, neuerdings besonders prominent Vertreter der Tech-Unternehmen aus dem Silicon Valley ein solches Instrument vorstellen können, ja sogar für absolut notwendig halten angesichts der beobachtbaren und erwartbaren gesellschaftlichen Entwicklung.

Das überall herumgetragene Stichwort dazu lautet: Digitalisierung. Das, was man damit verbindet und zu verbinden scheint, führe unausweichlich dazu, dass man sich dem Ansatz eines Grundeinkommens nicht verweigern kann.

Als ein Beispiel von vielen aus dieser Diskussionslinie sei auf den Artikel Ist das Grundeinkommen die Antwort auf den digitalen Arbeitsmarkt? von Philipp Depiereux verwiesen. Das immer mitlaufende Motiv bei dieser Diskussionslinie ist die (übrigens gerade unter Ökonomen heftig umstrittene) These, dass „uns“ diesmal aber wirklich ein nennenswerter Anteil der (Erwerbs-)Arbeit ausgehen wird, mithin die traditionelle Form der Existenzsicherung für die große Mehrheit der Menschen, die auf den marktüblichen Verkauf ihrer Arbeitskraft existenziell angewiesen sind, wegzubrechen droht.

Eine Möglichkeit, diese Unwucht abzufangen, sei das bedingungslose Grundeinkommen – »ein sicherlich überlegenswerter Lösungsansatz, mit dem wir uns in Deutschland intensiv auseinandersetzen sollten«, so der Verfasser des Artikels.

Angesichts neuerer Veröffentlichungen zu diesem Thema hier nur abschließend der Hinweis auf eine zentrale Frage, die immer wieder nicht nur von den Gegnern, sondern auch von grundsätzlich mit dem Ansatz sympathisierenden Diskussionsteilnehmern aufgerufen wird. Wie soll das finanziert werden? Kann das überhaupt gelingen?

Da stößt man dann beispielsweise auf so einen Beitrag: Bedingungsloses Grundeinkommen: US-Wirtschaft könnte deutlich wachsen, versehen mit dem Hinweis: Überraschung.

»In einer Studie des Roosevelt Institutes kommt ein Team von Wirtschaftswissenschaftlern zum Schluss, dass die Implementierung eines bedingungslosen Grundeinkommens für alle erwachsenen Amerikaner in Höhe von 1.000 Dollar monatlich zu einem extra Wirtschaftswachstum von 12,56 Prozent innerhalb der nächsten acht Jahre führen könnte.«

Offensichtlich handelt es sich um diese Studie: Michalis Nikiforos, Marshall Steinbaum and Gennaro Zezza (2017): Modeling the Macroenomic Effects of a Universal Basic Income, Roosevelt Institute, August 2017

In dem Artikel kommt dann aber ein weiterer Hinweis, den man nicht überlesen sollte angesichts der sehr positiv daherkommenden Botschaft der ersten Zeilen: »Vorausgesetzt es wird durch eine Erhöhung der Staatsschulden finanziert.«

»Denn wenn das gleiche Sozialprogramm durch eine Erhöhung von umverteilenden Steuern finanziert wird, würde das Bruttoinlandsprodukt lediglich um zusätzlich 2,62 Prozent innerhalb von acht Jahren steigen, so die Studie. Jedoch würde es dann auch zu einem Abbau der US-Staatsschulden von 1,39 Prozent kommen. Beide Szenarien haben dabei einen positiven Einfluss auf die Arbeitslosigkeit.«

Wie kommen die zu so einem positiven Ergebnis? Letztendlich stützen sich die Ökonomen bei ihren Berechnungen auf das Konzept der „marginalen Konsumquote“. Danach werden Geringverdiener verglichen mit Besserverdienern mit einer höheren Wahrscheinlichkeit zusätzliches Einkommen ausgeben. Deshalb würde ein bedingungsloses Grundeinkommen zu einer Erhöhung der sich im Umlauf befindenden Geldmenge führen.

Auch aus Deutschland kann zu diesem Themenfeld eine neue Arbeit beigesteuert werden: Makroökonomische Effekte eines bedingungslosen Grundeinkommens, so ist der Beitrag von Thieß Petersen, der bei der Bertelsmann-Stiftung arbeitet, im „Wirtschaftsdienst“ (Heft 9/2017) überschrieben:

»Über das bedingungslose Grundeinkommen wird schon seit langem diskutiert. Zwar gibt es Modellversuche, aber in einer gesamten Volkswirtschaft wurde es bisher noch nicht eingeführt. Interessant ist, wie sich dieses Konzept auf die wichtigen gesamtwirtschaftlichen Faktoren wie den Lohn, den Arbeits- und Kapitaleinsatz, die Produktivität, die Inflation, das Wachstum und die Wettbewerbsfähigkeit eines Landes auswirkt. Der Autor stellt Überlegungen zu den möglichen Zusammenhängen und Wirkungen an. Er kommt aber angesichts der Unsicherheiten und Gefahren zu dem Ergebnis, dass die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens ein großes ökonomisches Wagnis wäre«, so die einleitenden Anmerkungen der Redaktion.

Weitere Hinweise zur Argumentation von Petersen finden wir in diesem Blog-Beitrag: Bedingungsloses Grundeinkommen: Wie wirkt es auf die gesamte Volkswirtschaft? Petersen konzentriert sich bei seiner Analyse der gesamtwirtschaftlichen Effekte auf drei Aspekte dieses Einkommens, nämlich: seine Unbedingtheit, seine Höhe und seine Finanzierung. Und ist mit einem Haufen erwartbarer Unsicherheit konfrontiert, die vor allem aus nicht eindeutig vorrausehbaren Reaktionen von Bürgern und Unternehmen bezüglich ihres Arbeitsangebotes oder ihrer Arbeitsnachfrage resultiert.

Vor diesem Hintergrund überrascht es dann nicht, wenn Petersen zu dem Ergebnis kommt, »bei der Einschätzung der Effekte (sei) eine Menge Spekulation im Spiel. „Angesichts dieser großen Unsicherheit über die Reaktion des Arbeits- und Kapitalangebots sind keine eindeutigen Aussagen über die makroökonomischen Konsequenzen eines BGE möglich“, schreibt Petersen. Problematisch seien dabei insbesondere die Verhaltensänderungen der privaten Haushalte und Unternehmen. „Deren Reaktionen ’sind bei großen strukturellen Veränderungen schwer vorauszusehen’“. Von daher “ wäre die flächendeckende Einführung eines BGE ein großes ökonomisches Wagnis.“
Irgendwie unbefriedigend, werden viele an dieser Stelle denken und das man das auch ohne Berechnungen hätte festhalten können.

In Vorahnung dieser Frustration wird dann noch dieser Happen in die Menge geworfen:

»Ließe sich das ökonomische Risiko reduzieren? Man könnte ein BGE auf niedrigem Niveau einführen, was aber bedeutet, dass „die wesentlichen Vorteile eines BGE nicht zum Tragen“ kämen. Oder man wartet, bis die Kapitalintensität der Produktion hinreichend hoch ist.«

Es sieht so aus, dass wird uns noch länger gedulden müssen, bis »die Gesellschaft die allgemeine Produktion regelt und mir eben dadurch möglich macht, heute dies, morgen jenes zu tun.« Das wäre ja auch Kommunismus – und ob Apple, Google & Co. das wirklich anstreben?

Aber gut, wenn das Thema weiter in der öffentlichen und wissenschaftlichen Debatte vorangetrieben wird. Denn auch „im Kleinen“ (in dem allerdings bei uns mehr als sechs Millionen Menschen von den dort ausgedeichten – oder eben nicht – Leistungen abhängig sind) stellt sich ganz handfest eine Frage, die den Kernbereich des bedingungslosen Grundeinkommens berührt: Gemeint ist hier neben der Frage nach der Höhe der Grundsicherung vor allem das noch in diesem Jahr zur Entscheidung beim Bundesverfassungsgericht anstehende Verfahren der Sanktionierung von Hartz IV-Empfängern, über das derzeit das an sich unbedingte Grundrecht der Gewährung eines Existenzminimums bis auf Null abgesenkt werden kann. Die Grundfrage auch bei den höchst umstrittenen Sanktionen im SGB II ist die Frage nach der Nicht-Bedingungslosigkeit des gewährten Existenzminimums und dem Einwand, dass man ein eigentlich unbedingtes Grundrecht auf ein Existenzminimum nicht auch noch absenken darf. Wir werden sehen, wie Karlsruhe entscheidet in dieser Angelegenheit.

Aber die Vision eines „bedingungslosen Grundeinkommens“ reicht deutlich über diese Frage hinaus, deshalb die Verknüpfung mit der Vision von Karl Marx – denn hier geht es um die Ermöglichung eines ganz anderen Lebens, nicht „nur“ um die Frage einer aus finanziellen und disziplinarischen Motiven möglichst niedrig zu haltenden Grundsicherung, deren Inanspruchnahme dann auch noch mit zahlreichen, voraussetzungsvollen Restriktionen gespickt ist.

An dieser Scheidelinie ist auch eine große und nicht zu unterschätzende Gefahr zu identifizieren, gerade wenn man dem grundlegenden Ansatz eines bedingungslosen Grundeinkommens positiv gegenübersteht: Das am Ende eines wie immer widersprüchlichen und kontroversen politischen Prozesses eine Grundeinkommenslösung herauskommt, bei der man sich auf eine sehr niedriges bedingungsloses Grundeinkommen verständigt, das dann auch Hartz IV (und andere Leistungen?) ersetzt, zugleich aber die Kürzung höhenwertiger Sozialleistungen ermöglicht, und das alles immer begleitet von der Ansage, man gewähre ja eine „unkomplizierte“ Basissicherung. Der schon seit längerem beobachtbare Trend, die „da unten“ sich selbst zu überlassen, bekäme dann sogar noch eine „philosophisch“ aufgehübschte Legitimationsfolie verpasst.

Foto: © Stefan Sell