Heute ist – so viel lässt sich schon jetzt sagen – ein „historischer Tag“ für die Sozialpolitik, zu deren Kernbereich die „Arbeitsbeziehungen“ gehören. Und da spielen Gewerkschaften eine zentrale Rolle und wenn es sein muss, dann müssen die auch streiken können. Nun ist das Streikrecht eine höchst diffizile Angelegenheit und es gibt ein solches eigentlich nur als abgeleitetes Recht aus der „Koalitionsfreiheit“, die im Grundgesetz verankert ist. Dort finden man im Artikel 9 Absatz 3 diese – man sollte meinen eindeutige – Formulierung: »Das Recht, zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen Vereinigungen zu bilden, ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet. Abreden, die dieses Recht einschränken oder zu behindern suchen, sind nichtig, hierauf gerichtete Maßnahmen sind rechtswidrig.« Die Konkretisierung des aus diesem – nicht umsonst ganz vorne im Grundgesetz normierten – Grundrechts abgeleiteten Streikrechts für die Gewerkschaften basiert auf einer über Jahrzehnte andauernden ständigen Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts.
Wenn man den Kritikern des Gesetzes, das heute im Bundestag mit der alles erdrückenden Mehrheit der großen Koalition aus CDU/CSU und SPD verabschiedet wird, folgt, dann wird das „Gesetz zur Tarifeinheit“ zu einem Eingriff in das Streikrecht führen, zumindest für einen Teil der Gewerkschaften. Und möglicherweise wird es sich noch mal als ein weiterer Treppenwitz der Sozialgeschichte erweisen, dass es eine sozialdemokratische Bundesarbeitsministerin war, die in das filigrane Gebäude des Streikrechts mit der Planierraupe gefahren ist. Zugleich ist bereits heute nicht nur klar erkennbar, dass das Gesetz vor das Bundesverfassungsgericht getragen wird mit einer nicht geringen Wahrscheinlichkeit, dort für verfassungswidrig erklärt zu werden, sondern auf alle Fälle werden wir Zeuge der Geburt eines wahren „Bürokratiemonsters“, ein weiterer schwerer Kollateralschaden der eigentlich mit dem Gesetz angestrebten Ausschaltung bestimmter kleiner, aber (potenziell) schlagkräftiger Gewerkschaften.
Über die generelle Problematik des Tarifeinheitsgesetzes ist in der jüngeren Vergangenheit viel berichtet und gestritten worden, das muss an dieser Stelle nicht erneut aufgerufen werden. Statt dessen sollen exemplarisch zwei heute veröffentlichte Kommentierungen aus der Presse aufgerufen werden, mit denen man das eine Grundproblem verdeutlichen kann – von der 2010 durch eine Korrektur der bis dahin pro Tarifeinheit lautenden Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts hin zur Tarifpluralität mit einer expliziten Bezugnahme auf die grundgesetzliche verankerte Koalitionsfreiheit – und nun zurück zur Tarifeinheit. Allerdings nur für die eine Seite, also für die Arbeitnehmer mit ihren Gewerkschaften:
Eva Roth hat ihren Leitartikel mit Tarifeinheit schwächt kleine Gewerkschaften überschrieben.
»Das Gesetz beschneidet die Rechte von kleinen Berufsgewerkschaften wie der GDL, dem Ärzteverband Marburger Bund und der Pilotenvereinigung Cockpit. Und das geht so: Wenn es für eine Berufsgruppe Tarifverträge von zwei Gewerkschaften gibt, dann soll künftig nur noch der Vertrag der Gewerkschaft mit den meisten Mitgliedern im Betrieb gelten. Bei der Bahn wird das Gesetz die größere Bahn-Gewerkschaft EVG stärken. In Kliniken kann Verdi darauf pochen, dass Ärzte nach den Verdi-Regeln vergütet werden und nicht nach den Verträgen des Marburger Bundes. Das will Verdi zurzeit nicht, aber die Zeiten können sich ändern.«
Sie weist darauf hin, dass viele Juristen das Gesetz für verfassungswidrig halten, weil die grundgesetzlich garantierte Koalitionsfreiheit faktisch für einen Teil der Gewerkschaften ausgehebelt wird, denn die kleineren Gewerkschaften können für ihre Mitglieder nichts mehr durchsetzen, sobald ein größerer Konkurrenzverband die Bühne betritt. Die faktische Außerkraftsetzung des Streikrechts für die kleinen Gewerkschaften resultiert wiederum aus der Arbeitskampfrechtsprechung: Als „unverhältnismäßig“ gilt in der Rechtsprechung ein Streik unter anderem dann, wenn er auf ein Ziel gerichtet ist, das mit ihm gar nicht erreicht werden kann. Wenn aber ein angestrebter Tarifvertrag gar nicht erreicht werden kann, weil sowieso der der größeren Organisation gilt, dann müsste der Streik als „unverhältnismäßig“ bewertet und untersagt werden. Warum aber sollen sich dann Arbeitnehmer in der kleineren Gewerkschaft organisieren, wenn die nur im Windschatten der größeren Gewerkschaft segeln darf und kann? Damit aber stellt sich logischerweise die Existenzfrage der kleineren Organisationen.
Genau an diesem gewollten Effekt setzt die Kommentierung von Janko Tietz an, der seinen Beitrag unter die Überschrift Maßlosigkeit ist kein Grundrecht gestellt hat. Und dieser Kommentar beginnt schon mehr als populistisch, weil Ängste vor Chaos schürend:
»Sind Sie zufällig Lackierer bei Volkswagen? Oder Müllmann? Warum haben Sie noch keine eigene Gewerkschaft gegründet? Mit einer Gewerkschaft fürs Lackiererhandwerk oder einer fürs Abfallbeseitungswesen hätten Sie doch wunderbar Ihren Betrieb lahmlegen können. Einfach das doppelte Gehalt fordern, dann streiken – und schon stünden bei Volkswagen die Bänder still oder der Müll würde sich wochen- wenn nicht gar monatelang an den Straßen türmen.
Nichts anders haben Spartengewerkschaften wie die GDL (für Lokführer), die Vereinigung Cockpit (für Piloten) oder der Marburger Bund (für Ärzte) in der Vergangenheit getan: Betriebe in die Knie gezwungen, – man könnte auch sagen, erpresst – um Partikularinteressen durchzusetzen.«
Man möchte dem Mann zurufen: Wie wäre es mit etwas Empirie, bevor man solche Sachen raushaut? Offensichtlich geht es hier um das, was man in der Tarifpolitik mit dem Begriff der „Überbietungskonkurrenz“ zu fassen versucht. Die wird einfach mal so behauptet, um den Hammer, den man jetzt gegen die Sparten- bzw. Berufsgewerkschaften schwingt, zu legitimieren. Aber was sagen die Daten? Dazu ein Blick in meinen Beitrag Die kleinen egoistischen Wilden? Beiträge zur Versachlichung der Debatte über Berufs- und Spartengewerkschaften, in dem ich die lesenswerte Ausarbeitung Wirklich alles Gold, was glänzt? Zur Rolle der Berufs- und Spartengewerkschaften in der Tarifpolitik von Reinhard Bispinck rezipiere:
»Immerhin: »Hohe Tarifabschlüsse durch Cockpit (Lufthansa 2001), Marburger Bund (Ärzte 2006) und GDL (Deutsche Bahn 2008) legen den Schluss nahe: Wenn Berufsgewerkschaften antreten, erzielen sie deutlich bessere Ergebnisse.« Wie so oft kann es helfen, wenn man die Abschlüsse über einen längeren Zeitraum verfolgt. »Das Ergebnis: Bei der Deutschen Bahn hat die EVG in den Jahren 2007 bis 2014 etwas besser abgeschnitten als die GDL, bei der Lufthansa erreichten Cockpit ein Plus von 17 Prozent, UFO 21 Prozent und ver.di 27 Prozent.«
Und wie ist es mit der heftig diskutierten „Streikwelle“ durch diese Gewerkschaften, die auch Tietz an die Wand malt? Auch hier ist wieder ein nüchterner Blick angesagt: »Die Bedeutung der Streiks in der Tarifpolitik der Berufsgewerkschaften wird deutlich überschätzt. Es gibt zwar eine Reihe von spektakulären Arbeitskämpfen, die von Berufsgewerkschaften durchgeführt worden sind, aber keineswegs nur solche. Die normale Tarifrunde einer Berufsgewerkschaft ist nicht immer durch Warnstreiks oder Streiks gekennzeichnet. Im Gegenteil: Wir haben in den letzten Jahren ein völlig normales Tarifgeschäft beobachten können«, so Bispinck in seiner Analyse.
Aber lassen wir Janko Tietz fortfahren mit seinem Lobgesang auf das Tarifeinheitsgesetz, denn er sprich einen zentralen Punkt an:
»Wenn Konzerne wie die Deutsche Bahn oder die Lufthansa argumentierten, dass der Betriebsfrieden gestört werde, wenn es innerhalb eines Unternehmens zig Tarifverträge gibt, war das den Spartengewerkschaften herzlich egal … Maßlosigkeit ist aber kein Grundrecht. Es ist Gift, wenn es innerhalb eines Unternehmens unterschiedliche Bedingungen für gleichwertige Arbeit gibt. Wenn es Gutverdiener gibt, die auf weniger gut Verdienende herabschauen. Wenn für sie deshalb weniger da ist, weil die anderen besonders dreist aufgetreten sind.«
Auch hier möchte man dem Kommentator zurufen: Ein Blick in die betriebliche Realität würde wirklich helfen. Das, was hier effektheischend als Überforderung der armen Unternehmen herausgestellt wird, machen die auf der anderen Seite jeden Tag in teilweise hyperkomplexen Strukturen selbst! Gerade die großen Unternehmen haben überhaupt kein Problem und erst recht keine Skrupel, vielfach „abgeschichtete“ Belegschaften zu managen, Stammbeschäftigte, Leiharbeiter, Werkvertragsbeschäftigte usw. – alle zu ganz unterschiedlichen Tarif- bzw. teilweise eben auch Nicht-Tarifbedingungen. Selbst ein Journalist, der das Gegenteil von gewerkschaftsfreundlich ist, Rainer Hank von der FAZ, hat den logischen Widerspruch klar erkannt und in einem bemerkenswerten Kommentar – Warum Weselsky nicht durchgeknallt ist – auf den Punkt gebracht:
»Es ist die Ironie der Geschichte, dass SPD-Minister sich zum Handlanger der Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (und von Teilen des Deutschen Gewerkschaftsbundes) machen lassen: Die beiden Kartellverbände fühlen sich aus unterschiedlichen Gründen von den kleinen Gewerkschaften bedroht und verstehen es prächtig, ihre Machtanmaßung als Gemeinwohlinteresse zu kaschieren. In Wirklichkeit soll das Diktat der Mehrheit die Minderheit ersticken. Dabei hatten gerade die Arbeitgeberverbände noch nie ein Problem damit, durch Leiharbeit oder Werkverträge verursachte Lohnkonkurrenz in ihren Betrieben friedlich zu handhaben.«
Dem ist leider nichts hinzuzufügen.
Bleibt abschließend noch der Hinweis auf ein zweites Grundproblem des Tarifeinheitsgesetzes – es wird sich als veritables „Bürokratiemonster“ erweisen. Und diese Charakterisierung stammt von Leuten, die es wissen müssen, weil sie das Gesetz auszubaden haben. Also die Arbeitsrichter. Dazu der Artikel Arbeitsrichter rechnen mit mehr Streiks – schon die Überschrift muss irritieren, denn man verspricht uns doch gerade weniger Streiks durch das Ausschalten der angeblich bösen Kleinen. Diese Vorhersage kann man einem Positionspapier des Bundes der Richterinnen und Richter der Arbeitsgerichtsbarkeit (BRA) entnehmen. Schauen wir uns deren Argumentation genauer an:
Der Gesetzentwurf sieht vor, dass bei konkurrierenden Tarifverträgen nur noch der Vertrag der Mehrheitsgewerkschaft gilt. Maßgeblich ist die Mehrheit im Betrieb. Das scheint doch eindeutig. Wo soll hier ein Problem liegen? Mehrheit ist Mehrheit.
So einfach ist es eben nicht, die beiden zentralen Probleme liegen in den Begriffen „Betrieb“ und auch „Mehrheit“. Dazu liefert der Artikel de folgende Erläuterung am Beispiel der Tarifauseinandersetzungen bei der Deutschen Bahn, die ja gleichzeitig mit der GDL und der DGB-Gewerkschaft EVG verhandelt:
»Wenn das Tarifeinheitsgesetz bereits in Kraft wäre, dürfte die GDL weiter streiken, weil sie möglicherweise in einem der über 300 Bahnbetriebe die Mehrheit hat … „Ihr Tarifvertrag könnte irgendwo zur Anwendung kommen, deswegen dürfte sie auch streiken.“ Und zwar im gesamten Unternehmen. Das ergebe sich aus der Rechtsprechung des Bundesarbeitsgerichts. Nach Angaben eines EVG-Sprechers hat die GDL tatsächlich in einigen wenigen Bahnbetrieben die Mehrheit.«
Faktisch bedeutet das für die Praxis, dass man die „Betriebsfrage“ in den Unternehmen klären muss und dann zu ermitteln hat, wer denn konkret in dem Betrieb die Mehrheit hat. das hört sich einfacher an, als es daherkommt, denn man muss dafür wissen, ob und wer der Arbeitnehmer Mitglied in welcher Gewerkschaft ist. Gleichzeitig gibt es aber auch das Recht, dass man nicht gezwungen werden kann, seine Mitgliedschaft zu einer Gewerkschaft offenzulegen. Das wird viel Arbeit machen und sicher auch viele neuen Einnahmen auf der Seite der juristischen Fachkräfte generieren.
Damit aber nicht genug. Diese Ausgestaltung des Tarifeinheitsgesetzes kann sich als Streiksteigerungsprogramm erweisen:
»Wenn sowohl die EVG, als auch die GDL einen Tarifvertrag abgeschlossen haben, müsste laut Tarifeinheitsgesetz geklärt werden, welche Gewerkschaft in den einzelnen Bahnbetrieben mehr Mitglieder hat. Der Tarifvertrag der Mehrheitsgewerkschaft würde dann in dem jeweiligen Betrieb gelten, der andere würde verdrängt.
Um in möglichst vielen Betrieben zum Zug zu kommen, müssten die Gewerkschaften um Mitglieder werben. Dieser Wettbewerb „kann durch das geplante Gesetz noch beflügelt werden“, schlussfolgert der Arbeitsrichter-Verband. „Der im Betrieb unterlegenen Gewerkschaft bleibt meist nichts anderes, als durch Streikmaßnahmen vermehrt auf sich aufmerksam zu machen.“«
Und es wird noch besser, wenn man die Hoffnung vieler Befürworter des neuen Gesetzes vor Augen hat, dass es jetzt wesentlich einfacher wird, Arbeitskampfmaßnahmen zu verbieten:
»Arbeitsgerichte könnten Streiks von Berufsgewerkschaften in aller Regel nicht einfacher als bisher verbieten, erläutert Vetter, der auch Vizepräsident des Landesarbeitsgerichts Nürnberg ist. Denn das Gesetz sieht vor, dass die Mehrheits-Verhältnisse erst dann geklärt werden, wenn beide konkurrierenden Tarifverträge vorliegen. „Während gestreikt wird, weiß das Gericht noch nicht, wer zum Zeitpunkt des Abschlusses mehr Mitglieder hat.“«
Alles klar? Und das soll eine sinnvolle Regelung sein?
Nein, natürlich nicht.
Und weitaus schlimmer – dieses Gesetz kann sich als Türöffner erweisen für die nächsten Schritte der Einschränkung des Streikrechts, die bereits vorbereitet werden und die dann alle, auch die DGB-Gewerkschaften treffen werden. Vgl. dazu meinen Beitrag Die Katze aus dem Sack lassen. Unionspolitiker fordern eine explizite Verankerung des Streikverbots für kleine Gewerkschaften und in der „Daseinsvorsorge“ Einschränkungen des Streikrechts für alle. Man benötigt nicht wirklich prognostische Kompetenzen um vorherzusagen, dass alsbald die nächsten Forderungen nachgeschoben werden. Und schneller als man denkt sind alle Gewerkschaften auf einer ziemlich glatten Rutschbahn nach unten.