Von damaligen Mauern, beseitigten Mauern und fortbestehenden Mauern (nicht nur) in den Köpfen

Auch wenn am heutigen Tag 25 Jahre Öffnung der Mauer gefeiert wird – was danach kam, war und ist oftmals geprägt durch eine negative Berichterstattung und man muss natürlich auch sehen, dass sich das Leben von Millionen Ostdeutschen in den vergangenen 25 Jahre ganz erheblich verändert hat (was man von vielen Westdeutschen nicht unbedingt sagen kann). Mehrere Millionen Menschen haben in dieser Zeit ihren Arbeitsplatz verloren und viele, vor allem die Älteren, haben danach nie wieder richtig einen Fuß auf den arbeitsmarktlichen Boden bekommen. Viele Berufe der ehemaligen DDR und damit auch die dahinter stehenden Biografien der Menschen wurden im Zuge der Wiedervereinigung entwertet. Große Teile der Industrie in den ostdeutschen Bundesländer verschwanden von der Landkarte. Und die Schaffung neuer Strukturen und vor allem neuer Arbeitsplätze erweist sich bis heute als ein schwieriges Unterfangen. Infolgedessen liegen die Löhne in den meisten Branchen auch heute noch teilweise deutlich niedriger als im Westen. Und nicht vergessen werden sollte, dass viele Menschen, gerade jüngere und gut ausgebildete, die ostdeutschen Bundesländer verlassen haben, um dahin zu gehen, wo die Jobs sind. Das führte vor allem in den 1990er Jahren zu einem massiven Entzug von Menschen. So könnte man jetzt weitermachen mit den negativen Aspekten der Folgen der Wiedervereinigung – aber bekanntlich sollte man sich hüten, nur einseitig auf etwas zu schauen. Wo sind die positiven Aspekte?


Vielleicht hilft uns – hinsichtlich der ökonomischen Dimensionen – der folgende Beitrag aus dem Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW):
Die Wiedervereinigung – eine ökonomische Erfolgsgeschichte, so ist der DIW Wochenbericht Nr. 40/2014 gleichsam euphemistisch überschrieben, mit Beiträgen von Karl Brenke, Marcel Fratzscher, Markus M. Grabka, Elke Holst, Sebastian Hülle, Stefan Liebig, Maximilian Priem, Anika Rasner, Pia S. Schober, Jürgen Schupp, Juliane F. Stahl und Anna Weiber überschrieben. Bei so vielen Autoren muss das gewichtig sein. In diesem Heft findet sich auch der Artikel Ostdeutschland – ein langer Weg des wirtschaftlichen Aufholens von Karl Brenke. Der schreibt in seiner Einleitung:

»Der wirtschaftliche Rückstand Ostdeutschlands gegenüber Westdeutschland ist 25 Jahre nach dem Fall der Mauer immer noch groß. Beim Bruttoinlandsprodukt je Einwohner werden 71 Prozent und bei der Produktivität etwa drei Viertel des westdeutschen Niveaus erreicht. Der Aufholprozess kommt nur noch sehr langsam voran. Der entscheidende Grund für die geringe Produktivität ist der Mangel an hochqualifizierten Tätigkeiten. Zudem ist die ostdeutsche Wirtschaft vergleichsweise kleinteilig strukturiert. Das verfügbare Einkommen je Einwohner liegt in Ostdeutschland bei 83 Prozent des westdeutschen Wertes. An dieser Relation hat sich seit Ende der 90er Jahre nichts Wesentliches geändert. Die Arbeitslosigkeit ist in Ostdeutschland noch relativ hoch, in den vergangenen Jahren ist sie aber stärker als in Westdeutschland zurückgegangen. Dies ist allerdings zum Teil Folge des schrumpfenden Erwerbspersonenpotentials; besonders deutlich geht die Zahl der Jugendlichen zurück.

Die Erwartung zur Zeit der Wende, dass der Osten bei Wirtschaftskraft und Lebensstandard rasch zum Westen aufschließen wird, hat sich nicht erfüllt. Sie war auch übertrieben, denn man ging davon aus, dass eine traditionell dünn besiedelte Transformationsregion in relativ kurzer Zeit eine der leistungsfähigsten Ökonomien der Welt einholen könnte. Gleichwohl gibt es große Anpassungsfortschritte. Insbesondere ist in Ostdeutschland eine Re-Industrialisierung gelungen. Eine große Herausforderung stellt der demografische Wandel dar. Die Zahl junger Erwerbspersonen geht in Ostdeutschland deutlich stärker zurück als in Westdeutschland. Um Fachkräfte zu halten oder anzuziehen, muss in Ostdeutschland das Angebot attraktiver Arbeitsplätze mit guter Entlohnung gesteigert werden. Höhere Löhne müssen allerdings mit höherer Produktivität einhergehen und diese wiederum erfordert eine verstärkte Innovationstätigkeit.«

Auch der Beitrag von Maximilian Priem und Jürgen Schupp Alle zufrieden – Lebensverhältnisse in Deutschland, der über die Lebenszufriedenheit der Menschen in Ost- und Westdeutschland auf der Grundlage ihrer eigenen Einschätzung berichtet, kommt zu einem insgesamt erfreulichen Ergebnis:

»25 Jahre nach dem Fall der Mauer haben sich die Lebensverhältnisse in Ost- und Westdeutschland noch nicht vollständig angeglichen. Das war freilich in realistischer Betrachtung auch nicht zu erwarten. Trotz steigender Lebenszufriedenheit in den neuen Bundesländern konnte der Ost-West-Unterschied noch nicht nivelliert werden. Dies belegen die aktuellsten vom DIW Berlin in Zusammenarbeit mit TNS Infratest Sozialforschung erhobenen Daten der Langzeitstudie Sozio-oekonomisches Panel (SOEP). Demnach sind Menschen in Ostdeutschland im Jahr 2013 signifikant weniger zufrieden als in Westdeutschland, obwohl ihre Zufriedenheit so hoch ist wie noch nie im Zeitraum der Erhebung, die dort im Juni 1990 – kurz vor der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion – erstmals durchgeführt wurde. Weitere subjektive Indikatoren zeigen Differenzen in der Zufriedenheit mit dem Haushaltseinkommen, der Gesundheit und der Kinderbetreuung. Angeglichen hat sich die Zufriedenheit mit der Wohnung, der Haushaltstätigkeit, Arbeit und Freizeit. Die Menschen in Ostdeutschland sorgen sich stärker um die eigene wirtschaftliche Situation und Kriminalität, während die Sorge um Ausländerfeindlichkeit und den Arbeitsplatz in ganz Deutschland abgenommen hat. Die SOEP-Befragungen zeigen: Die Lebensverhältnisse in Deutschland sind aus Sicht der Menschen weitgehend angeglichen. Trotz etlicher Probleme im Detail, wozu in den nächsten Jahren insbesondere die Entwicklung der Neurenten in Ostdeutschland zählen wird, ist die deutsche Wiedervereinigung eine ungewöhnliche Erfolgsgeschichte.«

Auch das Institut für Wirtschaftsforschung Halle hat ebenfalls im Umfeld des heutigen Tages eine interessante Broschüre veröffentlicht, in der wichtige Forschungsergebnisse aus diesem Institut, das ja seinen Sitz hat in Ostdeutschland hat, über die ökonomischen Folgen der Wiedervereinigung zusammengefasst sind:

IWH: 25 Jahre nach dem Mauerfall: Wirtschaftliche Integration Ostdeutschlands im Spiegel der Forschung am IWH, 2014

Bereits angesprochen wurde die Thematik der Lohnentwicklung in Ostdeutschland. Hierzu gibt es eine neue Veröffentlichung vom Institut Arbeit und Qualifikation (IAQ) von Universität Duisburg-Essen:

Gerhard Bosch, Thorsten Kalina und Claudia Weinkopf: 25 Jahre nach dem Mauerfall – Ostlöhne holen nur schleppend auf (= IAQ-Report 2014-15), Duisburg, 2014.

Die IAQ-Forscher haben interessante Befunde zusammengetragen (vgl. Bosch/Kalina/Weinkopf 2014: 1):

»Die Stundenlöhne in Ostdeutschland haben sich von knapp 54% im Jahr 1992 bis auf 77% im Jahr 2012 an das Westniveau angenähert. Ein Großteil der Annäherung erfolgte in den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung; seit 1995 hat sich der Angleichungsprozess deutlich verlangsamt. Ohne Änderungen in der Lohnpolitik werden die Ostlöhne erst im Jahre 2081 das Westniveau erreichen.

Der ostdeutsche öffentliche Dienst ist Vorreiter bei der Angleichung der Löhne; im ostdeutschen produzierenden Gewerbe stockt hingegen schon seit Mitte der 1990er Jahre der Angleichungsprozess.

In beiden Landesteilen hat die Ungleichheit der Lohnverteilung zugenommen. Am stärksten stiegen die oberen Löhne im Osten, am geringsten hingegen die unteren Löhne im Westen. Wir beobachten also nicht mehr alleine einen Aufholprozess des Ostens, sondern auch den Lohnverfall für Geringverdienende im Westen.

Die ostdeutschen Frauen erreichen 2012 bei den mittleren Verdiensten bereits 85,5% des westdeutschen Niveaus. Aufgrund des schnelleren Aufholprozesses bei den Frauenlöhnen ist der gender pay gap in Ostdeutschland erheblich geringer als in Westdeutschland.

Der gesetzliche Mindestlohn kann neuen Schwung in den Aufholprozess bringen, weil erheblich mehr ostdeutsche (29,3%) als westdeutsche Beschäftigte (16,9%) davon profitieren werden.«

Die vom IAQ präsentierten Befunde markieren einen wichtigen Punkt: Wir sind nach 25 Jahren weit weg von einer einheitlichen Asymmetrie zuungunsten des Ostens und zugunsten des Westens. Dies verdeutlicht das folgende Zitat: »Am stärksten stiegen die oberen Löhne im Osten, am geringsten hingegen die unteren Löhne im Westen.«

Vergleichbare Differenzierungen sehen wir auch in der Rentenversicherung, dem wichtigsten Teilbereich des Alterssicherungssystems. Hierzu beispielsweise der Beitrag Geschlechtsspezifische Rentenlücke in Ost und West von Anika Rasner:

»25 Jahre nach dem Mauerfall kommen Männer in Ost- und Westdeutschland in der wichtigsten Säule des deutschen Alterssicherungssystems auf ein vergleichbares Niveau. Im Durchschnitt übertreffen die Renten ostdeutscher Frauen die der Westdeutschen hingegen deutlich. Die geschlechtsspezifischen Unterschiede in den Rentenanwartschaften ostdeutscher Männer und Frauen werden im Kohortenvergleich geringer. Dieser Rückgang ist allerdings weniger das Ergebnis höherer Rentenanwartschaften ostdeutscher Frauen, sondern eher Folge deutlicher Einbußen bei den ostdeutschen Männern. Trotz allem werden die Rentenanwartschaften ostdeutscher Frauen auch in Zukunft deutlich höher als die westdeutscher Frauen liegen. In Westdeutschland bleibt die geschlechtsspezifische Rentenlücke im Kohortenvergleich hingegen konstant groß. Die westdeutschen Frauen der Babyboomer-Jahrgänge können den Abstand zu den Männern trotz zunehmender Erwerbsbeteiligung nur unwesentlich verkleinern« (Rasner 2014: 976).

Diese wenigen Daten mögen genügen, um dafür zu werben, den Blick auf fortbestehende, aber auch neu justierte Mauern gerade in der sozialpolitischen Landschaft zu schärfen, die Vergangenheit zur Kenntnis zu nehmen und zu berücksichtigen, sich aber nicht in ihr zu verlieren.

Angleichung „von unten“ und „von oben“. Zur Erwerbstätigkeit von Frauen ist West- und Ostdeutschland anlässlich des Tags der deutschen Einheit

Der 3. Oktober ist der Tag der deutschen Einheit. Bei weiter fortbestehenden Unterschieden zwischen Ost und West. Statistisch und inhaltlich gesehen gibt es immer noch in vielen Bereichen eine weniger brutale, dennoch wirksame Mauer zwischen den beiden Teilen Deutschlands (vgl. hierzu die Daten in dem Feature Das geteilte Land).

An dieser Stelle soll ein Blick auf die Unterschiede und die Annäherungen, die man seit der Wiedervereinigung hinsichtlich der Erwerbstätigkeit der Frauen identifizieren kann, geworfen werden, um einen Aspekt aus dem Universum der sozial- und gesellschaftspolitisch relevanten Themen herauszugreifen.

Dazu haben die beiden Wissenschaftlerinnen Elke Holst und Anna Wieber vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin einen Beitrag veröffentlicht und diesen überschrieben mit: Bei der Erwerbstätigkeit der Frauen liegt Ostdeutschland vorn. Darin führen sie aus:

»Auch fast ein Vierteljahrhundert nach dem Mauerfall liegt die Erwerbstätigkeit von Frauen in Ostdeutschland immer noch höher als in Westdeutschland. Der Abstand ist heute allerdings gering. Gestartet sind die beiden Regionen von höchst unterschiedlichen Niveaus. Im Westen lag die Erwerbstätigenquote von Frauen kurz nach der Wende (1991) bei 54,6 Prozent und ist seitdem von Jahr zu Jahr auf 67,5 Prozent (2012) gestiegen. In Ostdeutschland ging sie nach der Wende zunächst massiv zurück, stieg dann aber wieder deutlich an und lag 2012 mit 69,1 Prozent leicht höher als im Westen. In beiden Teilen Deutschlands arbeiten Frauen häufiger in Teilzeit als früher, im Osten lag der tatsächliche Arbeitsumfang mit 27,8 Wochenstunden 2013 aber deutlich höher als im Westen (21,7 Stunden). Viele von ihnen, das zeigt die Studie des DIW Berlin auf Grundlage des SOEP, würden gern mehr Wochenstunden leisten. Vergleicht man die gewünschte, vereinbarte und tatsächliche Wochenarbeitszeit von Frauen in Ost und West, so liegen in der Durchschnittsbetrachtung die ostdeutschen Frauen in allen drei Kategorien über dem höchsten Wert aller Arbeitszeitgrößen im Westen. Die meisten erwerbstätigen Männer in Ost und West wollten 2013 hingegen 40 Wochenstunden arbeiten, tatsächlich tun dies aber im Westen nur 22,6 Prozent und im Osten 29,2 Prozent. Die meisten sind länger erwerbstätig; obwohl lange Arbeitszeiten auch bei den Männern unbeliebt sind. Die Veränderungen nach der Wende hatten erhebliche Auswirkungen auf die Lebensformen in Paarhaushalten mit Kindern: Das modernisierte Ernährermodell (Vater Vollzeit / Mutter Teilzeit) hat in beiden Teilen Deutschlands an Gewicht hinzugewonnen – in Westdeutschland auf Kosten des Alleinernährermodells (Vater Alleinverdiener), im Osten auf Kosten des Egalitätsmodells mit zwei Vollzeitbeschäftigten.« (vgl. zur gesamten Untersuchung Elke
Holst und Anna Wieber: Bei der Erwerbstätigkeit der Frauen liegtOstdeutschland vorn, in: DIW-Wochenbericht, Nr. 40/2014, S. 967 ff.)

Besonders die Ausführungen im letzten Teil des Zitats sind hervorzuheben. Man kann das vielleicht so zusammenfassen: Was wir seit der Wiedervereinigung sehen ist eine „doppelte Angleichung“ zwischen Ost und West. „Doppelt“ in dem Sinne, dass sich die Lebensformen der Paare im Westen „nach oben“ angeglichen haben, also weg von dem traditionellen Alleinernährermodell des Mannes bei einer zunehmenden überwiegend teilzeitigen Integration der Frauen in Erwerbsarbeit, während es im Osten des Landes eine Angleichung „nach unten“ gegeben hat, denn auch hier hat das Gewicht des „modernisierten Ernährermodells“ (er arbeit Vollzeit, sie Teilzeit) zugenommen, allerdings auf Kosten des früher stärker verbreiteten Egalitätsmodells, bei dem Mann und Frau Vollzeit arbeiten. Dass sich damit angesichts der spezifischen Verwobenheit der sozialen Sicherungssysteme mit dem Tatbestand einer Vollzeiterwerbstätigkeit die Frauen auf Dauer sozialpolitisch gesehen ins Knie schießen, ist ein Folgeproblem, mit dem dann nicht nur wie in der Vergangenheit die meisten westdeutschen Frauen konfrontiert sein werden, sondern zunehmend auch mehr ostdeutsche Frauen, von denen dann viele zusätzlich belastet sind durch die höhere und oftmals auch deutlich länger andauernden Arbeitslosigkeitsphasen im Lebensverlauf. Auch eine Form der Herstellung von Einheit, ein Begriff, der ja nicht für sich aussagt, was, wer, wie und vor allem in welche Richtung vereinheitlicht wird.

Vom (eigentlich frauenbewegten) „Muttertag“ diesseits und jenseits des Blumenhandels bis hin zu einem (vergifteten) Lobgesang auf die unbezahlte Hausarbeit

Die Ausgestaltung der Familienpolitik ist eine höchst umstrittene Angelegenheit und weitaus stärker als in anderen gesellschaftspolitischen Feldern prallen hier Ideologien aufeinander – man denke nur an die aufgeheizte Debatte über das Für und Wider einer frühen außerfamilialen Kinderbetreuung, die sich oft genug in einem Entweder-Oder verengt. Hier gibt es Parallelen zum „Muttertag“, der an jedem zweiten Sonntag im Mai eines Jahres abgehalten wird. Während die einen diesen „Feiertag“ mit Blumen und einem netten Frühstück für die Mutter, zuweilen aufgrund mobilitätsbedingter Abwesenheit auch vermittels eines Glückwünsche aussprechenden Telefonats würdigen, wenden sich die anderen voller Skepsis ab und verweisen wahlweise darauf, dass es sich um eine reine Kommerzveranstaltung zugunsten des Blumenhandels und/oder um eine Erfindung der Nationalsozialisten als PR-Veranstaltung für das deutsche „Mutterkreuz“ handelt. Beides enthält zwar im Kern eine Wahrheit, ist aber eine sehr grobe Verkürzung der Geschichte und Intention des „Muttertages“. So widersprüchlich ist das auch mit der angeblich sich immer stärker durchsetzenden Selbstverständlichkeit einer Erwerbstätigkeit der Frauen und einem dem sich in den Weg stellenden Lobgesang auf die unbezahlte Hausarbeit.

Wenn auch in diesem Beitrag ein kürzlich veröffentlichter „Lobgesang“ auf die unbezahlte Hausarbeit (der Frauen) im Mittelpunkt stehen soll, sei ein kurzer Rückblick auf die Entstehung und Umsetzung dessen, was heutzutage als „Muttertag“ begangen wird, erlaubt – kann man doch an diesem Beispiel erneut lernen, dass etwas oft mit einer bestimmten Absicht begonnen wird und im weiteren Verlauf der Dinge landet man dann ganz weit weg von den Intentionen dessen, was da ins Leben gerufen wurde.

Der Muttertag hat seinen Ursprung nicht in den Untiefen der nationalsozialistischen Mutterideologie und auch nicht in den Blumenläden auf der Suche nach neuen Absatzkanälen – sondern in der amerikanischen Frauenbewegung. Ann Maria Reeves Jarvis (1832-1905) versuchte im Jahr 1865, eine Mütterbewegung namens Mothers Friendships Day zu gründen und sie organisierte Mothers Day Meetings, wo sich die Frauen austauschen konnten. Als Begründerin des heutigen Muttertags gilt jedoch Anna Marie Jarvis (1864-1948), die Tochter von Ann Maria Reeves Jarvis. In ihrem 2008 veröffentlichten Beitrag Die Muttertagsmaschinerie schreibt Sandra Kegel zu dieser Frau (und ihrer Mutter):

»Begonnen hat alles mit dem Einsatz der unverheirateten und kinderlosen Lehrerin, die im Hause ihrer Eltern lebt, für die Rechte der Frauen, die ihrer Ansicht nach unterdrückt werden, etwa, weil sie nicht wählen dürfen. Unterstützt wird Anna Jarvis von ihrer Mutter Ann, die ebenfalls politisch aktiv ist und im Jahr 1858 die Vereinigung „Mother’s Work Days“ gründet, um gegen hohe Kindersterblichkeit und für bessere sanitäre Anlagen zu kämpfen. Während des amerikanischen Bürgerkriegs mobilisiert sie Geschlechtsgenossinnen und kümmert sich mit ihnen um die Verwundeten auf beiden Seiten sowie um die Annäherung der verfeindeten Lager.«

Frauen- und Friedensbewegung. Das sind also die Quellen dessen, was wir als „Muttertag“ besprechen. Als die Mutter 1905 starb, kam ihrer Tochter Anna der folgenreiche Gedanke, einmal im Jahr nicht nur an das Werk der eigenen, sondern aller Mütter zu erinnern. Und wichtig in diesem Entstehungskontext: »Was ihr vorschwebt, ist nicht die Würdigung eines Mutterbilds von edler Einfalt, stiller Größe und nimmermüder Opferbereitschaft. Der Tochter eines Methodistenpfarrers ist es um die soziale und politische Rolle von Frauen in der Gesellschaft zu tun«, so Kegel in ihrem Artikel. Aus diesem Impuls entwickelte sich eine Bewegung, die dazu geführt hat, dass 1914 der „Muttertag“ erstmals als offizieller Feiertag in den USA begangen werden konnte. Und jetzt passierte, was man in vielen anderen Beispielfällen auch immer wieder erleben muss – das kapitalistische System zeichnet sich aus durch eine unglaubliche Kapazität der „Landnahme“ solcher Dinge, die ursprünglich eine ganz andere Intention verfolgen wollten als denn die Steigerung der Absatzzahlen irgendwelcher „Merchandising“-Produkte in diesem Fall rund um einen Feiertag. Aber die Kommerzialisierung des „Muttertages“ war unaufhaltsam – und sie bzw. die kommerziellen Potenziale waren der Auslöser für die Übernahme in Deutschland. Diese wurde allerdings vermengt mit einer ganz anderen ideologischen Ummantelung des Themas als in den Anfängen in den USA.

Sandra Kegel schreibt zum Import der Muttertagsidee nach Deutschland: »In Deutschland ist es ein gewisser Rudolf Knauer, der 1922, als er aus Amerika von der Idee erfährt, begeistert mit Vortragsreisen durchs Land zieht und für eine solche Feier zu Ehren „der stillen Heldinnen unseres Volkes“ wirbt. Knauer aber handelt nicht als treusorgender Ehemann und Sohn, sondern als Beauftragter des Verbands Deutscher Blumengeschäftsinhaber, dessen Vorsitzender er 1923 wird – in jenem Jahr also, in dem die Inflation in Deutschland ihren Höhepunkt erreicht.« Da sind sie also schon, die Blumenhändler. Es ist spannend, wenn man den Ausführungen von Kegel folgt, denn wir sehen hier ein frühes Fallbeispiel moderner PR-Arbeit:

»Knauer wendet für seine Blumenoffensive geschickt eine PR-Strategie an, die man heute social marketing nennen würde: In der Verbandszeitung fordert er die Blumenhändler auf, „irgendeine gemeinnützige Gesellschaft“ als „neutrale Stelle“ zu finden, um den Muttertag aus Amerika zu importieren: „Ein zu starkes Hervortreten der Blumengeschäftsinhaber in Deutschland wäre einer baldigen Einführung nicht zum Vorteil“, warnt der Blumenlobbyist. Die „neutrale Stelle“ ist im Jahr 1925 gefunden: Die „Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung“ – ein Dachverband konservativ bis völkisch orientierter Vereine, in dem sich Alkoholgegner ebenso organisieren wie der Reichsbund der Kinderreichen, die kirchlichen Frauenverbände und Sittlichkeitsvereine „zur Bekämpfung von Schmutz und Schund“ – nimmt das Ansinnen Rudolf Knauers nur zu gern auf. Denn dieses Umfeld sieht die Mutterschaft als wahre Berufung der Frau und geißelt weibliche Berufstätigkeit, genauso wie die immer populärer werdende Emanzipationsbewegung.«

Vor diesem spezifischen Entstehungshintergrund der Übernahme des „Muttertages“ in Deutschland ist zum einen die hervorragende Kompatibilität für die nationalsozialistische Ideologie verständlich (bereits 1933 wurde der Muttertag von den Nazis zum öffentlichen Feiertag erklärt und erstmals am 3. Maisonntag 1934 als „Gedenk- und Ehrentag der deutschen Mütter“ verankert) wie auch die bis heute immer wieder mitlaufende ideologische Ablehnung des Muttertages als ein Symboltag für ein bestimmtes Frauenbild. Anfang der fünfziger Jahre wird der Muttertag wiederbelebt, allerdings nur in der Bundesrepublik; die DDR, wo er als westlich-reaktionär verschrien ist, ersetzt ihn durch den „Internationalen Frauentag“ am 8. März.
Eine bittere Abrundung des Rückblicks auf Entstehung und Entfaltung des „Muttertages“ sei an dieser Stelle aus dem lesenswerten Artikel von Sandra Kegel geliefert:

»„I wanted it to be a day of sentiment, not profit“, zürnte Anna Jarvis, die einen Gedenk- nicht einen Geschenktag gewollt hatte und gegen die Blumenindustrie zahllose Prozesse führte.
Ihr Versuch, das ideelle Ereignis vor der Kommerzialisierung zu bewahren, blieb freilich erfolglos. Am Ende verlor Anna Jarvis in dem aussichtslosen Feldzug ihr gesamtes Vermögen und starb 1948 in einem Altenheim, arm und vergessen. Sie hat nie erfahren, dass die Kosten für ihren Aufenthalt dort ebenjene übernahmen, die sie die letzten zwanzig Jahre ihres Lebens erbittert bekämpft hatte, und die ihr doch so viel zu verdanken haben: die Blumenhändler.«

Wie gesagt – bitter. Deshalb an dieser Stelle zurück in die Gegenwart. In der bekanntlich alles viel besser geworden ist als früher, als man noch um basale Rechte der Frauen kämpfen musste. Denn heute seien wir auf dem Weg in die Vollendung der Gleichberechtigung der Geschlechter, zu der  auch eine Integration der Frauen in Erwerbsarbeit gehört und dies ist angesichts der Bedeutung von Erwerbsarbeit in unserer Gesellschaft von fundamentaler Bedeutung (für die Frauen).
Das wird allerdings immer wieder angezweifelt bis bekämpft, nicht wirklich überraschend oft von Männern, die diese Entwicklung als das sehen, was sie ist – eine Infragestellung der Lebensmodelle, in denen viele von ihnen leben und in denen sie durchaus handfeste Vorteile im Alltag genießen können, wenn man sich die ungleiche Verteilung der Haushalts-, Erziehungs- und Pflegeaufgaben anschaut. Aber „natürlich“ argumentiert man nicht aus seinen eigenen Vorteilen heraus, sondern versucht es von hinten herum.

Als Beispiel sei an dieser Stelle der denkwürdige Beitrag Haltet die Hausarbeit in Ehren! von Ferdinand Knauß zitiert, der in der Online-Ausgabe der WirtschaftsWoche veröffentlicht worden ist. Die Botschaft des Verfassers wird gleich an den Anfang und das unmissverständlich platziert: »Familienpolitik hat heute vor allem ein Ziel: Häusliche Arbeit zu diskreditieren und Eltern für das Erwerbsleben „frei“ zu machen. Es wird höchste Zeit für eine neue Wertschätzung der unbezahlten Arbeit.« Knauß greift einen aktuellen Anlass für seine grundsätzliche Kritik auf: Einen Vortrag der Bundesfamilienministerin Manuela Schwesig (SPD) zum Thema „Familienpolitik 2.0“ im WZB, dem Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (einen Videomitschnitt der Veranstaltung findet man in dem Beitrag „Junge Wissenschaft diskutiert mit Manuela Schwesig„). Für Knauß ist das, was hier so als „Familienpolitik“ 1.0 oder auch 2.0 daherkommt, in Wirklichkeit eine Anti-Familienpolitik, denn »das eigentliche Ziel dieser Politik ist nicht die Stärkung, sondern die Schwächung der Familie, indem sie die Wertschätzung der in keiner BIP-Statistik verzeichneten, aber für die Gesellschaft unverzichtbaren Dienstleistungen in den Familien beständig untergräbt.«
Und dann legt der Autor – offensichtlich ein ausgewiesener Frauenkenner – so richtig los, denn für ihn ist die moderne Familienpolitik nichts weiter als eine große Erzählung: »Es ist die Geschichte der Befreiung der Frau von der Fron am „Herd“. Die Familie ist in dieser Erzählung ein gesellschaftliches Gefängnis, das die Frauen daran hindert, sich frei zu entfalten – nämlich durch Erwerbsarbeit. Es ist daher auch eine sozialdemokratische, letztlich eine marxistisch-materialistische Erzählung, da sie auf der Überzeugung fußt, dass nur die Erwerbsarbeit dem Leben einen Sinn gibt.« Ah ja. Da kann es nicht überraschen, dass wieder einmal die von einigen als „Herdprämie“ bezeichnete neue Geldleistung „Betreuungsgeld“ für die semantische Beweisführung herhalten muss. Mit diesem Begriff sei der politische Diskurs „versaut“ und der »Stellenwert häuslicher Arbeit in Deutschland endgültig in den Dreck gezogen« worden.

Aber Knauß hat Steigerungsformen in seiner Argumentation: Er plädiert für eine neue Perspektive, eine neue Erzählung: Denn seiner Meinung nach könnte „gleichberechtigte Teilhabe“ an der Erwerbsarbeit ebenso gut als eine Geschichte der Unterwerfung erzählt werden. Und diese Deutungslinie ist nicht ohne, enthält sie natürlich auch Elemente, die man nicht von der Hand weisen kann (ohne allerdings die gleichen Schlussfolgerungen ziehen zu müssen): »Die Freiheit von der Familie, die die Frauen gewonnen haben, wird bezahlt durch eine neue Unterwerfung: nämlich unter die Zwänge des Erwerbslebens.«

Und wie schon immer bei konservativen Kritikern der Moderne findet man scheinbar (!) antikapitalistische Züge in der Argumentation: »Die Ausbreitung von Markt und Staat auf Kosten der Familien ist auch eine Geschichte des Verlusts von Ordnung und Sicherheit. Die meisten Menschen wünschen sich einen „Herd“, einen Ort des Rückzugs vom öffentlichen, kalten, staats- und marktbeherrschten Arbeitsleben. Einen Ort, an dem man nicht nach den ehernen Gesetzen von Angebot und Nachfrage arbeitet und verdient, sondern aus allzu menschlichen Gründen, die dem Markt unbekannt sind. Dieser Ort ist für die meisten Menschen die Familie.« Dem kann man ja grundsätzlich nicht widersprechen, wenn es denn einen solchen Ort in der konkreten Familie – außerhalb der wenigen großbürgerlichen Familien – je wirklich gegeben hätte.
Aber auch hier finden sich wieder durchaus richtige Gedanken: »In einer Volkswirtschaft, die vor allem aus Alleinernährer-Hausfrauen-Familien besteht, müssen Arbeitnehmer so gut bezahlt werden, dass sie allein Familien unterhalten können. In einer aus Zwei-Verdiener-Haushalten bestehenden Gesellschaft steigt die Marktmacht der Arbeitgeber, niedrigere Gehälter durchzusetzen.«
Ferdinand Knauß macht dann einen weiteren Strang auf, der zuerst einmal durchaus berechtigt daherkommt:

»Der Sozialstaat muss alles übernehmen, wofür die in Erwerbsarbeit drängenden und gelockten Menschen keine Zeit und keine Nerven mehr haben. Das heißt, der Staat organisiert zum Ersatz der wegfallenden Familienarbeit Kitas und andere Dienstleistungen, die das verhasste „Heimchen am Herd“ (alias die Mutter) ersetzen sollen.
Das hat den willkommenen Nebeneffekt, dass aus informeller und in keiner volkswirtschaftlichen Statistik verzeichneten Familienarbeit neue Erwerbsarbeit entsteht: Das Gehalt von Erzieherinnen geht ins BIP ein, die Erziehungsleistungen von Müttern und Vätern nicht. Die Frauen arbeiten also außerhalb der Familie, um für die Aufgaben, die ihre Mütter noch selbst übernahmen, familienfremde Dienstleistungen finanzieren zu können.«

Das liegt in der Natur der Sache und der Rechenwerke und hat immer schon eine Rolle gespielt bei einer kritischen Auseinandersetzung mit den (Nicht-)Inhalten dessen, was wir im Bruttoinlandsprodukt (nicht) abbilden. Letztendlich liegen die grundsätzlichen Fragen, die hier angesprochen werden, allen Versuchen zugrunde, die eine Alternative zur herrschenden Wohlfahrtsbestimmung entwickeln wollen.

Den „vergifteten“ Charakter der Argumentation von Knauß kann man abschließend an den folgenden Ausführungen herausarbeiten, die prima facie vielen aus der Seele sprechen werden, vor allem denen, die tatsächlich eingespannt sind in Erwerbs-, Haus-, Familien- und sonstige Arbeit:

»Warum eigentlich soll eine Existenz als Sachbearbeiter in einem Großraumbüro, der für anderer Leute Kapital die Rendite erwirtschaftet, so viel erstrebenswerter sein als die Existenz von Müttern und Vätern, die ohne fremde Aufsicht eigenverantwortlich einen Haushalt führen und sich um das schönste und wichtigste auf der Welt kümmern, nämlich die eigenen Kinder? … (das) wird befördert von den immer deutlicher werdenden Anzeichen der Überforderung der Gesellschaft durch das Eindringen der Marktmechanismen in alle Ritzen des Lebens. Je stärker die Erwerbstätigen unter der zunehmenden Verdichtung und Entgrenzung der Erwerbsarbeit leiden und je größer dadurch die Zahl der unter Stress, Burn-out und Erschöpfung leidenden Erwerbsarbeiter wird, desto eher dürfte die Erkenntnis wachsen, dass Kochen, Wickeln und Wäscheaufhängen im Vergleich dazu gar nicht so furchtbare Beschäftigungen sind.«

Ja, so ist es, möchte man ausrufen – und so ist es eben doch nicht. Denn bezeichnenderweise kein Wort verliert der Verfasser darüber, wie denn dieses anzustrebende Idyll finanziert werden soll und wenn man die notwendig damit verbundene massive Umverteilung nicht thematisiert, dann macht man sich einer Illusion schuldig. Denn diese Idylle perpetuiert ein Familienmodell, das a) nur für wenige einkommensstarke Haushalte realisierbar wäre/ist und b) er verschweigt, dass die Abhängigkeiten in diesem Modell genau die gleichen, wenn nicht sogar deutlich stärkere Asymmetrien zuungunsten der Frauen schaffen wie die so schlimme Integration in das Erwerbsleben.

Nach diesem Ausflug in den Versuch, die 1950er und 1960er Jahre zu reanimieren, sei abschließend ein anderer, gleichsam widergelagerter Blick auf den „Muttertag“ zitiert, mit dem ich meinen Beitrag eröffnet habe. Auf der Facebook-Seite von Robert Reich, dem ehemaligen US-Arbeitsminister unter Bill Clinton, findet man den folgenden Beitrag gepostet:

»This is the 100th year America has celebrated Mother’s Day, but only the 35th year most mothers have been in the paid workforce. Poor mothers have almost always worked outside the home but it wasn’t until the late 1970s that large numbers of middle-class moms began moving into paid work. Contrary to popular belief, this wasn’t because of all the new opportunities open to professional women starting in the late 1970s. It was because the late 1970s marked the start of the long slide of hourly wages for male workers – and moms had to take up paid work in order to maintain family incomes. (Male hourly wages began sliding then because of the combined impacts of shrinking unions, corporate outsourcing abroad, labor-replacing technologies, and deregulation.)
Most moms didn’t get excused from family chores and child rearing, though. They went into paid work in addition to their other jobs at home — and most are still doing all these jobs. So instead of calling it “Mother’s Day,” maybe we should begin honoring the real heroes of the last three and a half decades and start calling it Working Mothers Day.«

Internationaler Frauentag oder Tag der Rosenindustrie. Anmerkungen zu einigen scheinbar trockenen Zahlen und was hinter ihnen steht

In der Zeit um den Ersten Weltkrieg entstand das, was wir heute als „Internationaler Frauentag“ bezeichnen –  im Kampf um die Gleichberechtigung und das Wahlrecht für Frauen. Die Vereinten Nationen haben diesen Tag später zum Tag der Vereinten Nationen für die Rechte der Frau und den Weltfrieden erhoben (1977). Natürlich gibt es eine eigene Website zum International Women’s Day. Zyniker bezeichnen ihn heute auch als Tag der Rosenindustrie, weil davon viele an diesem Tag abgesetzt werden (über die katastrophalen Bedingungen, unter denen heute Rosen hergestellt werden, um sie günstig z.B. in Deutschland absetzen zu können, informieren viele kritische Berichte, beispielsweise der Fernsehbeitrag Billig-Rosen: Afrikaner zahlen mit ihrer Gesundheit). Aber man darf und sollte an die Wurzeln erinnern, die vielen sicher nicht mehr bekannt sind: »Der erste Frauentag wurde … am 19. März 1911 in Dänemark, Deutschland, Österreich-Ungarn und der Schweiz gefeiert. Mit der Wahl des Datums sollte der revolutionäre Charakter des Frauentags hervorgehoben werden, denn der Vortag, der 18. März, war der Gedenktag für die Gefallenen während der Märzrevolution 1848. Außerdem hatte auch die Pariser Kommune 1871 im März begonnen.«

Ein zentrales Thema ist immer wieder die Situation der Frauen auf dem Arbeitsmarkt – angesichts der Bedeutung der Erwerbsarbeit für eine eigenständige Lebensführung, für eine ausreichende soziale Absicherung bis hin zur Verwirklichung dessen, was man mit den Begriffen „Gleichstellung“ oder „Gleichberechtigung“ zu fassen versucht, ist das auch nicht überraschend. Und folgt man den aktuellen Presseberichterstattungssplittern, dann sieht das bei uns in Deutschland richtig gut aus. Aber Schein und Sein unterscheiden sich nicht nur von der Buchstabenzusammensetzung. 

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32-Stunden-Woche für Vater und Mutter mit Kita neben dem Feldlazarett irgendwo im Teilzeit-Auslandseinsatz? Skurriles und Sinnvolles, das obligatorische Fragezeichen und die eigentliche Systemfrage

Ursula von der Leyen (CDU) will die Bundeswehr zum familienfreundlichen Arbeitgeber umbauen. Das Thema liegt ihr, so Christian Tretbar in seinem Artikel „Dienen zwischen Kita und Kaserne„. Auf alle Fälle hat sie wieder einmal die mediale Aufmerksamkeit erregen können. Sie hat das mit der ihr eigenen Verve vorgetragen, so dass man zu dem Eindruck getrieben werden konnte, Deutschlands Freiheit wird in der Marine-Kita verteidigt. Und das sie die Bundeswehr zu „einem der attraktivsten Arbeitgeber in Deutschland“ machen will, ist irgendwie konsequent, darunter macht sie es offenbar nicht. Um die Vereinbarkeit von Dienst und Familie zu verbessern, sollten Teilzeitmöglichkeiten wie eine Drei- oder Viertagewoche sowie Lebensarbeitszeitkonten eingeführt werden, so die Vision der neuen obersten Soldatenfrau. Außerdem sollen Tagesmütter in Kasernen stärker zum Einsatz kommen. Wenn es nur das wäre. Aber sie agiert nicht allein, was neue „familienpolitische“ Vorschläge angeht. Die Bühne betritt die neue Bundesfamilienministerin. Und die darf gleich gehörig Lehrgeld bezahlen. Die Luft in Berlin ist eben sehr bleihaltig, wie mancher aus der (hier durchaus positiv gemeint) Provinz stammende Politiker bereits schmerzhaft zu spüren bekommen hat.

Während Ursula von der Leyen sich erneut zumindest in den Medien typgerecht platzieren konnte, lief zeitgleich ein ganz anderer Film ab: Das Zurechtstutzen eines Kabinettsfrischlings namens Manuela Schwesig (SPD), die als neue Bundesfamilienministerin in die Fußstapfen der Vor-Vorgängering von der Leyen zu treten versucht – ebenfalls mit einem modern daherkommenden Vorschlag, der aber – anders als die Visionen der neuen Soldatenministerin – sofort zerrissen wurde und die nach kürzester Zeit vom Bannstrahl der Kanzlerin getroffen wurde, die über ihren Regierungssprecher Steffen Seibert ausrichten ließ: „Ministerin Schwesig hat da einen persönlichen Debattenbeitrag gemacht. Sie selber spricht ja von ihrer Vision“. Wenn man bedenkt, dass Helmut Schmidt im Kollektivgedächtnis der Deutschen nicht nur als qualmende Dauerprovokation der Medizin verankert ist, sondern auch als derjenige, der diejenigen, die Visionen haben, den Gang zum Arzt, respektive zum Psychiater nahegelegt hat, dann wird die Bloßstellung deutlich. Aber was läuft hier eigentlich gerade wirklich ab? Die eine wird gefeiert für – übrigens seit langem vorgetragene – Forderungen nach einer Verbesserung der Arbeits- und Lebensbedingungen der „Mitarbeiter“ einer Armee, die seit längerem im Modus des Durcheinanderseins funktionieren muss/soll, die andere greift neuere Vorschläge aus der Fachdiskussion auf und wird dafür fast skalpiert, zumindest aber als reichlich naiv etikettiert, was in der Politik (und in weiten Teilen der Medien) von der Wirkungsseite vergleichbar ist.

Zuerst einige Worte zum Beitrag der Bundesverteidigungsministerin. Sie greift ein grundsätzliches und seit längerem diskutiertes Problem auf, das Christian Tretbar in seinem Artikel so beschreibt: »Die Auslandseinsätze, die häufigen Ortswechsel und die Betreuungssituation machen die Bundeswehr so unattraktiv für Familien. Wer in der Bundeswehr Karriere machen will, muss damit leben, häufig zu wechseln: die Position aber auch den Ort. Und das ist für Familien eine Belastung, da Kinder die Schule und die Ehefrau oder der Ehemann auch die Arbeit wechseln müssten.«  Immer wieder hat der Bundeswehrverband und auch der Wehrbeauftragte des Bundestages auf die Probleme hingewiesen – man vertiefe sich bei Bedarf nur in den aktuellen „Jahresbericht 2012“ des Wehrbeauftragten. Dessen Ausführungen zum Themenfeld „Vereinbarkeit von Familie und Dienst“ tragen ab der Seite 23 ein eigenes Kapitel zum Jahresbericht bei, noch vor den Folgethemen „Frauen in den Streitkräften“ und „Sexuelle Übergriffe“. „Es kann nicht hingenommen werden, wenn ein Soldat mit zwei einzuschulenden Kindern Ende Juli noch nicht weiß, wohin er zum 1. Oktober versetzt wird“, schreibt der Wehrbeauftragte des Deutschen Bundestages. Das Thema Schulwechsel spiele eine große Rolle, da vor allem das föderale Schulsystem nicht passend sei für die von Bundeswehrangehörigen eingeforderte hohe Mobilität. Insofern stehen die mit Kindern beladenen Beschäftigten der Bundeswehr stellvertretend für die Probleme vieler Arbeitnehmer, aufgrund der Besonderheiten beim Militär ist allerdings diese Belastung sicher überdurchschnittlich.

Man muss diese nun in den Vordergrund geschobene Debatte über einen Aspekt der Arbeitsbedingungen in der Bundeswehr sehen vor dem Hintergrund des tiefgreifenden Umbaus dieser Institution, vor allem seit dem Wegfall der Wehrpflicht, denn seitdem muss sich die Bundeswehr auf dem „normalen“ Arbeits- und Ausbildungsmarkt ausschließlich um Freiwillige bemühen – während aber ihr bisheriges Geschäftsmodell weitgehend in sich zusammengebrochen ist. Weite Teile der tradierten Ausbildungsstrukturen basierten auf dem Zwangscharakter einer Wehrpflichtigenarmee, die nunmehr, des zwangsläufigen Nachschubs beraubt, neue, normale Wege der Rekrutierung und „Personalentwicklung“ gehen muss. Insofern handelt es sich einerseits aus der Perspektive der Gesamtwirtschaft um eine Art „nachholende Modernisierung“ (und es wäre für die konkreten Lebensbedingungen der Soldatinnen und Soldaten schon viel gewonnen, wenn man da ein paar Schritte weiter kommt, was einen aber keineswegs absehbar zu „Deutschlands attraktivsten Arbeitgeber“ machen wird und das auch nicht leisten kann), anderseits aber kann man die ausgeprägten Besonderheiten des Arbeitgebers Militär doch nicht einfach negieren und mit den „normalen“ Unternehmen eine falsche Referenzgröße wählen. Anders ausgedrückt: Wenn die Soldaten sich im Auslandseinsatz befinden, dann werden gut gemeinte Konzepte einer Drei- oder Viertagewoche schlichtweg hinfällig. Und wenn die personelle Kontraktion der Bundeswehr weiter fortgeschrieben wird, dann müssen sich die Auslandseinsätze gerade der Spezialisten immer weiter ausdehnen. Und schlussendlich: Ankündigen kann man viel, aber die von der Ministerin aufgekochten Maßnahmen sind nicht billig und noch ist meines Wissens der Verteidigungshaushalt nicht mit den erforderlichen Mitteln bestückt. Man wird abwarten müssen, ob die neue Ministerin da was erreichen kann und den Worten Taten folgen lassen wird.

Deshalb richten wir jetzt den Blick auf den Ansatz der neuen Bundesfamilienministerin Schwesig. Eine Zusammenfassung des Vorschlags und der ersten Reaktionen darauf liefert uns beispielsweise der Artikel „Was die „Vision“ der Ministerin für Familien bedeuten würde„. Acht Stunden mehr Zeit sollen Eltern für den Nachwuchs haben – zumindest in den ersten drei Lebensjahren der Kinder. Um das zu erreichen, hat Manuela Schwesig den Vorschlag einer verkürzten Wochenarbeitszeit für Eltern in die Arena geworfen. Bei berufstätigen Paaren sollen beide Elternteile statt einer 40-Stunden-Woche eine kürzere „Familienarbeitszeit“ von zum Beispiel 32 Stunden als Regelarbeitszeit vereinbaren können. Die Besonderheit liegt auf dem Wort „beide Elternteile“, also angestrebt wird hier ein gemeinsames und hinsichtlich der regulären Arbeitszeit synchronisiertes und gleichverteiltes Arbeitszeitarrangement von Mutter und Vater. Bei solchen Forderungen nach einer Arbeitszeitreduktion kommt natürlich und verständlicherweise zum einen die Frage, wie denn dann die Einkommenseinbußen durch die niedrigere Vergütung kompensiert werden können bzw. ob man diese als Haushalt wegstecken kann. Die finanziellen Einbußen, so die Zielsetzung der Ministerin, sollen verkraftbar sein bzw. sie sollen ausgeglichen werden. »Schwesig spricht von einem Partnerschaftsbonus und davon, dass „ein Teil des Lohnausfalls“ aus Steuermitteln erstattet werden könnte. Das heißt, der Staat soll einspringen.«

Nun hat Frau Schleswig hier kein eigenes Konzept in die Welt gesetzt, sondern sie bedient sich hier aus den Vorschlägen einer Studie, die das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) Berlin im Auftrag der SPD- und gewerkschaftsnahen Friedrich-Ebert-Stiftung und der Hans-Böckler-Stiftung angefertigt hat. Hier erst einmal das Original-Material:

Kai-Uwe Müller, Michael Neumann und Katharina Wrohlich (2013a): Familienarbeitszeit – Wirkungen und Kosten einer Lohnersatzleistung bei reduzierter Vollzeitbeschäftigung, Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung, 2013

sowie

Kai-Uwe Müller, Michael Neumann und Katharina Wrohlich (2013b): Bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf durch eine neue Lohnersatzleistung bei Familienarbeitszeit, in: DIW Wochenbericht, Nr. 46/2013

Quelle:  Müller/Neumann/Wrohlich (2013b), Tabelle 2, S.9

Wie wird hier argumentiert? Ein Großteil der Eltern wünscht sich eine gleichmäßigere Aufteilung von Familien- und Erwerbsarbeit (zumindest auf der Ebene der Befragungen). Finanzielle Gründe sprechen aber häufig für ein klassisches Ein- oder Eineinhalb-Verdiener-Modell. Aus diesem bekannten Dilemma will man ausbrechen mit dem Modell einer neuen familienpolitischen Lohnersatzleistung bei Familienarbeitszeit.

Derzeit wählen nur rund 1 % aller Paare mit Kindern im Alter von ein bis drei Jahren eine Arbeitszeitkombination, in der beide Elternteile 80 Prozent einer Vollzeit-Tätigkeit nachgehen. Viel häufiger vertreten sind das Alleinverdiener-Modell (39 %) und das 1,5­-Verdiener­-Modell (35 %). Bei Alleinerziehenden liegt der Anteil der Mütter, die 80 Prozent einer Vollzeit-Tätigkeit nachgehen, bei rund 10 %.

Die neue Lohnersatzleistung sollen Eltern von Kindern im Alter zwischen ein und drei Jahren im Anschluss an das Elterngeld erhalten können, wenn beide Partner sich für eine sogenannte reduzierte Vollzeit-Erwerbstätigkeit entscheiden. Damit ist eine Arbeitszeit in Höhe von etwa 80 Prozent einer Vollzeit-Stelle gemeint, was einer Wochenarbeitszeit von 32 Stunden entspricht. Der finanzielle Zuschuss soll sich dabei am Nettoeinkommen der Eltern orientieren und für kleinere Einkommen prozentual größer ausfallen als für höhere, so Müller, Neumann und Wrohlich (2013a und b) in ihrer Modellbeschreibung. 

Um es an dieser Stelle zuzuspitzen: Mit diesem Modell adressieren die Wissenschaftler ein Kardinalproblem hinsichtlich des gegebenen Geschlechterarrangements auf dem Arbeitsmarkt, das sich dergestalt ausprägt, dass der Rückzug auf Teilzeitarbeit fast ausschließlich ein Tatbestand ist, der bei den Frauen/Müttern zu verbuchen ist. Die Ursachen sind vielfältig, die drei wichtigsten: Das Ehegattensplit­ting, die beitragsfreie Mitversicherung für Ehepartner in der gesetzlichen Krankenversicherung und die Minijobs. Sie bieten vor allem den Frauen einen finanziellen Anreiz dafür, zumindest zeitweise aus dem Job auszusteigen oder aber ihre Arbeitszeit dauerhaft zu reduzieren, was letztendlich das Einverdiener- bzw. Zuverdienst-Modell stabilisiert, so auch Katja Tichomirowa in ihrem Beitrag „Was für Schwesigs Vorschlag spricht„. Damit aber wird das „Risiko“ Teilzeitarbeit aus der Sicht einiger (und nicht weniger) Arbeitgeber verknüpft mit dem „Risikoträger“ Frauen, denn fast ausschließlich bei diesen muss man mit der Realisierung eines Teilzeitwunsches rechnen.

  • Dazu passen die neuen Befunde einer Befragungsstudie von Vätern, die das Forsa-Institut im Auftrag der Zeitschrift „Eltern“ durchgeführt hat: Die Studie im Original kann man hier abrufen: Forsa (2013): Meinungen und Einstellungen der Väter in Deutschland, Berlin sowie eine Zusammenfassung der Ergebnisse hier auf der Website der Zeitschrift „Eltern“: Zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Väter 2014: »Sie wollen nicht mehr außen vor sein, sondern mitten drin im Familienalltag. Sie haben klare Vorstellungen davon, was einen guten Vater ausmacht. Sie wickeln, schmusen, helfen im Haushalt – und bleiben doch die Vollzeit-Ernährer.« Die Studienautoren sprechen von einer „großen Widersprüchlichkeit“: Männer schwanken zwischen Ernährer- und Vaterrolle: Sie wollen Zeit mit ihrem Kind verbringen, scheuen aber Teilzeitarbeit: Väter sind einer Studie zufolge innerlich gespalten. »Zwar hätten 43 Prozent der berufstätigen Väter gern mehr Zeit für die Familie, ergab die Umfrage. Zugleich sei aber die Mehrheit von ihnen nicht bereit, in Teilzeit zu arbeiten: Neun von zehn Vätern (89 Prozent) sind demnach in Vollzeit tätig und zwei Drittel der abhängig Beschäftigten wollen das auch so. Nur vier Prozent der Befragten arbeiteten in Teilzeit und nur ein Drittel würde gern in Teilzeit arbeiten.«

Insofern – man muss es so deutlich formulieren – wird hier quasi die Systemfrage aufgerufen: Erst wenn es für die Arbeitgeber kein besonderes „Risiko“ der Frauen ist, dass diese bei der Arbeitszeit reduzieren, wenn Kinder das Licht der Welt erblicken, sondern wenn dieses „Risiko“ gleichverteilt ist zwischen den Geschlechtern, erst dann würden die Unternehmen das Thema nicht mehr zu einem Frauenthema reduzieren (können). Allein dieser Aspekt verdient es, dass man das Modell offen und unaufgeregt diskutieren sollte.

Aber gerade wenn man das Modell mit der neuen Leistung umsetzen wollte, ergeben sich zahlreiche Fragezeichen, die man an diesen Vorschlag kleben muss, hier nur drei zur Auswahl:

  • Schauen wir beispielsweise nur in die Bilanzierung der Studienverfasser, was die vermuteten Auswirkungen der neuen teilkompensatorischen Geldleistung angeht – und die ist mehr als ernüchternd: »Die Studie zeigt, dass sich der Anteil der Familien, in denen beide Elternteile einer solchen reduzierten Vollzeit-Beschäftigung nachgehen, ausgehend von derzeit einem Prozent nahezu verdoppeln könnte« (Müller/Neumann/Wrohlich 2013: 3). Nur zur Einordnung dieser Aussage: Derzeit wählen nur rund 1 % aller Paare mit Kindern im Alter von ein bis drei Jahren eine Arbeitszeitkombination, in der beide Elternteile 80 Prozent einer Vollzeit-Tätigkeit nachgehen. Die Wissenschaftler schätzen mithin bei der Umsetzung ihres Ansatzes eine Verdoppelung – auf 2%!
  • Viele Arbeitnehmer sind ja nicht blöd: Sie wissen aus ihrer Anschauung und Erleben der Arbeitswelt, dass eine formale Reduktion der Arbeitszeit (die einhergehen würde mit einer Einkommensreduzierung, die selbst von der vorgeschlagenen Teil-Kompensation auf der Ausfallseite nur anteilig ausgeglichen wird) nicht zwingend auch eine tatsächliche Verringerung der Arbeitsbelastung im gleichen Umfang bedeutet. Denn auf der anderen Seite der Bilanz steht eine betriebliche Realität für immer mehr Arbeitnehmer, die auf eine stundengenaue Abgrenzung der Arbeitszeit keine Rücksicht nimmt und zuweilen auch nicht nehmen kann, sondern da werden die Beschäftigten konfrontiert mit einer Erwartungshaltung des Arbeitgebers bzw. der Aufträge, so dass man unbezahlte Mehrarbeit macht. Das ist auch ein bekanntes Ergebnis der Teilzeitarbeitsforschung.
  • Schlussendlich muss man natürlich als Sozialpolitiker darauf hinweisen, dass eine solche Reduktion der Arbeitszeit immer zu Komplikationen führen kann und wird bei der späteren Rente, denn deren Ausgestaltung hat immer noch das „male-breadwinner-Modell“ als Referenzpunkt, also eine 45 jährige Vollzeit-Tätigkeit, die immer mit dem durchschnittlichen Arbeitsentgelt vergütet wurde, was derzeit eine Brutto-Monatsrente von 1.266,30 Euro zur Folge hätte. Wenn man die damit verbundenen Konsequenzen bei Teilzeitarbeit oder Einkommensreduktion aus der derzeitigen Rentenformel verstanden hat, dann wird sich einem die Anmerkung erschließen, dass ein sicher gut gemeinter Ansatz der Erwerbsarbeitszeitreduktion konfligiert mit einer bislang nicht vorgenommenen Systemveränderung in der Rentenmechanik, die Teilzeitarbeit bislang lediglich als Ergänzung abgeleiteter Ansprüche in den klassischen Familienmodellen abzubilden in der Lage ist.

Kurzum: Eigentlich trifft das Modell einer Lohnersatzleistung, wenn beide die gleiche „kleine Vollzeit“ machen, den Nerv der notwendigen Debatte angesichts der krassen gegebenen und ziemlich beharrlichen Geschlechterarrangements, was die bezahlte Arbeit angeht. Aber ob es wirklich sinnvoll ist, mit einer neuen Geldleistung auf den Markt zu kommen, darüber ließe sich auch engagiert streiten. Wenn man den wirklich wollte.