Die Angst vor den Millionen, die Rettung des Einzelnen und die problematische Ausblendung der Flüchtlingsfrage

Der folgende Text wird von vielen nicht gerne gelesen werden. Nicht nur, weil es um das Thema Flüchtlinge an sich geht, sondern um letztendlich unauflösbare Dilemmata des (Nicht-)Handelns. Es geht um einzelne Menschenleben, deren Schutz an allererster Stelle stehen muss, wenn man einen Rest an Ethik in sich trägt, zugleich geht es aber auch um den Blick auf gesellschaftliche Realitäten, die man nicht aufheben kann durch weltfremde Forderungen, will man nicht katastrophale Folgen in Kauf nehmen. Die aber auch so teilweise eintreten werden, wenn man explizit „flüchtlingspolitisch“ handelt. Das alles mit „Ambivalenz“ zu umschreiben, ist angesichts der existenziellen Dimension des Thema eine semantische Untertreibung. Aber es ändert nichts daran – man wird sich die Hände schmutzig machen müssen, so oder so.

Wir haben es mit Ängsten zu tun, mit verständlichen und nachvollziehbaren, aber auch mit aufgebauschten und produzierten Ängsten. Daraus erwachsen Stimmungen und mit ihnen politische Folgen. Nehmen wir als Beispiel den EU-Parlamentspräsidenten Antonio Tajani, Nachfolger von Martin Schulz – und Italiener, was in diesem Fall zu wissen wichtig ist: „Wenn wir die Probleme in Afrika südlich der Sahara nicht gemeinsam lösen, dann werden in fünf, sechs Jahren Millionen Migranten kommen“, so wird er in diesem Artikel zitiert: Tajani warnt vor Millionen Flüchtlingen. Und auch an anderer Stelle wird Tajani, Politiker der konservativen Berlusconi-Partei Forza Italia, zitiert: ‚Millions of Africans‘ will flood Europe unless it acts now, warns European chief, as Paris evacuates huge migrant camp. »Europe is „underestimating“ the scale and severity of the migration crisis and „millions of Africans“ will flood the continent in the next five years unless urgent action is taken, a senior European official has warned.« Und was sollen das für Maßnahmen sein?

„Wir müssen so bald wie möglich ein Abkommen mit Libyen abschließen, so wie es bereits eines mit der Türkei gibt“, fordert der Parlamentspräsident. Ein umstrittener Vorschlag, der bereits vor Monaten auf den Tisch kam, von vielen europäischen Politikern aber wieder verworfen wurde, weil die politische Lage in Libyen viel zu instabil ist. Zudem spricht sich Tajani dafür aus, dass Flüchtlingslager in Afrika gebaut werden. Südlich der Sahara, dort wo viele Flüchtlinge herkommen. Mithilfe des Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen. „Man kann Lager in Niger bauen, in Nigeria und in der Zentralafrikanischen Republik“, fordert der Italiener. Und er steht damit nicht alleine, vgl. beispielsweise den Kommentar Europa braucht Türsteher von Ulrich Ladurner.

Unzweifelhaft wird er damit die Stimmungslage von vielen besorgten EU-Bürgern treffen, denen eine Abschottung der Festung Europa intuitiv einleuchtet als ein notwendiges Übel. Vor allem, wenn man mit Vorhersagen über „Millionen“ Afrikanern konfrontiert wird, die nur darauf warten, die europäische Seite des Mare Nostrum zu erreichen. Und viele ahnen, dass diese scheinbar einfache „Lösung“ auch deshalb attraktiv daherkommt, weil wir parallel mit einem grandiosen Versagen der EU als Staatengemeinschaft konfrontiert sind.

Ein Versagen, das schon die erste Phase der „Flüchtlingskrise“ vorangetrieben hat. Man denke zurück an das Jahr 2015. Auslöser der einsamen und einmaligen Entscheidung der Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) zur Öffnung der deutschen Grenzen waren die sich auf der Balkanroute stauenden Flüchtlinge, die nicht mehr oder nur erschwert weitergekommen sind. Mitverursacher dieser Entwicklung war ein Konstrukt unter dem Namen „Dublin-Verfahren“, aktuell gilt „Dublin III“: Dabei geht es konkret um die Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 26. Juni 2013 zur Festlegung der Kriterien und Verfahren zur Bestimmung des Mitgliedstaats, der für die Prüfung eines von einem Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen in einem Mitgliedstaat gestellten Antrags auf internationalen Schutz zuständig ist.

Vereinfacht gesagt: Da, wo die Flüchtlinge EU-Boden erreichen, soll auch das Asylverfahren stattfinden.

Durch das Dublin-Verfahren wird faktisch den südlichen EU-Staaten (insbesondere Malta, Italien, Spanien und Griechenland, aufgrund der Einwanderung über das Mittelmeer in die EU) sowie Ungarn (aufgrund der Balkan-Route) eine größere Verpflichtung bezüglich der Registrierung und Erstaufnahme auferlegt als nördlicheren Ländern der EU.

Dieses System erzeugt natürlich enorme Ungleichgewichte zuungunsten der europäischen Randstaaten und bereits vor der deutschen Grenzöffnung im Jahr 2015 konnte man beobachten, wie betroffene Staaten wie Italien Flüchtlinge wissentlich nach Frankreich, Deutschland und andere nördliche EU-Staaten durchgewunken haben.

Nach der Episode mit dem deutschen Sonderweg ist man nunmehr wieder formal zurückgefallen in die Zeit vor 2015. Der Druck auf die Balkan-Route hat abgenommen, zum einen durch die rigorose Abschottung seitens der Ungarn, zum anderen aber auch aufgrund des fragilen Abkommens mit der Türkei, das den Zuwanderungsdruck auf Griechenland zumindest deutlich begrenzt hat. Verschoben haben sich infolgedessen die Hauptfluchtrouten und nunmehr kanalisiert sich der Weg der Flüchtlinge auf den „failed state“ Libyen und die Mittelmeer-Überfahrt von dort in Richtung Italien. Und die Italiener sind verständlicherweise gerade in den betroffenen Küstenregionen mehr als überfordert. Formal müssen sie das mit den Flüchtlingen alleine regeln, denn der – zwischenzeitlich angesichts der eigenen Betroffenheit auch von den Deutschen geforderte, noch 2013 vehement abgelehnte – solidarische Umverteilungsmechanismus auf europäischer Ebene wird innerhalb der EU offen von den osteuropäischen Staaten und versteckt auch von anderen Mitgliedsstaaten (die hoffen, dass damit der Kelch an ihnen vorübergeht) blockiert.

Was das konkret bedeutet beispielsweise für Sizilien, wo viele der Flüchtlinge anlanden, vermittelt diese Reportage von Philipp Eins: Flüchtlinge als Erntehelfer auf Sizilien – Für eine Handvoll Euro. Sie verdeutlicht zum einen die Überforderung in den Küstenstädten, zum anderen aber auch, wie die Flüchtlinge in eine illegale Ökonomie integriert werden.

Und gerade mit Blick auf die Zuwanderung aus Afrika herrscht das Bild von „Wirtschaftsflüchtlingen“ vor – also Afrikaner, die sich auf den Weg gemacht haben, um ein wirtschaftlich besseres Leben in Europa zu finden.

Es gibt hinsichtlich der Fluchtursachen durchaus davon abweichende Stimmen, dazu beispielsweise der Artikel War and violence drive 80% of people fleeing to Europe by sea, not economics von Hannah Summers: »The vast majority of people arriving in Europe by sea are fleeing persecution, war and famine, while less than a fifth are economic migrants«, so die Kernaussage einer neuen Studie (d’Angelo, A., Blitz, B., Kofman, E., Montagna, N. (2017), Mapping Refugee Reception In the Mediterranean: First Report of the Evi-Med Project, 16 June 2017). Allerdings muss man aufpassen, denn die Aussagen beziehen sich auf die Flüchtlinge des Jahres 2015: »More than 80% of an estimated 1,008,616 arrivals in 2015 came from refugee-producing countries including Syria, Afghanistan and Iraq, and a quarter of that number were children.« Aktuell geht es aber zunehmend um die Migration von Menschen aus afrikanischen Ländern.

Im wirklichen Leben ist eine wirklich trennscharfe Unterscheidung zwischen dem einen oder anderen Fluchtgrund mehr als schwierig und eben nicht immer eindeutig zu machen – aber die Unterscheidung an sich ist von größter Bedeutung für die (Nicht-)Akzeptanz der Flüchtlinge in den aufnehmenden Ländern. Die Mehrheit der Bevölkerung hat hier sehr eindeutige Gerechtigkeitsvorstellungen im Kopf. So belegen beispielsweise Befragungen in Deutschland, dass dort die Mehrheit der Bevölkerung zum einen die Auffassung vertritt, dass „Wirtschaftsflüchtlinge“ kein Zugang eröffnet werden sollte, zum anderen aber wird sehr klar die Position vertreten, dass Menschen, die vor politischer oder militärischer Gewalt fliehen müssen, Asylrecht genießen sollten. Aber mit einem nicht unbedeutenden Zusatz – der zu gewährende Schutz für diese Menschen wird nicht gleichgesetzt mit dem Recht auf Daueraufenthalt, dahinter steht die Vorstellung, dass die Menschen auch wieder zurückkehren sollten, wenn die Fluchtursachen beseitigt wären.

Wenn man das politisch umsetzt, wird die ganze Ambivalenz erkennbar: Man müsste bereit sein, bestimmte Flüchtlinge auf unbestimmte Dauer aufzunehmen und sollte dann aber versuchen, ihnen die Integration in die Aufnahmegesellschaft zu erleichtern bzw. zu ermöglichen, beispielsweise durch einen schnellen Zugang zum legalen Arbeitsmarkt des Landes. Und die Investition in Sprach- und Integrationskurse gehört dazu. Aber zu Ende gedacht kann auch nach Jahren des „Gastaufenthalts“ und bei vielleicht sogar erfolgreicher Integration die Option stehen, dass die betroffenen Menschen wieder zurück müssten in ihre Heimatländer, wenn dort die Fluchtursachen nicht mehr bestehen.

Aber die Zuwanderungswelle aus Afrika wird von vielen Menschen anders gewertet. Und sie ist angesichts der (tatsächlichen oder vermeintlichen) Zahlen, mit denen die Menschen in Europa konfrontiert werden, mit ganz erheblichen Ängsten verbunden. Fragt man sie, wird man oft zu hören bekommen, dass Europa nicht in der Lage sei, die vielen Menschen, die aus bitterer Armut zu entfliehen versuchen, aufzunehmen. Es geht also nicht nur, aber eben auch immer um Quantitäten.

Die zentrale Mittelmeerroute von der libyschen Küste nach Italien ist spätestens seit der Schließung der Balkanroute wieder der wichtigste Weg für Migranten nach Europa. Gleichzeitig ist sie die gefährlichste Migrationsroute der Welt: 2015 kamen laut Missing Migrants, einem Projekt der Internationalen Organisation für Migration (IOM), 153.842 Migranten auf diesem Weg nach Europa, (mindestens) 2.892 Menschen ließen bei der Überfahrt ihr Leben, sind ertrunken oder erstickt. 2016 waren es bei 181.436 Ankünften über die zentrale Mittelmeerroute (mindestens) 4.581 Tote. Ein Trend, der sich auch im laufenden Jahr fortsetzt – am 10. Juli 2017 wird auf der Website von Missing Migrants diese Zahl ausgewiesen: »2.297 migrant deaths in the Mediterranean in 2017.« Und das Jahr ist erst zur Hälfte vorbei. Und vor diesem Hintergrund geraten zunehmend die NGOs ins Visier, die versuchen, im Mittelmeer Flüchtlinge in Seenot zu retten und diese dann nach Europa zu bringen. Dazu Jan-Christoph Kitzler in seinem Beitrag Keine Beweise für Vorwürfe gegen NGO:

»Nichtregierungsorganisationen (NGO) wird vorgeworfen, ihre Präsenz auf dem Mittelmeer zur Rettung von Migranten sorge dafür, dass sich immer mehr Flüchtlinge auf den Weg nach Europa machten. Fachleute nennen diesen Ansatz die „Pull-Factor-Theorie“. Der Vorwurf ist nicht neu und war ursprünglich nicht nur gegen die NGO gerichtet. Von der Europäischen Grenzschutzagentur Frontex wurde er bereits in Bezug auf die italienische Rettungsmission Mare Nostrum erhoben. Gil Arias, der damalige stellvertretende Frontex-Chef, sagte am 4. September 2014 im Justizausschuss des Europaparlaments, dass „die Schleuser mehr Menschen auf See schicken, in der Annahme, sie würden schon bald gerettet. Das sei billiger für sie, denn sie bräuchten weniger Treibstoff, weniger Essen, weniger Wasser, was gleichzeitig aber auch die Risiken für die Migranten erhöht“. Dieser Vorwurf wird nun den NGO auf dem Mittelmeer gemacht.«

An den nackten Zahlen – sowohl absolut wie auch relativ gemessen an allen geretteten Flüchtlingen – kann man den Bedeutungszuwachs der NGOs für die Rettung von Menschenleben im Mittelmeer erkennen. Und schon sind wir mittendrin in einem fatalen Dilemma: Aus einer ethischen Perspektive kann und darf es keine Verweigerung menschenrettender Maßnahmen geben, ansonsten würde man sich der bewussten Tötung schuldig machen. Jeder Mensch hat das Recht, gerettet zu werden. Auf der anderen Seite sind die in der „Pull-Factor-Theorie“ angelegten ökonomischen Anreizeffekte auf den ersten Blick nicht von der Hand zu wischen. Natürlich „erleichtert“ man den Schleppern die Arbeit, wenn die wissen, dass man die „Kunden“ auch mit absolut seeuntauglichen Booten aufs offene Meer schicken kann, werden sie doch alsbald aufgesammelt. Und werden dann dahin gebracht, wo sie ja auch hinwollten, also an die europäische Küste. Aber, so Jan-Christoph Kitzler in seinem Artikel zu der Frage, ob die Einsätze der NGO für mehr Flüchtlinge sorgen:

»Eine Forschungsgruppe des Goldsmith-College der University of London hat den Vorwurf in zwei Studien überprüft: So konnte die Pull-Factor-Theorie für 2014/15 widerlegt werden, weil auch nach dem Ende von Mare Nostrum die Zahl einiger Migrantengruppen auf der zentralen  Mittelmeerroute anstieg … Die Zahl der ost- und westafrikanischen Flüchtlinge, die heute den Großteil der Migranten auf dem Weg von Libyen nach Europa stellen, ist hingegen stetig angestiegen: 2015 kamen 42% mehr Menschen aus Ländern wie Eritrea, dem Sudan, Nigeria oder Mali als 2014. Dieser Anstieg war bereits im Gange, bevor die NGO in großem Stil aktiv wurden.«

Was also musste passieren, wenn man die Menschen wirklich vor der Festung Europa stoppen wollte? Ein heikles Thema, Stephan Schulmeister hat das in seinem Beitrag Was ist christlich an der Schließung der Mittelmeerroute? einmal gedanklich durchgespielt und zeigt damit die logischen Konsequenzen auf, die zugleich auf die ethischen Untiefen des Themas verweisen:
Ausgehend von der Annahme, dass menschliches Verhalten durch Anreize gesteuert wird, konstatiert Schulmeister für die Flüchtenden: »Man muss ihnen jede Hoffnung nehmen, dass sie über das Mittelmeer ein besseres Leben finden.«

Dazu, so Schulmeister, gab es bereits Vorschläge. Beispiel: »Man interniert sie auf Inseln wie Lesbos oder Lampedusa ohne Chance auf ein Weiterkommen. Die EU solle sich daher das „australische Modell“ zum Vorbild nehmen. Dazu müssten diese Inseln vorher zu „Niemandsland“ werden, denn in der EU gilt das Völkerrecht.« Geht rechtlich nicht. Auch die NGOs mit ihren kompensatorischen Rettungsaktivitäten sind ins Visier genommen worden: »Einstellung des „NGO-Wahnsinns“ der Rettung der Flüchtenden. Wenn jene, die in Nordafrika auf ihre Chance warten, erfahren, dass immer weniger Menschen gerettet werden, wird ihr Anreiz zur Flucht geschwächt.« Aber was, wenn die Verzweifelten dennoch hoffen und es versuchen? Und auch diese Option spricht er an: »Die Flüchtenden werden von der Frontex gerettet und nach Libyen, Tunesien oder Ägypten zurückgebracht. Doch diese Länder nehmen sie nicht, und sie in Ufernähe ins Meer zu werfen geht wegen der Hoheitsgewässer nicht (außerdem können die meisten nicht schwimmen).«

Vor diesem Hintergrund entwickelt er einen wahrhaft zynischen Gedankengang, mit dem man doch noch das eigentliche Ziel, die Menschen abzuhalten, erreichen können. Man muss sich jetzt anschnallen:

»Ausgangspunkt ist folgende Frage: Wann entfalten Ertrunkene die größte Abschreckungswirkung? Sterben sie einfach deshalb, weil sie von Rettungsbooten zu spät gefunden wurden, so wird dies die Hoffnung der Verzweifelten, dass sie es schon schaffen werden, kaum mindern. So sind 2016 etwa 5000 Menschen ertrunken, dennoch wird weiter geflüchtet.

Hätte man aber eine viel kleinere Zahl von Flüchtenden dadurch am Eindringen in EU-Hoheitsgebiet gehindert, indem man ihre Schlauchboote versenkt, so wäre die Abschreckungswirkung enorm gewesen. Denn wenn die EU so ihre Entschlossenheit demonstriert, die eigenen Grenzen zu schützen, gibt es keine Hoffnung für die Wartenden – Schlauchboote versenken ist ein Kinderspiel.

Gewiss: Aus moralischen Gründen kann kein Politiker diese effektivste Art, die Mittelmeerroute zu schließen, vorschlagen. Doch die Identitären würden die Aufgabe übernehmen – es geht ja um höhere Werte. Mehr als ein paar Boote und Luftdruckgewehre braucht es nicht, es dürfen nur keine Weicheier dabei sein. Zur Abschreckung müsste man die hässlichen Bilder via Internet verbreiten, doch dann kehrte Ruhe ein im Mittelmeer. Damit wäre auch den Schleppern ihr schändliches Handwerk gelegt – niemand wird sie bezahlen, um dann versenkt zu werden.«

Nur ein Phantasiegebilde? Dann sollte man diesen Artikel von Katja Thorwart lesen: Identitärer Bilderkampf: »Mit einem von Spendengeldern finanzierten Schiff will die Identitäre Bewegung Stimmung gegen die Flüchtlingsrettung machen. Die visuelle Inszenierung solcher Aktionen spielt dabei eine zentrale Rolle.«

„Defend Europe“ ist der neueste Coup der Identitären Bewegung unter dem österreichischen Chefstrategen Martin Sellner. Mit einem von Spendengeldern finanzierten Schiff gedenkt der als rechtsextrem eingestufte Verein, NGOs auf dem Mittelmeer zu „konfrontieren (…), um das Unrecht dort zu beenden, wo (…), Migranten das Seerecht beinhart ausnutzen und (…) Europa illegal fluten“, wie Sellner auf Facebook am 5. Juni formulierte.

Und aus dem Umfeld der Rechtsextremisten wird mittlerweile Vollzug gemeldet – auch wenn man den Wahrheitsgehalt solcher Meldungen nicht überprüfen kann: „Schlepperei beenden“: Identitäre haben ein Schiff.

Man sieht, aus gedanklichem Wahnsinn kann sehr schnell ein realer Irrsinn werden. Wieder zurück zu Schulmeister und seiner Argumentation: »Mit der harten Methode würden weniger Menschen ertrinken und mehr von einer Flucht abgehalten, also gerettet werden. Wahrscheinlich reichen schon ein paar Hundert Versenkte, um Tausenden jede Hoffnung zu nehmen und sie so zu retten.«
Und er beendet seinen Ausflug in die Untiefen der Konsequenz so:

»Im Idealfall wird ihr Schicksal andere abhalten, eine Flucht zu versuchen. Dann bleiben alle dort, wo sie wegwollen – besser geht’s nicht. Das Nachdenken über die Ursachen von Flucht, etwa über die Politik des Westens im Nahen Osten oder die Produktion des Klimawandels oder die Beschädigung der afrikanischen Landwirtschaft durch EU-Agrarexporte zu Dumpingpreisen, das überlassen wir dem Papst Franziskus und seinen Enzykliken. Eine moderne Politik auf neuen Wegen braucht das nicht.«

Ich kann auch nichts dafür. Ein deprimierendes Thema. Wahrscheinlich wird die Entwicklung – auch durch den Druck der zunehmenden Spannungen innerhalb der EU aufgrund des Versagens eines gemeinschaftlichen Politikansatzes – in die Richtung gehen, dass man mit allen Mitteln versuchen wird, Libyen zu einem Satelliten-Staat aufzubauen, um dort die Lager außerhalb der europäischen Zone aufbauen zu können (vgl. dazu bereits den Beitrag Flüchtlinge: Konturen der Festung Europa, zugleich die Unwahrscheinlichkeit einer europäischen Lösung und die kommenden Lager jenseits des Mittelmeers vom 29. Januar 2017).

Und bei uns? »Es ist Wahlkampf in Deutschland – aber die Flüchtlingsfrage spielt kaum noch eine Rolle. Dabei spitzt sich die Lage gerade zu, vor allem in Italien«, so Anna Reimann in ihrem Artikel Deutsche Wahlkämpfer ignorieren die Flüchtlingskrise: »Es ist offensichtlich: Mit dem Flüchtlingsthema ist politisch nichts zu gewinnen, deshalb wird es an den Rand gedrängt. Das machen sie nicht nur in der Kanzlerinpartei so, sondern auch bei der SPD steht die Flüchtlingsfrage nicht im Zentrum.«

Und seien wir ehrlich – auch in den meisten Medien spielt das Thema kaum (noch) eine Rolle, hin und wieder fragt mal der eine oder andere nach, wo denn eigentlich die Flüchtlinge geblieben sind, die schon nach Deutschland gekommen sind (vgl. dazu beispielsweise diesen Beitrag: Nicht einmal jeder zweite Flüchtling ist arbeitslos – jedenfalls nicht offiziell). Viele der „Altfälle“ schlagen jetzt im Hartz IV-System auf – und werden sort absehbar auf viele Jahre bleiben:. Hinzu kommen immer noch in den Großstädten Unterbringungsprobleme. So sind in Berlin noch 10.000 Asylsuchende in Notunterkünften untergebracht. Viele von ihnen leben seit anderthalb Jahren ohne Privatsphäre, ohne die Möglichkeit selbst einzukaufen, zu kochen, ihren Alltag zu gestalten.

Und es kommen jeden Monat neue Menschen dazu, auch wenn das kaum noch im Bewusstsein zu sein scheint: Nach Angaben des Bundesinnenministeriums wurden im ersten Halbjahr 90.389 neue Asylsuchende gezählt. Hochgerechnet auf das gesamte Jahr landet man bei rund 180.000 Schutzsuchenden. Und dann gibt es noch eine weitere Dimension, die derzeit eher nicht thematisiert wird: Das Auswärtige Amt schätzt, dass bald zusätzlich 200.000 bis 300.000 Syrer und Iraker infolge des Familiennachzugs zu Angehörigen in Deutschland reisen dürfen, so Manuel Bewarder in seinem Artikel Bis zu 300.000 Flüchtlinge in der Warteschleife.

Fakt ist: Derzeit kommen weiterhin Tausende Menschen Monat für Monat in Deutschland an. Das scheint zwar zu bewältigen zu sein, aber neue Krisen in Europa bahnen sich an – und die alten Herausforderungen sind längst nicht gelöst.

Das bedeutet: Es stimmt nicht, dass ein Durchkommen auf der Balkanroute oder über andere Landwege nach Deutschland nur noch im Ausnahmefall gelingt. Denn die Herkunft der Asylsuchenden in Deutschland – ein großer Teil stammt aus Syrien und dem Irak – legt nahe, dass diese Menschen eben nicht hauptsächlich von Afrika aus über das Mittelmeer nach Italien und von dort nach Deutschland gelangen. In Italien kommen nämlich zum allergrößten Teil Afrikaner an den Küsten an. Zugleich spitzt sich wie dargestellt die Situation in Italien weiter zu.

Ganz offensichtlich hofft vor allem die Union, dass sie das Thema und die damit verbundenen Emotionen bis zur Bundestagswahl am 24. September unter den Teppich kehren kann und auch die anderen Parteien (mit Ausnahme der AfD) haben wenig Ambitionen, sich mit Flüchtlingspolitik an die Oberfläche zu wagen. Das kann sicher eine Zeit lang funktionieren. Aber die Realität lässt sich nicht totschweigen auf Dauer.

Bleiben sie länger fern oder kommen sie an? Flüchtlinge und der Arbeitsmarkt. Und die scheinbar besondere Rolle der Leiharbeit

Vielen Flüchtlingen und Migranten fehlt es an Sprachkenntnissen und beruflichen Qualifikationen. Das erschwert die Integration in den Arbeitsmarkt für einen langen Zeitraum, sagen Experten. Das kann man diesem Artikel entnehmen: Keine Spur vom Jobwunder: Chancen für Migranten auf dem deutschen Arbeitsmarkt sind noch nicht rosig. Der anfänglichen Euphorie im Herbst 2015 hinsichtlich der möglichen Arbeitsmarktintegration von geflüchteten Menschen in Deutschland sei Ernüchterung gewichen, eine Studie der Europäischen Kommission und der OECD kommt gar zu dem Schluss, dass es bis zu 20 Jahre dauere, ehe Flüchtlinge das Beschäftigungsniveau von Inländern erreichten. In dem Artikel berichtet Dieter Hintermeier über einige Zahlen aus Hessen: »Von den rund 122.000 zwischen 2014 und 2016 nach Hessen eingereisten Menschen mit Fluchthintergrund kommen maximal 43.000 Menschen „kurz- bis mittelfristig“ für eine Erwerbstätigkeit in Betracht. Rund 11.000 Menschen mit Fluchthintergrund seien Ende Dezember vergangenen Jahres bereits in der Arbeitslosenstatistik aufgetaucht, ist von der hessischen Regionaldirektion der Agentur für Arbeit zu erfahren. Mit einem stärkeren Anstieg von arbeitslosen Geflüchteten rechnet die Agentur im zweiten Halbjahr 2017, wenn ein Großteil die Integrationskurse absolviert habe.« „Für einen Großteil der Menschen muss zunächst in Integrations- und Sprachkursen die Basis für eine berufliche Qualifizierung vermittelt werden. In den Bezirken der hessischen Arbeitsagenturen gibt es einzelne Beispiele für Menschen, die in eine Ausbildung oder auch eine Beschäftigung integriert werden konnten“, beschreibt Christina Funedda die aktuelle Situation.

Die Hindernisse für eine gelingende Arbeitsmarktintegration sind bekannt und oft beschrieben worden: Nur eine Minderheit der Flüchtlinge habe in Deutschland verwertbare berufliche Qualifikationen. Meist sei überhaupt kein Berufsabschluss vorhanden und es böten sich daher nur Helfertätigkeiten an. Hier sei es aber schwer, angesichts des Überangebots an Arbeitssuchenden einen Arbeitsplatz zu finden. Dazu müssten auch noch hinreichende Sprachkenntnisse vorhanden sein. Junge Flüchtlinge sollten möglichst für eine Ausbildung gewonnen werden. Aber auch hier müssen gewichtige Hindernisse berücksichtigt werden: Neben den vorhandenen Defiziten bei der deutschen Sprache sei die nicht selten unzureichende schulische Ausbildung ein echtes Problem.

Wenn das jetzt den einen oder anderen ernüchtert oder gar frustriert, dann mag so eine Überschrift helfen: IAB-Stellenerhebung: Geflüchtete kommen mehr und mehr am Arbeitsmarkt an. So haben Nicole Gürtzgen, Alexander Kubis und Martina Rebien ihre Auswertung aus dem IAB überschrieben. Zumindest die Überschrift hört sich doch viel besser an.

In dieser Studie geht es um einen ganz bestimmten Aspekt – um die (Nicht-)Erfahrungen, die Betriebe mit Flüchtlingen gemacht haben, wie die Autoren in einer Zusammenfassung berichten:

»Angesichts des langfristig sinkenden Arbeitskräftepotenzials in Deutschland könnten Geflüchtete künftig einen Beitrag zur Deckung des Fachkräftebedarfs leisten. Die hierfür notwendigen Sprach- und Qualifikationsmaßnahmen erfordern jedoch erhebliche Anstrengungen des Staates, der Betriebe und der Geflüchteten selbst. Auf Basis der repräsentativen IAB-Stellenerhebung werden hier erste Erfahrungen der Betriebe mit Geflüchteten der Jahre 2014/2015 dargestellt sowie Hemmnisse und mögliche Erfolgsfaktoren bei deren Arbeitsmarktintegration aus betrieblicher Perspektive untersucht. Die IAB-Stellenerhebung zeigt, dass bis zum vierten Quartal 2016 fast zehn Prozent der deutschen Betriebe bereits erste Erfahrungen mit den zugewanderten Geflüchteten der Jahre 2014/2015 gesammelt haben. Der entsprechende Anteil der Betriebe lag im zweiten Quartal 2016 noch bei sechs Prozent.«

Schauen wir uns die Befunde einmal genauer an (vgl. Gürtzgen/Kubis/Rebien 2017: 1):

  • Der Anteil der Betriebe, die Erfahrungen mit den Geflüchteten der Jahre 2014/2015 gesammelt haben, stieg von 6 Prozent im zweiten Quartal 2016 auf fast 10 Prozent im vierten Quartal 2016. Letztere entsprechen rund 211.000 Betrieben in Deutschland.
  • Im vierten Quartal 2016 haben etwa 3,5 Prozent der Betriebe (rund 84.000) bereits mindestens eine Geflüchtete oder einen Geflüchteten eingestellt.
  • Betriebe der Arbeitnehmerüberlassung haben mit einem Anteil von 25 Prozent überdurchschnittlich oft Erfahrungen mit Geflüchteten gesammelt; es folgen Betriebe im Gastgewerbe sowie im Bereich Erziehung und Unterricht.
  • 16 Prozent aller Betriebe planten im vierten Quartal 2016 die Einstellung von Geflüchteten; 8 Prozent planten eine Ausbildung.
  • Aus betrieblicher Sicht sind unzureichende Deutschkenntnisse derzeit der Hauptgrund für Einstellungshemmnisse von Geflüchteten.

Man muss bei der Interpretation der Werte also beachten, dass hier zwei Ebenen untersucht wurden – zum einen, ob Unternehmen überhaupt irgendeinen „Kontakt“ hatten zu Flüchtlingen, der kann auch darin bestehen, dass sich geflüchtete Menschen bei ihnen beworben haben. Wirkliche „Einstellungen“ konnten bei 3,5 Prozent der Betriebe festgestellt werden – wobei man das nicht als Einstellungen in ein unbefristetes Arbeitsverhältnis gleichsetzen kann und darf.

Das wird dann auch besonders deutlich an einer vom Durchschnitt deutlich nach oben abweichenden Zahl: »Bei dem Vergleich unterschiedlicher Branchen zeigt sich, dass im Bereich der Arbeitnehmerüberlassung mit gut einem Viertel der Betriebe besonders häufig Erfahrungen mit Geflüchteten gemacht wurden … Rund 13 Prozent der Arbeitnehmerüberlassungsbetriebe haben bereits eine Einstellung vorgenommen« (Gürtzgen/Kubis/Rebien 2017: 2). Nun ist es bereits in der „normalen“ Leiharbeit so, dass mehr als 50 Prozent der Arbeitsverhältnisse in dieser Branche weniger als drei Monate dauern. Das wird bei den Flüchtlingen mit Sicherheit nicht anders sein, eher noch mehr.

Das hindert interessierte Kreise nicht, sofort auf diese Meldung aufzuspringen und sie für eine Kommentierung zu verwenden, die wie bestellt für die Branche daherkommt: Ausgerechnet Zeitarbeit, so Sven Astheimer in der FAZ: »Mit Maßnahmen gegen die Zeitarbeit lässt sich in der Politik gut punkten. Doch gerade diese Branche bietet Flüchtlingen die besten Einstiegschancen in den Arbeitsmarkt. Ein Umdenken ist nötig.« Warum das?

Man muss sich etwas anstrengen, den Gedankengängen des Redakteurs zu folgen: Die Ergebnisse der IAB-Untersuchung kommen „einer schallenden Ohrfeige für die politisch Verantwortlichen gleich“. Denn die haben die arme Branche in den zurückliegenden Jahren (wieder etwas) stärker reguliert als Antwort auf „angebliche Missstände“, wie das Astheimer pikiert nennt. „Es ist … ausgerechnet die Zeitarbeit, welche Flüchtlingen die besten Einstiegschancen in den Arbeitsmarkt bietet.“ Wieso „ausgerechnet“? Gerade die Leiharbeitsfirmen – von denen viele im unteren Qualifikationssegment unterwegs sind – haben mittlerweile erhebliche Rekrutierungsprobleme und natürlich sind eine Teil der Flüchtlinge für diese Unternehmen – die mit dem Verleih von Arbeitskräften ihren Profit machen – eine neue und zusätzliche Quelle der Personalbeschaffung. Und Astheimer steigert sich dann im wahrsten Sinne des Wortes zu einer Liebeserklärung an die Branche hinein, wenn er die Bundesarbeitsministerin auffordert, sie solle sich mit Vertretern der Leiharbeitsbranche treffen und »sie zur Abwechslung fragen, wie sie ihre schwierige Arbeit mit Langzeitarbeitslosen und Flüchtlingen unterstützen kann.« Gut gebrüllt – da opfern sich diese Unternehmen tagtäglich auf, um geflüchteten Menschen und anderen im Hartz IV-System gestrandeten Menschen endlich zu ermöglichen, einen Fuß in die Arbeitswelt zu bekommen, da kann man ja wohl auch mal bedient werden von der Politik. Eine gelinde gesagt merkwürdige Argumentation – nicht nur, aber auch, wenn man sich die ernüchternde Bilanz der letzten Regulierungsrunde die Leiharbeit betreffend anschaut (vgl. dazu beispielsweise Ein „kleingehäckseltes“ koalitionsvertragsinduziertes Abarbeitungsgesetz zu Leiharbeit und Werkverträgen vom 21. Oktober 2016 und Wenn die Leiharbeiter in der Leiharbeit per Tarifvertrag eingemauert werden und ein schlechtes Gesetz mit gewerkschaftlicher Hilfe noch schlechter wird vom 19. April 2017. Die brauchen nun wirklich keine weitere Hilfestellung mehr für ihre Geschäfte).

Da lohnt dann wieder der Blick auf die Daten. Was beispielsweise in dem Beitrag Flüchtlinge am Arbeitsmarkt: Mehr als jeder Zwölfte in Leiharbeit, in dem die vorliegenden BA-Daten ausgewertet werden und der bereits am 14. Juni 2017 veröffentlicht worden ist, geleistet wird.
Knapp 664.000 erwerbsfähige Personen aus nichteuropäischen Asylherkunftsstaaten wurden im Mai 2017 von der Bundesagentur für Arbeit (BA) statistisch erfasst. Nach Anerkennung ihres Asylantrages dürfen Flüchtlinge uneingeschränkt in Deutschland arbeiten. Bei Arbeitslosigkeit und/oder Hilfebedürftigkeit erhalten sie zunächst Hartz-IV-Leistungen.

Die meisten Flüchtlinge arbeiteten laut BA-Statistik zum Stichtag 30.09.2016 im Gastgewerbe (16,8 Prozent). Auffallend ist jedoch, dass 8,5 Prozent, also mehr als jeder zwölfte Flüchtling, in Leiharbeit beschäftigt ist. Betrachtet man hingegen die sozialversicherungspflichtige Beschäftigung deutscher Arbeitnehmer, spielt Leiharbeit quantitativ kaum eine Rolle: Nur 2,2 Prozent der deutschen sozialversicherungspflichtigen Beschäftigten sind bei einer Arbeitnehmerüberlassung angestellt.

„Flüchtlinge kommen im Hartz-IV-System an – und auf dem Arbeitsmarkt“, so einer der Schlussfolgerungen in dem Artikel:

Ein Blick auf die Daten zeige, »dass sozialversicherungspflichtige Beschäftigung von Personen aus Asylherkunftsländern insgesamt leicht zugenommen hat. Mittlerweile gehen 12,5 Prozent dieser Personengruppe einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nach. Im März 2016 war es nur jeder Zehnte. Innerhalb der Bevölkerungsgruppe aus den acht stärksten Asylzuzugsstaaten sind die Anteile der Hartz-IV-Empfänger und Arbeitslosen allerdings sehr hoch. Im Vergleich zum Vorjahr ist vor allem die SGB-II-Quote der Bevölkerung aus Asylherkunftsländern massiv angestiegen: Waren im März 2016 erst rund ein Drittel abhängig von Hartz-IV-Leistungen, waren es im Februar 2017 schon mehr als die Hälfte.«

Das ist aber nur die „sichtbare“ Seite der Arbeitsmarkt-Integration von Flüchtlingen. Man darf an dieser Stelle nicht aus den Augen verlieren, dass es wie immer auch eine Schattenseite gibt, die naturgemäß weitaus schwerer zu durchdringen oder gar zu erfassen ist. Die Gegenüberstellung „Bleiben sie länger fern oder kommen sie an?“ erweist sich als das, was es in der Lebenswirklichkeit sein muss – kein Entweder-Oder, sondern ein Kontinuum der Übergänge dazwischen. Nur sind darunter auch Übergänge, die man nicht so gerne sehen möchte, was nichts daran ändert, dass es sie gibt und dass sie möglicherweise an Bedeutung gewinnen werden (müssen), wenn man in anderen Bereichen die Optionen verengt.

So gibt es – angeblich – viele, die es schaffen, auch ohne Aufenthaltsgestattung Geld zu verdienen.

»In jenem Graubereich der deutschen Volkswirtschaft, in dem die Dinge nicht mit einem Vertrag, sondern per Handschlag geregelt werden. Wo weder Steuern noch Sozialversicherungsbeiträge gezahlt werden und aus einem Anstellungsverhältnis schnell ein Ausbeutungsverhältnis wird: auf dem schwarzen Arbeitsmarkt. Fragt man bei Gewerkschaften und Flüchtlingsberatungsstellen, in welchen Branchen die Abgelehnten ihr Geld verdienen, hört man immer dasselbe: Sie mauern Häuser, putzen Hotelzimmer, waschen Teller, stechen Spargel, pflücken Erdbeeren, schrubben Container, entladen Schiffe, schneiden Hecken, waschen Autos, bauen Gerüste auf, räumen Lagerregale ein«, berichtet Caterina Lobenstein in ihrem Artikel Schwarzarbeit: Hätte, hätte, hätte.
Flüchtlingsberatungsstellen und Gewerkschafter sind sich einig, dass mit der Zahl der abgelehnten Flüchtlinge auch die Zahl der Schwarzarbeiter steigen dürfte. Dazu muss man wissen: Rund 40 Prozent der Asylanträge wurden im vergangenen Jahr nicht bewilligt. Das heißt: Hunderttausende Flüchtlinge müssten das Land eigentlich verlassen. Dass nicht alle gehen oder abgeschoben werden, ist jetzt schon klar. Weil sie krank sind zum Beispiel, weil sie keinen Pass besitzen oder weil sie vor Gericht ziehen und gegen ihren Asylbescheid klagen.

Und vor Ort sieht das dann so aus:

»Saskia Spath, die für den Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB) Flüchtlinge berät, erzählt, in Hamburg hätten schon wenige Wochen nach der Eröffnung der großen Flüchtlingsunterkünfte Lieferwagen vor den Heimen gestanden, um arbeitswillige Flüchtlinge auf Baustellen und zum Hafen zu fahren. „Die Strukturen sind da“, sagt Spath: die illegalen Jobvermittler, die Plätze und Straßen in den Randbezirken, auf denen morgens die Tagelöhner stehen und warten, bis jemand kommt, der Arbeit für sie hat. Die Beratungsstelle, in der Spath arbeitet, ist eigentlich nicht für Flüchtlinge gedacht, sondern für Polen, Rumänen oder Bulgaren, die nach dem EU-Beitritt der osteuropäischen Länder als billige Arbeitskräfte nach Deutschland zogen. Immer öfter aber kämen jetzt Leute, für die Spath und ihre Kollegen gar keine Übersetzer haben: Afghanen, Gambier, Eritreer.«
Nicht, dass darüber nicht berichtet wird: »Viele Geflüchtete arbeiten schwarz – weil sie keine reguläre Beschäftigung finden und ihre Familien unterstützen möchten. Unseriöse Jobvermittler profitieren davon«, so beispielsweise Zoya Mafouhd unter der Überschrift Schuften für zwei Euro die Stunde. Da ist beispielsweise der 30-jährige Mohammed, der in Damaskus Jura studiert hat.

»Jetzt arbeitet er schwarz auf einer Baustelle für vier Euro Stundenlohn. „Im juristischen Bereich konnte ich keine Anstellung bekommen, denn mein Abschluss wird hier in Deutschland nicht anerkannt“, berichtet Mohamed und nippt an seinem Tee. Gleichzeitig braucht seine Familie, die auf der Flucht in der Türkei hängengeblieben ist, Unterstützung. Einen Job als Tellerwäscher hat er schnell aufgegeben – dort bekam der gelernte Jurist nur zwei Euro die Stunde. Über einen Mitbewohner aus dem Wohnheim, wo Mohamed in einem Doppelzimmer lebt, kam er an den Job auf der Baustelle. „Jetzt verdiene ich zusätzlich zur Sozialhilfe, die mir der Staat bezahlt, immerhin etwas, das ich an meine Familie weiterleiten kann.“«

Und man soll sich nichts vormachen – sofort breiten sich die Strukturen der windigen Geschäftemacher aus: »Und so versuchen unseriöse Leiharbeitsfirmen und Jobvermittler, aus diesen Notlagen und der mangelnden Vertrautheit der Geflüchteten mit den Arbeitsgesetzen Profit zu schlagen. Sie gehen in die Flüchtlingsheime, um dort Leute für vertragslose Tätigkeiten zu ködern, und streichen dafür Vermittlungsgebühren in Höhe von mehreren hundert Euro ein. Im Gegenzug werden die Geflüchteten, die sich darauf einlassen, mit lächerlich niedrig bezahlten Jobs abgespeist – im Extremfall für 30 Cent die Stunde.«

Man sollte sich keinen Illusionen hingeben – auf dem Arbeitsmarkt ist es wie mit Wasser, das auf Hindernisse stößt. Es sucht sich neue Wege. Und wieder einmal bewahrheitet sich die Erkenntnis, die von einigen schon am Anfang der großen Flüchtlingszuwanderung im Jahr 2015 noch auf dem Gipfel der Euphorie kritisch vorgetragen wurde: Man sollte unabhängig von der Frage, ob und wie lange die Menschen bleiben werden/dürfen, Erwerbsarbeit ermöglichen und – wenn notwendig – auch öffentlich geförderte Beschäftigung in Verbindung mit schrittweisen Qualifizierungskomponenten durch echte Arbeit organisieren, gerade für die vielen jüngeren Flüchtlinge, von denen viele derzeit festhängen in einem Nirwana der (offiziellen) Nicht-Beschäftigung und der Suche nach Einkommensquellen. Und sei es allein, um sich eine Menge Probleme zu ersparen.

Rein in den Normalbetrieb? Wie für alle anderen auch – plus Sprachkurse. Der Sachverständigenrat für Integration und Migration zur Flüchtlingspolitik 2017

Der Sachverständigenrat für Integration und Migration veröffentlicht jeweils im Frühjahr sein jährliches Gutachten. Das Jahresgutachten 2017 steht unter der Überschrift Chancen in der Krise: Zur Zukunft der Flüchtlingspolitik in Deutschland und Europa. Mit dem neuen Gutachten unterbreitet das Gremium »Vorschläge zur Weiterentwicklung der EU-Flüchtlingspolitik, die auf eine neue Verantwortungsteilung innerhalb der EU zielen. Ein Kernelement für die faire Verteilung von Flüchtlingen sind EU-weite Freizügigkeitsrechte, die anerkannte Flüchtlinge unter bestimmten Voraussetzungen erhalten könnten. Zudem geht es um Möglichkeiten und Grenzen bei der Zusammenarbeit mit Transit- und Erstaufnahmestaaten, u. a. dem ‚EU-Türkei-Deal‘. In einem zweiten Teil analysiert der SVR die Neuregelungen zur Integration von Flüchtlingen in Deutschland, vor allem in den Bereichen Unterbringung, Bildungs- und Arbeitsmarktintegration sowie Wertevermittlung.«

Angesichts der Tatsache, dass anders als noch vor einigen Monaten in den Medien kaum und nur noch sehr punktuell über das Thema Flüchtlinge berichtet wird, lohnt ein Blick in das Gutachten des Sachverständigenrats, der von deutschen Stiftungen ins Leben gerufen wurde.

Andrea Dernbach hat ihre Wahrnehmung der Ausführungen des Sachverständigenrats unter die knackig daherkommende Überschrift Für ein Ende der Flüchtlingsprogramme gestellt: »Experten empfehlen, Arbeit und Bildung für Geflüchtete zu fördern wie für alle anderen – plus Sprachkurse.«

»Raus aus dem Krisenmodus, hinein in den Normalbetrieb: Das empfiehlt der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) in seinem am Dienstag veröffentlichten Jahresgutachten nach zwei Jahren „Flüchtlingskrise“. Insbesondere auf dem Arbeitsmarkt und in den Schulen sollten Sonderprogramme für Geflüchtete vermieden oder heruntergefahren und stattdessen die Mittel klassischer Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik genutzt werden, die für alle da sind.«

Für die minderjährigen Flüchtlinge, die in den vergangenen beiden Jahren nach Deutschland gekommen sind, sei die Schule „die zentrale Integrationsinstanz“. Gerade in den Schulen müsse ethnische und soziale Trennung vermieden werden, was bedeutet, die Kinder so rasch wie möglich in den Regelunterricht zu nehmen. Denn auch wenn sogenannte Willkommensklassen „einen Schutzraum“ böten, dürften sie geflüchtete Kinder nicht nachhaltig isolieren.
Auch was den Arbeitsmarkt angehe, sehe man „Sondermaßnahmen für Flüchtlinge eher skeptisch“, heißt es im Gutachten.

Schauen wir im Original nach – und der Sachverständigenrat hat als Kurzfassung des Jahresgutachtens Neun Kernbotschaften veröffentlicht.

1.) „Die Krise der europäischen Flüchtlings- und Asylpolitik als Anlass für Reformen nutzen: beim Verfahrensvollzug ‚mehr Europa‘ wagen“ – so ist der erste, auf die europäische Ebene zielende Punkt benannt. Der Rat sieht bei allen Umbrüchen und offensichtlichen Widerständen die »Chance, dass wichtige politische Akteure in Europa und zumindest einigen Mitgliedstaaten ihre Anstrengungen (wieder) bündeln, um das Gemeinsame Europäische Asylsystem weiterzuentwickeln.« Und der Rat »begrüßt grundsätzlich die Europäisierung, die die Europäische Kommission derzeit im Bereich des Verfahrensvollzugs vorantreibt: Die Grenzschutzagentur Frontex und das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) werden aufgewertet, und Richtlinien werden durch Verordnungen ersetzt, um die Verfahren stärker zu vereinheitlichen. Dennoch ist hier eine gewisse Skepsis angezeigt. Denn nicht zuletzt die Erfahrungen mit der Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise haben gezeigt, dass auch ein ausgefeiltes europäisches Regelwerk ins Leere läuft, wenn gemeinsam beschlossene Regeln nicht in allen Mitgliedsländern umgesetzt werden.« Wohl wahr.

Der Rat legt den Finger auf eine offensichtliche Wunde: Die bisherige Praxis, den Ländern an den EU-Außengrenzen die alleinige Verantwortung für die Durchführung der Verfahren, die Rückführung abgelehnter und die Integration anerkannter Asylbewerber zuzuweisen, kann als ursächlich für den kalten Boykott des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems seitens der Erstaufnahmestaaten angesehen werden. So wurden bei der Aufnahme und den Asylverfahren die festgelegten Standards nicht erfüllt, und die Flüchtlinge konnten zum Teil unkontrolliert weiterziehen.

Was sollte man also tun?

2.) „Verantwortung innerhalb Europas verteilen, flexible Solidarität ermöglichen, konditionierte Freizügigkeit gewähren“. In Brüssel wird das Problem gesehen und diese Variante ins Spiel gebracht: Die Kommission schlägt eine zentralistisch ausgerichtete und staatlich verwaltete ‚Umverteilungshydraulik‘ vor: Sobald die Aufnahme von Flüchtlingen in einem Land einen bestimmten Grenzwert überschreitet, werden automatisch Flüchtlinge aus diesem Land in solche mit einem niedrigeren Grenzwert umverteilt. Nun wird selbst der EU-geneigte Leser an dieser Stelle angesichts der erfahrenen Widerstände in einigen Mitgliedsstaaten der EU gegen die Aufnahme auch nur eines Flüchtlings mit großer Skepsis dem Plan aus Brüssel lauschen. Auch der Rat sieht natürlich das flüchtlingspolitische Gefälle innerhalb der EU und vor allem die relative Machtlosigkeit der Staatengemeinschaft gegenüber einzelnen Mitgliedsstaaten. Der vom Rat präsentierte Ansatz geht so:

»Der SVR schlägt dagegen vor, Weiterwanderungsabsichten von Flüchtlingen als Beitrag zu deren Verteilung innerhalb Europas zu nutzen. Dafür sollen Personen, die als schutzberechtigt anerkannt wurden, unter bestimmten Bedingungen gewisse Freizügigkeitsrechte erhalten. Dabei sind unterschiedliche Varianten einer Konditionalisierung solcher Rechte denkbar, beispielsweise über eine enge Rückkopplung an den Arbeitsmarkt des Ziellands oder durch die Einführung sozialrechtlicher Karenzzeiten. Denkbar wäre auch, solche konditionalisierten Freizügigkeitsrechte für anerkannte Flüchtlinge mit einem (solidarischen) EU-weiten Mechanismus des finanziellen Aus- gleichs zu verbinden: Sowohl den Erstaufnahmeländern als auch den Ländern, in die viele anerkannte Flüchtlinge weiterwandern, würde darüber zumindest ein Teil der Integrationskosten erstattet, die ihnen aus der Zuwanderung entstehen.«

Aber auch das setzt voraus, dass sich alle Mitgliedsstaaten zu der konditionierten Freizügigkeit bekennen.
Und auch ein weiteres heißes Eisen wird angesprochen:
3. ) „Kooperationen mit Transitstaaten sind trotz Dilemmata ein wichtiger Schritt“. Hier geht es vor allem die EU- Türkei-Erklärung, die landläufig als ‚Deal‘ bezeichnet wird. In der öffentlichen Diskussion überwiegen kritische Aspekte, durchaus nicht unberechtigt. Dennoch hält es der Rat für falsch, den mit der EU-Türkei-Erklärung eingeschlagenen Weg pauschal zu verdammen. »Denn er bricht mit einer perversen Logik: Nach dem gegenwärtigen Flüchtlingsrecht können nur diejenigen ihr Recht auf Schutz in Anspruch nehmen, die auf irregulären Wegen nach Europa kommen; diejenigen, die diesen Weg nicht einschlagen (können), bleiben im wahrsten Wortsinn ‚außen vor‘.« Man muss, so der Rat, die EU-Türkei-Erklärung gewissermaßen als Umsetzungsbaustein einer an sich schon älteren Idee verstehen: »die Asylpolitik der EU stärker auf das Territorium außerhalb Europas zu verlagern.« Erwogen wird u. a., jenseits der EU-Grenzen Aufnahmezentren einzurichten und Asylverfahren dort durchzuführen. Als mögliche Kooperationspartner für solche Aufnahmezentren rücken vor allem die Länder Nordafrikas in den Blick. Der Rat erkennt hier durchaus Chancen:

»Schutzbedürftige könnten dann auf sicherem Weg legal in die EU einreisen; das würde die Zahl der irregulären, gefährlichen und nicht selten tödlich endenden Fahrten über das Mittelmeer spürbar verringern. Über Resettlement könnten jene ausgewählt werden, die einen Schutz in Europa am meisten benötigen, z. B. verfolgte Frauen, alleingelassene Minderjährige, Kranke und Alte – damit bliebe Schutz nicht jenen vorbehalten, die physisch am stärksten sind oder die meisten Ressourcen aufbringen können.«

Was natürlich voraussetzt, dass man wem auch immer überhaupt die Möglichkeit eröffnet, aus den Aufnahmelagern im nördlichen Afrika legal in die EU zu kommen. Schon da kann man Fragezeichen anbringen. Und dann gibt es eine weitere (völlig berechtigte, aber angesichts der Realitäten hinsichtlich einer Verwirklichung mehr als fragwürdige) Forderung: »Eine Durchführung von Asylverfahren in solchen Aufnahmezentren müsste natürlich europäischen Menschenrechtsstandards entsprechen.« Natürlich. Aber selbst der Rat kann die Wahrscheinlichkeiten an fünf Fingern abzählen und formuliert etwas verdruckst: »Solche Zentren zu errichten und ordnungsgemäß zu betreiben wäre ein mittel- bis langfristiges Projekt, es ließe sich nicht von heute auf morgen umsetzen.« Und selbst wenn man das weiter verfolgen würde, sieht der Rat neue Fragen am Horizont (wer betreibt und kontrolliert solche Asylzentren, wer trägt die rechtliche Verantwortung und stellen solche Asylzentren nicht auch einen (Fehl-)Anreiz für jene dar, die es einmal austesten wollen, legal und risikoarm nach Europa zu gelangen?). Dennoch, eine grundsätzliche Ablehnung dieses Ansatzes ist beim Rat nicht zu erkennen und das wird den einen oder anderen in der Szene sicher überraschen und treffen.

Und das nächste heiße Eisen folgt auf dem Fuße:

4.) „Freiwillige Rückkehr fördern, Abschiebungen menschenwürdig und rasch vollziehen“. Wenn schon abgeschoben werden muss, dann sollte nicht zu viel Zeit vergeht. Die Abschiebung von abgelehnten Asylbewerbern wird oft dadurch erschwert, dass die Herkunftsstaaten nicht bereit sind, ihre Staatsbürger zurückzunehmen. Hier fragt der Rat, »warum gerade in diesem Bereich nicht stärker europäisch zusammengearbeitet wird«, um die betroffenen Staaten zur Kooperation zu bewegen.

5.) „Rechtlich ‚in der Spur‘ bleiben: Asyl- und Arbeitsmigration nicht vermengen“. Hier positioniert sich der Rat deutlich:

»Gerade das Asylrecht sollte nicht verwässert werden und Fehlanreize setzen, indem die Einwanderungspolitik z. B. einen ‚Spurwechsel‘ vom Asyl zur Erwerbsmigration ermöglicht. Es kann sinnvoll sein, Asylbewerbern eine Erwerbsarbeit zu gestatten, wenn ihr Verfahren ohne ihre Schuld sehr lange dauert. Wenn ein ‚Spurwechsel‘ aber ganz allgemein und frühzeitig ermöglicht wird, setzt das unweigerlich falsche Anreize. Außerdem hat Asyl einen besonderen, menschenrecht- lich abgesicherten Stellenwert. Wird es zu eng mit dem Arbeitsmarkt gekoppelt, könnten sich die öffentliche Meinung und die Akzeptanz der Flüchtlingszuwanderung umkehren, wenn ein Überangebot von Arbeitskräften entsteht: Dann würde möglicherweise argumentiert, dass weniger Asyl gewährt werden soll, weil es im Land so viele Arbeitsuchende gibt.«

Das innenpolitisch bekanntlich heftig umstrittene Instrument, bestimmte Länder zu sicheren Herkunftsländern zu erklären, wird angesichts der Signalfunktion gegenüber den Zuwanderungswilligen, dass Asyl nicht für alle der richtige Kanal ist, vom Rat unterstützt. Auch der Vorschlag, eine gemeinsame, EU-weit gültige Liste sicherer Herkunftsländer zu erarbeiten, word ausdrücklich unterstützt – auch, um »eine ‚Schutzlotterie‘ … (zu) vermeiden, dass ein Asylbewerber aus dem Land A im EU-Mitgliedstaat X als Staatsbürger eines sicheren Herkunftslands behandelt wird und im EU-Mitgliedstaat Y nicht.« Allerdings wird darauf hingewiesen, dass man die tatsächliche Wirkung dieses Instruments nicht überschätzen sollte, die liegt eher im symbolischen Bereich.

Und was machen wir mit denen, die schon bei uns sind und von denen viele bleiben werden?

6.) „Flüchtlingskinder möglichst rasch in schulische Regelstrukturen integrieren, berufliche Bildung flexibler gestalten“. Der Rat warnt generell davor, zur Beschulung von Flüchtlingen eine spezielle Infrastruktur zu schaffen. In der beruflichen Ausbildung wird für eine stärkere Modularisierung plädiert. Entsprechende Reformen sollen jungen Flüchtlingen ermöglichen, niedrigschwellig ins System beruflicher Bildung einzusteigen und die erforderlichen Kompetenzen stufenweise aufzubauen. Nach Auffassung des Rats »könnte erwogen werden, … berufliche Ausbildungsgänge zumindest versuchsweise aufzugliedern in eine Basisausbildung und eine daran anschließende Spezialisierungsphase … Eine solche Modularisierung erzeugt traditionell starke Widerstände und birgt zweifellos auch gewisse Risiken. Allerdings würde eine Flexibilisierung dieser Art nicht nur Flüchtlingen zugutekommen, sondern z. B. auch jungen Langzeitarbeitslosen.«

7.) „Für Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen Regelstrukturen nutzen, informelle Qualifikationen stärker anerkennen“. Auch hier werden Sondermaßnahmen für Flüchtlinge eher skeptisch gesehen. »Vielmehr sollte in diesem Bereich das bewährte Portfolio der Arbeitsmarktpolitik, die in den letzten Jahren grundlegend reformiert wurde, ausgeschöpft werden. Deutschland ist in aktiven wie in passiven arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen gut aufgestellt.« Das nun ist eine vorsichtig formuliert sehr naive Sichtweise auf das Feld der Arbeitsmarktpolitik und der tatsächlichen Probleme, die wir dort gerade im „Regelbetrieb“ haben. Aber offensichtlich ist das kein Kompetenz-Schwerpunkt dieses Sachverständigenrats.

Und schon sind sie wieder bei einem weiteren Thema:

8.) „Wohnsitzauflage ,in der Stadt‘ und ,auf dem Land‘ nutzen“. Nach Auffassung des Rats verschafft die Wohnsitzauflage mit ihrer Begrenzung auf drei Jahre eine Atempause, die man nutzen sollte, denn »nach Ablauf der zeitlichen Befristung ein noch nicht genauer zu bestimmender Anteil aufmachen und dorthin ziehen, wo Angehörige jetzt bereits wohnen, und das sind meistens die großen Städte des Landes. Wenn in den Wohngebieten und daran gekoppelt auch im gesellschaftlichen Bereich Segregation verhindert werden soll (Stichwort ‚Parallelgesellschaft‘), sollten die Städte – auch aus integrationspolitischen Gründen – rechtzeitig Maßnahmen ergreifen, um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen.« Da werden sich die besonders betroffenen Großstädte aber sicher für bedanken, für diese wohlfeile Überlegung.

Und zum Schluss:

9.) „Werte zu vermitteln ist wichtig; Werteübernahme erfordert aber gemeinsame Praxis und soziale Teilhabe“. Bei der Reform der Integrationskurse wurde der Orientierungsteil dieser Kurse von 60 auf 100 Stunden aufgestockt. »Der SVR unterstützt dies, warnt aber gleichzeitig davor, die Wirkung auf den ‚Wertehaushalt‘ von Flüchtlingen zu überschätzen, die diese Stundenerhöhung entfalten kann. Ohne Zweifel ist es wichtig, die Werte des Grundgesetzes und die deutsche Rechtsordnung zu vermitteln und dafür nachdrücklich zu werben. Es ist auch legitim zu fordern, dass sie eingehalten werden. Eine echte Übernahme dieser Werte lässt sich aber nicht erzwingen.«
Dann wird noch darauf hingewiesen, dass sich die Aufnahmegesellschaft bemühen muss bei Teilhabe und Integration, dass sich aber auch die Menschen, die zu uns gekommen sind, anstrengen müssen. Das bleibt auf einer sehr allgemeinen Ebene, der man nicht widersprechen kann.

Auftauchende und ertrunkene Flüchtlinge, die Türkei und was Gabriele Del Grande damit zu tun hat. Ein leider notwendiger Rückblick

Seit mehreren Jahren gibt es diesen Blog. Und nicht selten wurde hier schon frühzeitig auf Themen (und Personen) hingewiesen, die zu einem späteren Zeitpunkt dann die öffentliche Diskussion beherrscht haben. Zugleich – auch das wurde und wird hier regelmäßig kritisiert – sind die meisten öffentlichen Debatten mit einem immer schnelleren Verfallsdatum versehen, sie tauchen empor, besetzen die Berichterstattung und die Talk-Shows nicht selten monothematisch in einem bestimmten Zeitraum, bis ihnen dann die Luft ausgeht und sie von der nächsten Aufmerksamkeits- und (scheinbaren) Quotensau, die durchs mediale Dorf getrieben wird, abgelöst werden. Nehmen wir als Beispiel „die Flüchtlinge“. Wenn wir uns an den Herbst und Winter 2015 und die erste Zeit im Jahr 2016 erinnern, dann haben wir alle die unzähligen Bilder und Töne vor Augen und im Ohr, die nur noch dieses Thema behandelt haben, so dass man den Eindruck bekommen konnte, es gibt nur noch Flüchtlinge. Selbst der (bisherige) Aufstieg einer Partei wie der AfD kann und muss mit dieser Phase assoziiert werden, sie wäre nicht möglich gewesen ohne die Entscheidung der Bundeskanzlerin in 2015, die Grenzen zu öffnen. Auch wenn es im Herbst 2015 vor allem um Flüchtlinge ging, die über die „Balkan-Route“ gekommen sind, schon Jahre vorher gab es die Route, die heute nach dem fragilen Pakt mit der Türkei und der Abschottung der südosteuropäischen Länder wieder im Mittelpunkt der Fluchtbewegungen steht – das Mittelmeer.

Und schon lange, bevor das Thema Flüchtlinge hier in Deutschland in größerem Umfang wahrgenommen und diskutiert wurde, gab es Versuche vor allem einzelner Akteure, auf das hinzuweisen, was damals schon tagtäglich in der Urlaubsbadewanne der Europäer passiert ist – der Tod vieler unbekannter Menschen, die elendig ertrunken sind bei ihrem Versuch, die Festung Europa auf dem Wasserweg zu erreichen.

Bereits am 29. Oktober 2012 wurde auf der Facebook-Seite von „Aktuelle Sozialpolitik“ dieser Beitrag veröffentlicht, in dem auch der italienische Journalist Gabriele Del Grande auftaucht:

»Was sind wir beschäftigt mit den kleinen und großen sozialpolitischen Problemen in unserem Land, die für viele Menschen schon schwer genug zu bearbeiten oder ertragen sind. Wir debattieren verständlicherweise über die Zukunft der Rente (oder was davon noch mal bleiben wird), über die Pflege und ihre angebliche Unbezahlbarkeit, über fehlende Kita-Plätze und ab und an auch über arbeitslose Menschen. Ganz selten – beispielsweise wenn das Bundesverfassungsgericht der Politik mal wieder grundsätzliche Anmerkungen ins Stammbuch schreibt – taucht dann auch das Schattenreich der Flüchtlinge, der Asylbewerber, noch seltener der „Papierlosen“, die als Illegale in unserem Land leben, auf. Das war vor kurzem so, als die deutlich niedrigeren Leistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes im Vergleich zur „normalen“ Grundsicherung für verfassungswidrig erklärt worden sind. Und auch aktuell schiebt sich das Thema wieder an die Oberfläche der tagesaktuellen Berichterstattung, allerdings nicht selten eher mit seiner hässlichen Fratze, also einem lauten Alarmismus angesichts einer steigenden Zahl von Asylbewerbern vor allem aus den bitterarmen Balkanstaaten, hierbei vor allem von Roma und Sinti, die sich zu den anderen Armutsflüchtlingen in unserem Land gesellen und den Bundesinnenminister sofort in eine Abwehrhaltung versetzen. Aber dieses Thema und Problem soll hier gar nicht ausgebreitet werden.

Es gibt noch eine andere, eine noch dunklere Seite des Themas – nämlich die unzähligen Fälle einer gescheiterten Flucht hinter die Mauern der Wohlfühl-Festung Europa. Vieles liegt hier naturgemäß im Nicht-Erfahrbaren verborgen, kein Statistik-Amt zählt die menschlichen Tragödien, die sich hier tagtäglich abspielen. Zuweilen dringen kurze, verstörende Informationsbröckchen von den Rändern der Festung Europa, da, wo es im wahrsten Sinne um Leben und Tod geht. Wer von uns erinnert sich nicht an die erschütternden Bilder von afrikanischen Flüchtlingen auf Booten, deren Bezeichnung als „Seelenverkäufer“ noch zu euphemistisch wäre. Und einige wenige Nachrichten erreichen uns aus einem Land wie Griechenland, selbst am Abgrund des Staatsversagens und der Auflösung basaler Versorgungsstrukturen stehend, die dann auch noch mit Flüchtlingsströmen konfrontiert werden, die über die Türkei oder das offene Meer bei ihnen anlanden.

Aber es gibt auch Menschen, die haben in all dem Elend das Zählen nicht aufgegeben, die mit kaum verständlicher Akribie die Zahl der Gescheiterten festzuhalten versuchen und die uns konfrontieren mit einem Blick in die Hölle auf Erden.

Gabriele del Grande, ein italienischer Journalist, Blogger, Schriftsteller und Menschenrechtler, ist ein solcher Mensch. Er gehört zu den führenden Menschenrechtlern im Bereich illegal eingewanderter Menschen in Italien und Europa.

2006 gründete er mit dem Blog Fortress Europe ein Forum, dass sich mit der Problematik illegal eingewanderter Menschen beschäftigt und in dieser Form einzigartig in Europa ist. Gabriele del Grande führt eine „Liste tödlicher Asylpolitik“, in der er versucht, die Menschen zu zählen, die beim Versuch, die Festung Europa zu erreichen, zu Tode gekommen sind – zumeist elendig ertrunken im Urlauberparadies Mittelmeer.

Am Wochenende musste er neue Opfer eintragen: Beim Versuch, die Küste Spaniens zuerreichen, ertranken seit Donnerstag mindestens 16 Menschen. Und dann wird man an den Rand des Abgrunds geführt, wenn man einen Blick auf seine akribisch geführte Liste wirft: Mindestens 18.567 Menschen sind seit 1988 beim Versuch zu Tode gekommen, die EU-Außengrenzen zu überwinden.

Ich muss gestehen, abseits der sporadischen Bildfetzen, die einem von den Vorposten der Europäischen Union erreichen, war mir diese Dimension nicht bekannt.

Thomas Fix hat in einem kürzlich erschienenen Artikel im „Freitag“ diesen überschrieben mit Gabriele del Grande- Held der Namenlosen. Es gibt verdammt viele Namenlose, die an unsere Türen klopfen. Das alles macht einen nachdenklich und es lässt einen auch ratlos zurück. Aber es ist wichtig, solche Stimmen hörbar werden zu lassen. Das hier war ein ganz kleiner, erster Versuch. Weitere werden folgen.«

Diese damals so einsame und wichtige Arbeit des Bloggers wurde dann erneut aufgerufen in einem weiteren Beitrag auf der Facebook-Seite  am 15. Juli 2013, als es darum ging, dass FPapst ranziskus auf der italienischen Insel Lampedusa – dem Außenposten der Wohlstandsinsel Europa – die Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal von Migranten angeprangert hat.

Und mehr als ein Jahr später wurde in diesem Blog in dem Beitrag „Todesurteil für viele Flüchtlinge“. Mare Nostrum hat 150.000 Menschen im Mittelmeer gerettet, jetzt kommt Triton erneut auf die Arbeit von Gabriele del Grande hingewiesen.

In der Zwischenzeit ist viel passiert. Und nun taucht Gabriele Del Grande erneut auf in den Medien. Aber nicht  für seine Todesliste der im Mittelmeer Ertrunkenen. Sondern im Kontext eines anderen Friedhofs der Welt, dem Schlachthaus Syrien – und den Ereignissen in der Türkei, wo Erdogan ganz offensichtlich die Transformation der Reste des demokratischen Systems am Bosporus hin zu einem islamistischen System vorantreibt.

Italienischer Journalist Del Grande verhaftet, so die Überschrift eines Artikels von Hartmut Burggrabe am 19. April 2017: »Der italienische Journalist Gabriele Del Grande wurde am 9. April in der Türkei festgenommen. Offenbar verweigern ihm die Behörden bislang jeden rechtlichen Beistand.« Aus dem Artikel kann man weiter entnehmen:

»Gabriele Del Grande hielt sich offenbar zu Recherchen für sein aktuelles Projekt zum Krieg in Syrien in der türkischen Grenzregion auf, das wie schon frühere Projekte des Journalisten und Aktivisten über Crowdfunding finanziert wird. Neben dem vielbeachteten und preisgekrönten Dokumentarfilm „An der Seite der Braut“ von 2014, der eine Gruppe Geflüchteter auf ihrem Weg von Italien durch Europa bis nach Schweden begleitet, hat sich Gabriele Del Grande über Italien hinaus durch diverse Buchveröffentlichungen (auf deutsch u.a. „Mamadous Fahrt in den Tod. Die Tragödie der irregulären Migranten im Mittelmeer“, 2011) und besonders durch seinen Blog Fortress Europe einen Namen gemacht, auf dem er mit einem Team über Jahre hinweg die Fluchtbewegungen und die Zahlen der im Mittelmeer Umgekommenen recherchierte und zusammentrug.«

»Als er Flüchtlinge an der türkisch-syrischen Grenze interviewen wollte, wurde er von der türkischen Polizei verhaftet. Seitdem wird er festgehalten – ohne offizielle Anklage«, so Spiegel Online unter der Überschrift Italien fordert Freiheit für Gabriele Del Grande. Auch die Organisation Pro Asyl hat sich zu Wort gemeldet: Freiheit für Gabriele del Grande!

»PRO ASYL arbeitet seit vielen Jahren mit Gabriele del Grande zusammen. Sein Blog »Fortress Europe« ist zu einer der wichtigsten Dokumentationsstellen gegen die europäische Abschottung geworden. 2010 hat Stiftung PRO ASYL ihm ihren Menschenrechtspreis verliehen und damit seine jahrelange Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen an Europas Grenzen gewürdigt.«

Man kann nur hoffen, dass diese Geschichte gut ausgeht für den Betroffenen – wir dürfen nicht vergessen, wie viele andere Journalisten derzeit in den türkischen Verliesen verschwunden sind.

Und ein besonderer Zynismus der Geschichte ist darin zu sehen, dass Gabriele Del Grande vor vielen Jahren auf die namenlosen Flüchtlinge aus Afrika, die im Mittelmeer ihr Leben verloren haben, aufmerksam gemacht hat – und jetzt in einem türkischen Knast einsitzt, in einem Land, aus dem viele Menschen gerade nach Europa fliehen und hier bei uns Asyl beantragen. Ich hoffe sehr, dass das Thema Flüchtlinge den engagierten Mann am Ende nicht selbst verschlingt.

Einkommensarmut von Kindern und Jugendlichen steigt durch Zuwanderung. Am Ende geht es wieder einmal um den Arbeitsmarkt

Die Zahl armer Kinder steigt neuen Zahlen zufolge – in erster Linie, weil Kinder von Flüchtlingen in prekären Verhältnissen leben. Aber auch unter einheimischen Kindern gibt es besonders gefährdete Gruppen. So beginnt Florian Diekmann seinen Artikel Zuwanderung lässt Kinderarmut steigen, in dem er über eine neue Untersuchung des gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) berichtet.

»Im Jahr 2015 lebten demnach im Schnitt 2,55 Millionen Mädchen und Jungen in Deutschland in Familien mit so wenig Geld, dass sie als arm oder armutsgefährdet gelten. Das entspricht einem Anteil von 19,7 Prozent aller Minderjähriger – im Jahr zuvor waren es noch 19,0 Prozent und damit 77.000 Kinder weniger.« Ein genauerer Blick auf die Daten ergibt hinsichtlich der Frage, woher dieser Anstieg kommt, einen interessanten Befund: »Demnach lässt sich der gesamte Anstieg der relativen Kinderarmut in den vergangenen Jahren mit der Zuwanderung von Flüchtlingen erklären, die ab 2012 deutlich anstieg, im Jahr 2015 einen Höhepunkt erreichte und seitdem stark rückläufig ist.« Der WSI-Kinderarmutsbericht ist Teil des WSI-Verteilungsmonitors.

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