Rein in den Normalbetrieb? Wie für alle anderen auch – plus Sprachkurse. Der Sachverständigenrat für Integration und Migration zur Flüchtlingspolitik 2017

Der Sachverständigenrat für Integration und Migration veröffentlicht jeweils im Frühjahr sein jährliches Gutachten. Das Jahresgutachten 2017 steht unter der Überschrift Chancen in der Krise: Zur Zukunft der Flüchtlingspolitik in Deutschland und Europa. Mit dem neuen Gutachten unterbreitet das Gremium »Vorschläge zur Weiterentwicklung der EU-Flüchtlingspolitik, die auf eine neue Verantwortungsteilung innerhalb der EU zielen. Ein Kernelement für die faire Verteilung von Flüchtlingen sind EU-weite Freizügigkeitsrechte, die anerkannte Flüchtlinge unter bestimmten Voraussetzungen erhalten könnten. Zudem geht es um Möglichkeiten und Grenzen bei der Zusammenarbeit mit Transit- und Erstaufnahmestaaten, u. a. dem ‚EU-Türkei-Deal‘. In einem zweiten Teil analysiert der SVR die Neuregelungen zur Integration von Flüchtlingen in Deutschland, vor allem in den Bereichen Unterbringung, Bildungs- und Arbeitsmarktintegration sowie Wertevermittlung.«

Angesichts der Tatsache, dass anders als noch vor einigen Monaten in den Medien kaum und nur noch sehr punktuell über das Thema Flüchtlinge berichtet wird, lohnt ein Blick in das Gutachten des Sachverständigenrats, der von deutschen Stiftungen ins Leben gerufen wurde.

Andrea Dernbach hat ihre Wahrnehmung der Ausführungen des Sachverständigenrats unter die knackig daherkommende Überschrift Für ein Ende der Flüchtlingsprogramme gestellt: »Experten empfehlen, Arbeit und Bildung für Geflüchtete zu fördern wie für alle anderen – plus Sprachkurse.«

»Raus aus dem Krisenmodus, hinein in den Normalbetrieb: Das empfiehlt der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR) in seinem am Dienstag veröffentlichten Jahresgutachten nach zwei Jahren „Flüchtlingskrise“. Insbesondere auf dem Arbeitsmarkt und in den Schulen sollten Sonderprogramme für Geflüchtete vermieden oder heruntergefahren und stattdessen die Mittel klassischer Arbeitsmarkt- und Bildungspolitik genutzt werden, die für alle da sind.«

Für die minderjährigen Flüchtlinge, die in den vergangenen beiden Jahren nach Deutschland gekommen sind, sei die Schule „die zentrale Integrationsinstanz“. Gerade in den Schulen müsse ethnische und soziale Trennung vermieden werden, was bedeutet, die Kinder so rasch wie möglich in den Regelunterricht zu nehmen. Denn auch wenn sogenannte Willkommensklassen „einen Schutzraum“ böten, dürften sie geflüchtete Kinder nicht nachhaltig isolieren.
Auch was den Arbeitsmarkt angehe, sehe man „Sondermaßnahmen für Flüchtlinge eher skeptisch“, heißt es im Gutachten.

Schauen wir im Original nach – und der Sachverständigenrat hat als Kurzfassung des Jahresgutachtens Neun Kernbotschaften veröffentlicht.

1.) „Die Krise der europäischen Flüchtlings- und Asylpolitik als Anlass für Reformen nutzen: beim Verfahrensvollzug ‚mehr Europa‘ wagen“ – so ist der erste, auf die europäische Ebene zielende Punkt benannt. Der Rat sieht bei allen Umbrüchen und offensichtlichen Widerständen die »Chance, dass wichtige politische Akteure in Europa und zumindest einigen Mitgliedstaaten ihre Anstrengungen (wieder) bündeln, um das Gemeinsame Europäische Asylsystem weiterzuentwickeln.« Und der Rat »begrüßt grundsätzlich die Europäisierung, die die Europäische Kommission derzeit im Bereich des Verfahrensvollzugs vorantreibt: Die Grenzschutzagentur Frontex und das Europäische Unterstützungsbüro für Asylfragen (EASO) werden aufgewertet, und Richtlinien werden durch Verordnungen ersetzt, um die Verfahren stärker zu vereinheitlichen. Dennoch ist hier eine gewisse Skepsis angezeigt. Denn nicht zuletzt die Erfahrungen mit der Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise haben gezeigt, dass auch ein ausgefeiltes europäisches Regelwerk ins Leere läuft, wenn gemeinsam beschlossene Regeln nicht in allen Mitgliedsländern umgesetzt werden.« Wohl wahr.

Der Rat legt den Finger auf eine offensichtliche Wunde: Die bisherige Praxis, den Ländern an den EU-Außengrenzen die alleinige Verantwortung für die Durchführung der Verfahren, die Rückführung abgelehnter und die Integration anerkannter Asylbewerber zuzuweisen, kann als ursächlich für den kalten Boykott des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems seitens der Erstaufnahmestaaten angesehen werden. So wurden bei der Aufnahme und den Asylverfahren die festgelegten Standards nicht erfüllt, und die Flüchtlinge konnten zum Teil unkontrolliert weiterziehen.

Was sollte man also tun?

2.) „Verantwortung innerhalb Europas verteilen, flexible Solidarität ermöglichen, konditionierte Freizügigkeit gewähren“. In Brüssel wird das Problem gesehen und diese Variante ins Spiel gebracht: Die Kommission schlägt eine zentralistisch ausgerichtete und staatlich verwaltete ‚Umverteilungshydraulik‘ vor: Sobald die Aufnahme von Flüchtlingen in einem Land einen bestimmten Grenzwert überschreitet, werden automatisch Flüchtlinge aus diesem Land in solche mit einem niedrigeren Grenzwert umverteilt. Nun wird selbst der EU-geneigte Leser an dieser Stelle angesichts der erfahrenen Widerstände in einigen Mitgliedsstaaten der EU gegen die Aufnahme auch nur eines Flüchtlings mit großer Skepsis dem Plan aus Brüssel lauschen. Auch der Rat sieht natürlich das flüchtlingspolitische Gefälle innerhalb der EU und vor allem die relative Machtlosigkeit der Staatengemeinschaft gegenüber einzelnen Mitgliedsstaaten. Der vom Rat präsentierte Ansatz geht so:

»Der SVR schlägt dagegen vor, Weiterwanderungsabsichten von Flüchtlingen als Beitrag zu deren Verteilung innerhalb Europas zu nutzen. Dafür sollen Personen, die als schutzberechtigt anerkannt wurden, unter bestimmten Bedingungen gewisse Freizügigkeitsrechte erhalten. Dabei sind unterschiedliche Varianten einer Konditionalisierung solcher Rechte denkbar, beispielsweise über eine enge Rückkopplung an den Arbeitsmarkt des Ziellands oder durch die Einführung sozialrechtlicher Karenzzeiten. Denkbar wäre auch, solche konditionalisierten Freizügigkeitsrechte für anerkannte Flüchtlinge mit einem (solidarischen) EU-weiten Mechanismus des finanziellen Aus- gleichs zu verbinden: Sowohl den Erstaufnahmeländern als auch den Ländern, in die viele anerkannte Flüchtlinge weiterwandern, würde darüber zumindest ein Teil der Integrationskosten erstattet, die ihnen aus der Zuwanderung entstehen.«

Aber auch das setzt voraus, dass sich alle Mitgliedsstaaten zu der konditionierten Freizügigkeit bekennen.
Und auch ein weiteres heißes Eisen wird angesprochen:
3. ) „Kooperationen mit Transitstaaten sind trotz Dilemmata ein wichtiger Schritt“. Hier geht es vor allem die EU- Türkei-Erklärung, die landläufig als ‚Deal‘ bezeichnet wird. In der öffentlichen Diskussion überwiegen kritische Aspekte, durchaus nicht unberechtigt. Dennoch hält es der Rat für falsch, den mit der EU-Türkei-Erklärung eingeschlagenen Weg pauschal zu verdammen. »Denn er bricht mit einer perversen Logik: Nach dem gegenwärtigen Flüchtlingsrecht können nur diejenigen ihr Recht auf Schutz in Anspruch nehmen, die auf irregulären Wegen nach Europa kommen; diejenigen, die diesen Weg nicht einschlagen (können), bleiben im wahrsten Wortsinn ‚außen vor‘.« Man muss, so der Rat, die EU-Türkei-Erklärung gewissermaßen als Umsetzungsbaustein einer an sich schon älteren Idee verstehen: »die Asylpolitik der EU stärker auf das Territorium außerhalb Europas zu verlagern.« Erwogen wird u. a., jenseits der EU-Grenzen Aufnahmezentren einzurichten und Asylverfahren dort durchzuführen. Als mögliche Kooperationspartner für solche Aufnahmezentren rücken vor allem die Länder Nordafrikas in den Blick. Der Rat erkennt hier durchaus Chancen:

»Schutzbedürftige könnten dann auf sicherem Weg legal in die EU einreisen; das würde die Zahl der irregulären, gefährlichen und nicht selten tödlich endenden Fahrten über das Mittelmeer spürbar verringern. Über Resettlement könnten jene ausgewählt werden, die einen Schutz in Europa am meisten benötigen, z. B. verfolgte Frauen, alleingelassene Minderjährige, Kranke und Alte – damit bliebe Schutz nicht jenen vorbehalten, die physisch am stärksten sind oder die meisten Ressourcen aufbringen können.«

Was natürlich voraussetzt, dass man wem auch immer überhaupt die Möglichkeit eröffnet, aus den Aufnahmelagern im nördlichen Afrika legal in die EU zu kommen. Schon da kann man Fragezeichen anbringen. Und dann gibt es eine weitere (völlig berechtigte, aber angesichts der Realitäten hinsichtlich einer Verwirklichung mehr als fragwürdige) Forderung: »Eine Durchführung von Asylverfahren in solchen Aufnahmezentren müsste natürlich europäischen Menschenrechtsstandards entsprechen.« Natürlich. Aber selbst der Rat kann die Wahrscheinlichkeiten an fünf Fingern abzählen und formuliert etwas verdruckst: »Solche Zentren zu errichten und ordnungsgemäß zu betreiben wäre ein mittel- bis langfristiges Projekt, es ließe sich nicht von heute auf morgen umsetzen.« Und selbst wenn man das weiter verfolgen würde, sieht der Rat neue Fragen am Horizont (wer betreibt und kontrolliert solche Asylzentren, wer trägt die rechtliche Verantwortung und stellen solche Asylzentren nicht auch einen (Fehl-)Anreiz für jene dar, die es einmal austesten wollen, legal und risikoarm nach Europa zu gelangen?). Dennoch, eine grundsätzliche Ablehnung dieses Ansatzes ist beim Rat nicht zu erkennen und das wird den einen oder anderen in der Szene sicher überraschen und treffen.

Und das nächste heiße Eisen folgt auf dem Fuße:

4.) „Freiwillige Rückkehr fördern, Abschiebungen menschenwürdig und rasch vollziehen“. Wenn schon abgeschoben werden muss, dann sollte nicht zu viel Zeit vergeht. Die Abschiebung von abgelehnten Asylbewerbern wird oft dadurch erschwert, dass die Herkunftsstaaten nicht bereit sind, ihre Staatsbürger zurückzunehmen. Hier fragt der Rat, »warum gerade in diesem Bereich nicht stärker europäisch zusammengearbeitet wird«, um die betroffenen Staaten zur Kooperation zu bewegen.

5.) „Rechtlich ‚in der Spur‘ bleiben: Asyl- und Arbeitsmigration nicht vermengen“. Hier positioniert sich der Rat deutlich:

»Gerade das Asylrecht sollte nicht verwässert werden und Fehlanreize setzen, indem die Einwanderungspolitik z. B. einen ‚Spurwechsel‘ vom Asyl zur Erwerbsmigration ermöglicht. Es kann sinnvoll sein, Asylbewerbern eine Erwerbsarbeit zu gestatten, wenn ihr Verfahren ohne ihre Schuld sehr lange dauert. Wenn ein ‚Spurwechsel‘ aber ganz allgemein und frühzeitig ermöglicht wird, setzt das unweigerlich falsche Anreize. Außerdem hat Asyl einen besonderen, menschenrecht- lich abgesicherten Stellenwert. Wird es zu eng mit dem Arbeitsmarkt gekoppelt, könnten sich die öffentliche Meinung und die Akzeptanz der Flüchtlingszuwanderung umkehren, wenn ein Überangebot von Arbeitskräften entsteht: Dann würde möglicherweise argumentiert, dass weniger Asyl gewährt werden soll, weil es im Land so viele Arbeitsuchende gibt.«

Das innenpolitisch bekanntlich heftig umstrittene Instrument, bestimmte Länder zu sicheren Herkunftsländern zu erklären, wird angesichts der Signalfunktion gegenüber den Zuwanderungswilligen, dass Asyl nicht für alle der richtige Kanal ist, vom Rat unterstützt. Auch der Vorschlag, eine gemeinsame, EU-weit gültige Liste sicherer Herkunftsländer zu erarbeiten, word ausdrücklich unterstützt – auch, um »eine ‚Schutzlotterie‘ … (zu) vermeiden, dass ein Asylbewerber aus dem Land A im EU-Mitgliedstaat X als Staatsbürger eines sicheren Herkunftslands behandelt wird und im EU-Mitgliedstaat Y nicht.« Allerdings wird darauf hingewiesen, dass man die tatsächliche Wirkung dieses Instruments nicht überschätzen sollte, die liegt eher im symbolischen Bereich.

Und was machen wir mit denen, die schon bei uns sind und von denen viele bleiben werden?

6.) „Flüchtlingskinder möglichst rasch in schulische Regelstrukturen integrieren, berufliche Bildung flexibler gestalten“. Der Rat warnt generell davor, zur Beschulung von Flüchtlingen eine spezielle Infrastruktur zu schaffen. In der beruflichen Ausbildung wird für eine stärkere Modularisierung plädiert. Entsprechende Reformen sollen jungen Flüchtlingen ermöglichen, niedrigschwellig ins System beruflicher Bildung einzusteigen und die erforderlichen Kompetenzen stufenweise aufzubauen. Nach Auffassung des Rats »könnte erwogen werden, … berufliche Ausbildungsgänge zumindest versuchsweise aufzugliedern in eine Basisausbildung und eine daran anschließende Spezialisierungsphase … Eine solche Modularisierung erzeugt traditionell starke Widerstände und birgt zweifellos auch gewisse Risiken. Allerdings würde eine Flexibilisierung dieser Art nicht nur Flüchtlingen zugutekommen, sondern z. B. auch jungen Langzeitarbeitslosen.«

7.) „Für Arbeitsmarktintegration von Flüchtlingen Regelstrukturen nutzen, informelle Qualifikationen stärker anerkennen“. Auch hier werden Sondermaßnahmen für Flüchtlinge eher skeptisch gesehen. »Vielmehr sollte in diesem Bereich das bewährte Portfolio der Arbeitsmarktpolitik, die in den letzten Jahren grundlegend reformiert wurde, ausgeschöpft werden. Deutschland ist in aktiven wie in passiven arbeitsmarktpolitischen Maßnahmen gut aufgestellt.« Das nun ist eine vorsichtig formuliert sehr naive Sichtweise auf das Feld der Arbeitsmarktpolitik und der tatsächlichen Probleme, die wir dort gerade im „Regelbetrieb“ haben. Aber offensichtlich ist das kein Kompetenz-Schwerpunkt dieses Sachverständigenrats.

Und schon sind sie wieder bei einem weiteren Thema:

8.) „Wohnsitzauflage ,in der Stadt‘ und ,auf dem Land‘ nutzen“. Nach Auffassung des Rats verschafft die Wohnsitzauflage mit ihrer Begrenzung auf drei Jahre eine Atempause, die man nutzen sollte, denn »nach Ablauf der zeitlichen Befristung ein noch nicht genauer zu bestimmender Anteil aufmachen und dorthin ziehen, wo Angehörige jetzt bereits wohnen, und das sind meistens die großen Städte des Landes. Wenn in den Wohngebieten und daran gekoppelt auch im gesellschaftlichen Bereich Segregation verhindert werden soll (Stichwort ‚Parallelgesellschaft‘), sollten die Städte – auch aus integrationspolitischen Gründen – rechtzeitig Maßnahmen ergreifen, um bezahlbaren Wohnraum zu schaffen.« Da werden sich die besonders betroffenen Großstädte aber sicher für bedanken, für diese wohlfeile Überlegung.

Und zum Schluss:

9.) „Werte zu vermitteln ist wichtig; Werteübernahme erfordert aber gemeinsame Praxis und soziale Teilhabe“. Bei der Reform der Integrationskurse wurde der Orientierungsteil dieser Kurse von 60 auf 100 Stunden aufgestockt. »Der SVR unterstützt dies, warnt aber gleichzeitig davor, die Wirkung auf den ‚Wertehaushalt‘ von Flüchtlingen zu überschätzen, die diese Stundenerhöhung entfalten kann. Ohne Zweifel ist es wichtig, die Werte des Grundgesetzes und die deutsche Rechtsordnung zu vermitteln und dafür nachdrücklich zu werben. Es ist auch legitim zu fordern, dass sie eingehalten werden. Eine echte Übernahme dieser Werte lässt sich aber nicht erzwingen.«
Dann wird noch darauf hingewiesen, dass sich die Aufnahmegesellschaft bemühen muss bei Teilhabe und Integration, dass sich aber auch die Menschen, die zu uns gekommen sind, anstrengen müssen. Das bleibt auf einer sehr allgemeinen Ebene, der man nicht widersprechen kann.

Auftauchende und ertrunkene Flüchtlinge, die Türkei und was Gabriele Del Grande damit zu tun hat. Ein leider notwendiger Rückblick

Seit mehreren Jahren gibt es diesen Blog. Und nicht selten wurde hier schon frühzeitig auf Themen (und Personen) hingewiesen, die zu einem späteren Zeitpunkt dann die öffentliche Diskussion beherrscht haben. Zugleich – auch das wurde und wird hier regelmäßig kritisiert – sind die meisten öffentlichen Debatten mit einem immer schnelleren Verfallsdatum versehen, sie tauchen empor, besetzen die Berichterstattung und die Talk-Shows nicht selten monothematisch in einem bestimmten Zeitraum, bis ihnen dann die Luft ausgeht und sie von der nächsten Aufmerksamkeits- und (scheinbaren) Quotensau, die durchs mediale Dorf getrieben wird, abgelöst werden. Nehmen wir als Beispiel „die Flüchtlinge“. Wenn wir uns an den Herbst und Winter 2015 und die erste Zeit im Jahr 2016 erinnern, dann haben wir alle die unzähligen Bilder und Töne vor Augen und im Ohr, die nur noch dieses Thema behandelt haben, so dass man den Eindruck bekommen konnte, es gibt nur noch Flüchtlinge. Selbst der (bisherige) Aufstieg einer Partei wie der AfD kann und muss mit dieser Phase assoziiert werden, sie wäre nicht möglich gewesen ohne die Entscheidung der Bundeskanzlerin in 2015, die Grenzen zu öffnen. Auch wenn es im Herbst 2015 vor allem um Flüchtlinge ging, die über die „Balkan-Route“ gekommen sind, schon Jahre vorher gab es die Route, die heute nach dem fragilen Pakt mit der Türkei und der Abschottung der südosteuropäischen Länder wieder im Mittelpunkt der Fluchtbewegungen steht – das Mittelmeer.

Und schon lange, bevor das Thema Flüchtlinge hier in Deutschland in größerem Umfang wahrgenommen und diskutiert wurde, gab es Versuche vor allem einzelner Akteure, auf das hinzuweisen, was damals schon tagtäglich in der Urlaubsbadewanne der Europäer passiert ist – der Tod vieler unbekannter Menschen, die elendig ertrunken sind bei ihrem Versuch, die Festung Europa auf dem Wasserweg zu erreichen.

Bereits am 29. Oktober 2012 wurde auf der Facebook-Seite von „Aktuelle Sozialpolitik“ dieser Beitrag veröffentlicht, in dem auch der italienische Journalist Gabriele Del Grande auftaucht:

»Was sind wir beschäftigt mit den kleinen und großen sozialpolitischen Problemen in unserem Land, die für viele Menschen schon schwer genug zu bearbeiten oder ertragen sind. Wir debattieren verständlicherweise über die Zukunft der Rente (oder was davon noch mal bleiben wird), über die Pflege und ihre angebliche Unbezahlbarkeit, über fehlende Kita-Plätze und ab und an auch über arbeitslose Menschen. Ganz selten – beispielsweise wenn das Bundesverfassungsgericht der Politik mal wieder grundsätzliche Anmerkungen ins Stammbuch schreibt – taucht dann auch das Schattenreich der Flüchtlinge, der Asylbewerber, noch seltener der „Papierlosen“, die als Illegale in unserem Land leben, auf. Das war vor kurzem so, als die deutlich niedrigeren Leistungen des Asylbewerberleistungsgesetzes im Vergleich zur „normalen“ Grundsicherung für verfassungswidrig erklärt worden sind. Und auch aktuell schiebt sich das Thema wieder an die Oberfläche der tagesaktuellen Berichterstattung, allerdings nicht selten eher mit seiner hässlichen Fratze, also einem lauten Alarmismus angesichts einer steigenden Zahl von Asylbewerbern vor allem aus den bitterarmen Balkanstaaten, hierbei vor allem von Roma und Sinti, die sich zu den anderen Armutsflüchtlingen in unserem Land gesellen und den Bundesinnenminister sofort in eine Abwehrhaltung versetzen. Aber dieses Thema und Problem soll hier gar nicht ausgebreitet werden.

Es gibt noch eine andere, eine noch dunklere Seite des Themas – nämlich die unzähligen Fälle einer gescheiterten Flucht hinter die Mauern der Wohlfühl-Festung Europa. Vieles liegt hier naturgemäß im Nicht-Erfahrbaren verborgen, kein Statistik-Amt zählt die menschlichen Tragödien, die sich hier tagtäglich abspielen. Zuweilen dringen kurze, verstörende Informationsbröckchen von den Rändern der Festung Europa, da, wo es im wahrsten Sinne um Leben und Tod geht. Wer von uns erinnert sich nicht an die erschütternden Bilder von afrikanischen Flüchtlingen auf Booten, deren Bezeichnung als „Seelenverkäufer“ noch zu euphemistisch wäre. Und einige wenige Nachrichten erreichen uns aus einem Land wie Griechenland, selbst am Abgrund des Staatsversagens und der Auflösung basaler Versorgungsstrukturen stehend, die dann auch noch mit Flüchtlingsströmen konfrontiert werden, die über die Türkei oder das offene Meer bei ihnen anlanden.

Aber es gibt auch Menschen, die haben in all dem Elend das Zählen nicht aufgegeben, die mit kaum verständlicher Akribie die Zahl der Gescheiterten festzuhalten versuchen und die uns konfrontieren mit einem Blick in die Hölle auf Erden.

Gabriele del Grande, ein italienischer Journalist, Blogger, Schriftsteller und Menschenrechtler, ist ein solcher Mensch. Er gehört zu den führenden Menschenrechtlern im Bereich illegal eingewanderter Menschen in Italien und Europa.

2006 gründete er mit dem Blog Fortress Europe ein Forum, dass sich mit der Problematik illegal eingewanderter Menschen beschäftigt und in dieser Form einzigartig in Europa ist. Gabriele del Grande führt eine „Liste tödlicher Asylpolitik“, in der er versucht, die Menschen zu zählen, die beim Versuch, die Festung Europa zu erreichen, zu Tode gekommen sind – zumeist elendig ertrunken im Urlauberparadies Mittelmeer.

Am Wochenende musste er neue Opfer eintragen: Beim Versuch, die Küste Spaniens zuerreichen, ertranken seit Donnerstag mindestens 16 Menschen. Und dann wird man an den Rand des Abgrunds geführt, wenn man einen Blick auf seine akribisch geführte Liste wirft: Mindestens 18.567 Menschen sind seit 1988 beim Versuch zu Tode gekommen, die EU-Außengrenzen zu überwinden.

Ich muss gestehen, abseits der sporadischen Bildfetzen, die einem von den Vorposten der Europäischen Union erreichen, war mir diese Dimension nicht bekannt.

Thomas Fix hat in einem kürzlich erschienenen Artikel im „Freitag“ diesen überschrieben mit Gabriele del Grande- Held der Namenlosen. Es gibt verdammt viele Namenlose, die an unsere Türen klopfen. Das alles macht einen nachdenklich und es lässt einen auch ratlos zurück. Aber es ist wichtig, solche Stimmen hörbar werden zu lassen. Das hier war ein ganz kleiner, erster Versuch. Weitere werden folgen.«

Diese damals so einsame und wichtige Arbeit des Bloggers wurde dann erneut aufgerufen in einem weiteren Beitrag auf der Facebook-Seite  am 15. Juli 2013, als es darum ging, dass FPapst ranziskus auf der italienischen Insel Lampedusa – dem Außenposten der Wohlstandsinsel Europa – die Gleichgültigkeit gegenüber dem Schicksal von Migranten angeprangert hat.

Und mehr als ein Jahr später wurde in diesem Blog in dem Beitrag „Todesurteil für viele Flüchtlinge“. Mare Nostrum hat 150.000 Menschen im Mittelmeer gerettet, jetzt kommt Triton erneut auf die Arbeit von Gabriele del Grande hingewiesen.

In der Zwischenzeit ist viel passiert. Und nun taucht Gabriele Del Grande erneut auf in den Medien. Aber nicht  für seine Todesliste der im Mittelmeer Ertrunkenen. Sondern im Kontext eines anderen Friedhofs der Welt, dem Schlachthaus Syrien – und den Ereignissen in der Türkei, wo Erdogan ganz offensichtlich die Transformation der Reste des demokratischen Systems am Bosporus hin zu einem islamistischen System vorantreibt.

Italienischer Journalist Del Grande verhaftet, so die Überschrift eines Artikels von Hartmut Burggrabe am 19. April 2017: »Der italienische Journalist Gabriele Del Grande wurde am 9. April in der Türkei festgenommen. Offenbar verweigern ihm die Behörden bislang jeden rechtlichen Beistand.« Aus dem Artikel kann man weiter entnehmen:

»Gabriele Del Grande hielt sich offenbar zu Recherchen für sein aktuelles Projekt zum Krieg in Syrien in der türkischen Grenzregion auf, das wie schon frühere Projekte des Journalisten und Aktivisten über Crowdfunding finanziert wird. Neben dem vielbeachteten und preisgekrönten Dokumentarfilm „An der Seite der Braut“ von 2014, der eine Gruppe Geflüchteter auf ihrem Weg von Italien durch Europa bis nach Schweden begleitet, hat sich Gabriele Del Grande über Italien hinaus durch diverse Buchveröffentlichungen (auf deutsch u.a. „Mamadous Fahrt in den Tod. Die Tragödie der irregulären Migranten im Mittelmeer“, 2011) und besonders durch seinen Blog Fortress Europe einen Namen gemacht, auf dem er mit einem Team über Jahre hinweg die Fluchtbewegungen und die Zahlen der im Mittelmeer Umgekommenen recherchierte und zusammentrug.«

»Als er Flüchtlinge an der türkisch-syrischen Grenze interviewen wollte, wurde er von der türkischen Polizei verhaftet. Seitdem wird er festgehalten – ohne offizielle Anklage«, so Spiegel Online unter der Überschrift Italien fordert Freiheit für Gabriele Del Grande. Auch die Organisation Pro Asyl hat sich zu Wort gemeldet: Freiheit für Gabriele del Grande!

»PRO ASYL arbeitet seit vielen Jahren mit Gabriele del Grande zusammen. Sein Blog »Fortress Europe« ist zu einer der wichtigsten Dokumentationsstellen gegen die europäische Abschottung geworden. 2010 hat Stiftung PRO ASYL ihm ihren Menschenrechtspreis verliehen und damit seine jahrelange Dokumentation von Menschenrechtsverletzungen an Europas Grenzen gewürdigt.«

Man kann nur hoffen, dass diese Geschichte gut ausgeht für den Betroffenen – wir dürfen nicht vergessen, wie viele andere Journalisten derzeit in den türkischen Verliesen verschwunden sind.

Und ein besonderer Zynismus der Geschichte ist darin zu sehen, dass Gabriele Del Grande vor vielen Jahren auf die namenlosen Flüchtlinge aus Afrika, die im Mittelmeer ihr Leben verloren haben, aufmerksam gemacht hat – und jetzt in einem türkischen Knast einsitzt, in einem Land, aus dem viele Menschen gerade nach Europa fliehen und hier bei uns Asyl beantragen. Ich hoffe sehr, dass das Thema Flüchtlinge den engagierten Mann am Ende nicht selbst verschlingt.

Einkommensarmut von Kindern und Jugendlichen steigt durch Zuwanderung. Am Ende geht es wieder einmal um den Arbeitsmarkt

Die Zahl armer Kinder steigt neuen Zahlen zufolge – in erster Linie, weil Kinder von Flüchtlingen in prekären Verhältnissen leben. Aber auch unter einheimischen Kindern gibt es besonders gefährdete Gruppen. So beginnt Florian Diekmann seinen Artikel Zuwanderung lässt Kinderarmut steigen, in dem er über eine neue Untersuchung des gewerkschaftsnahen Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) berichtet.

»Im Jahr 2015 lebten demnach im Schnitt 2,55 Millionen Mädchen und Jungen in Deutschland in Familien mit so wenig Geld, dass sie als arm oder armutsgefährdet gelten. Das entspricht einem Anteil von 19,7 Prozent aller Minderjähriger – im Jahr zuvor waren es noch 19,0 Prozent und damit 77.000 Kinder weniger.« Ein genauerer Blick auf die Daten ergibt hinsichtlich der Frage, woher dieser Anstieg kommt, einen interessanten Befund: »Demnach lässt sich der gesamte Anstieg der relativen Kinderarmut in den vergangenen Jahren mit der Zuwanderung von Flüchtlingen erklären, die ab 2012 deutlich anstieg, im Jahr 2015 einen Höhepunkt erreichte und seitdem stark rückläufig ist.« Der WSI-Kinderarmutsbericht ist Teil des WSI-Verteilungsmonitors.

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Die „Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen“ werden still beerdigt und in den klammen Jobcentern ein wenig materialisiert. Und auch sonst hakt es vorne und hinten

Für einen kritischen Beobachter der Sozialpolitik ist es wirklich kein Grund zur Freude, wenn sich die eigenen, frühzeitig vorgetragenen Bedenken gegen eine Maßnahme am Ende bestätigen. Viel Zeit, Kraft und auch Geld ist ins Land gegangen, nur um festzustellen, dass etwas eingetreten ist, vor dem man schon vor Monaten aus sachlichen Gründen gewarnt hat. Und besonders ärgerlich ist die Tatsache, dass die dafür Verantwortlichen letztendlich nie zur Rechenschaft gezogen werden, auch und gerade wenn sie es hätten besser wissen können und müssen.

Nehmen wir als Beispiel die „Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen“. Bereits am 13. Februar 2016 wurde hier dieser Beitrag gepostet: Die Bundesarbeitsministerin fordert „Ein-Euro-Jobs“ für Flüchtlinge. Aber welche? Und warum eigentlich sie? Fragen, die man stellen sollte. In dem Beitrag wurde aus einem Interview mit der Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) zitiert, in dem sie ausgeführt hat: »Ich möchte zum Beispiel 100.000 Arbeitsgelegenheiten für Flüchtlinge schaffen. Bisher sitzen die Menschen manchmal zwölf Monate herum, ohne etwas tun zu können. Das löst auf allen Seiten Spannungen aus. Wir müssen so früh wie möglich ansetzen, das kann ich aber nur mit Unterstützung des Finanzministers. Es geht hier um 450 Millionen Euro zusätzlich im Jahr.« Das hört sich doch erst einmal nach einer guten Sache an. Wie so oft aber war bereits damals erkennbar, dass gut gemeint nicht selten schlecht gemacht bedeutet.

Auch wenn einem das nicht gefällt, es wurde bereits damals auf die in Deutschland so leidige und wichtige Zuständigkeitsfrage hingewiesen: Denn für die Flüchtlinge am Anfang ist das SGB II, also das Hartz IV-System und mit ihm die Jobcenter, gar nicht relevant. Die Flüchtlinge schlagen erst dann im Hartz IV-System auf, wenn sie als Asylberechtigte anerkannt sind. Am Anfang sind bzw. wären sie theoretisch Asylbewerber – theoretisch deshalb, weil viele von ihnen  Monate warten müssen, bis sie überhaupt einen Asylantrag stellen können beim BAMF, bis dahin sind sie noch nicht einmal Asylbewerber. Da gilt dann aber das Asylbewerberleistungsgesetz. Und für die Unterbringung und Versorgung der Flüchtlinge beispielsweise in den Erstaufnahmestellen und vor Ort in den Unterkünften sind die Bundesländer und Kommunen zuständig, wobei der Bund an der Finanzierung beteiligt ist. Wer ist also für die laut Nahles bedauernswerten herumsitzenden Flüchtlinge zuständig? Auf alle Fälle nicht die Jobcenter (mit ihren Arbeitsgelegenheiten, die umgangssprachlich, aber inhaltlich falsch als „Ein-Euro-Jobs“ bezeichnet werden), sondern es sind die Kommunen. Aber die konnten schon damals, wenn sie es denn wollten, auf das Instrument der Arbeitsgelegenheit zurückgreifen. Nur nicht nach SGB II, sondern nach § 5 AsylbLG.

Die einfachste Antwort damals wäre gewesen, die Kommunen für ihre Klientel zu ermuntern, das Instrumentarium der Arbeitsgelegenheiten nach dem Asylbewerberleistungsgesetz frühzeitig und innovativ (was durchaus einige Kommunen schon seit Jahren versucht haben) zu nutzen und ihnen dafür seitens des Bundes die erforderlichen Finanzmittel zur Verfügung zu stellen – zudem muss man wissen, dass die Arbeitsgelegenheiten nach § 5 AsylblG förderrechtlich weitaus weniger restriktiv ausgestaltet sind als die „klassischen“ Ein-Euro-Jobs nach § 16 d SGB II.

Aber da hat der gesunde Menschenverstand nicht mit dem Institutionenwirrwarr gerechnet, das einem in diesem Land immer wieder auf die Füße fällt.

Bereits am 23. März 2016 musste dann dieser Beitrag gepostet werden: Die Bundesarbeitsministerin macht es schon wieder: „Ein-Euro-Jobs“ für Flüchtlinge ankündigen, die noch nicht im Hartz IV-System sind. Was soll das? Damals konnte berichtet werden, das 300 Mio. Euro für das Jahr 2017 für diese Arbeitsgelegenheiten vorgesehen seien, mit denen Flüchtlinge auf den Arbeitsmarkt vorbereitet werden sollen. Aber wieder musste der Finger auf die föderale Wunde gelegt werden: »Wenn Frau Nahles erneut „Ein-Euro-Jobs“ für Flüchtlinge in Aussicht stellt, die aber noch nicht in den Zuständigkeitsbereich „ihrer“ Jobcenter fallen, dann müssen das die Kommunen machen, was die – wie aufgezeigt – auch können (sogar mit mehr Spielräumen als bislang die Jobcenter), aber dann muss die Geldsumme, mit der sie heute hausieren geht, auch bei den Kommunen, die das machen, ankommen.«

Natürlich wusste man a) auch im Bundesarbeitsministerium (BMAS) von dieser Problematik und b) geht die Bundesagentur für Arbeit in Berlin ein und aus und die hat seit geraumer Zeit ein Interesse, neue Zuständigkeitsfelder zu erschließen, gehen ihr doch im Arbeitslosenversicherungssystem (SGB III) zunehmend die Kunden aus, während sich die große Zahl der von Erwerbslosigkeit betroffenen Menschen (und auch die Flüchtlinge nach ihrer Anerkennung) im Hartz IV-System tummeln. Also ist man auf eine „Lösung“ gekommen, die das ganze Unterfangen noch abenteuerlicher macht. Darüber wurde am 12. Juni 2016 unter dieser Überschrift berichtet: „Nirwana-Arbeitsgelegenheiten“ zwischen Asylbewerberleistungsgesetz und SGB II. Eine dritte Dimension der „Ein-Euro-Jobs“ und die dann auch noch 20 Cent günstiger? Denn zwischenzeitlich hatte die Bundesregierung ein „Integrationsgesetz“ auf den Weg gebracht und das BMAS hatte sich da so verewigt: »Zusätzliche 100.000 Arbeitsgelegenheiten für Berechtigte nach dem Asylbewerberleistungsgesetz ermöglichen erste Einblicke in den deutschen Arbeitsmarkt.«

In dem Beitrag wurde das grundlegende Problem der neuen, geplanten 100.000 „Bundes-AGH-Teilnehmer“ herausgearbeitet. Die neuen Maßnahmen sollen

a) für eine Klientel geplant werden, die es eigentlich nicht oder zumindest immer weniger geben wird und
b) dass mit der Durchführung nicht die Kommunen bzw. die Jobcenter (also die zuständigen Institutionen für die heute schon bestehenden AGHs) beauftragt werden sollen, sondern die Bundesagentur für Arbeit (BA) soll das machen.

Und damit nicht genug. Für diese „dritte Dimension“ der Arbeitgelegenheiten (neben denen des AsylblG und des SGB II) wurde ein eigner, positiv klingender Name kreiert („Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen (FIM)“) und ein eigenes Preisschild entworfen, denn den asylsuchenden Teilnehmern soll bei diesen Maßnahmen künftig nur noch 80 Cent pro Arbeitsstunde gewährt werden. Schon damals war die Bewertung meinerseits nicht wirklich angenehm für die Arbeit der Bundesregierung: »Man muss sich den Wahnsinn einmal ausmalen: Wir bekommen dann drei Arten von Arbeitsgelegenheiten (AGH nach AsylbLG, AGH nach SGB II und neu die AGH nach Bundesprogramm), drei zuständige Institutionen (kommunale Sozialämter, Jobcenter und neu die Arbeitsagenturen).«

Ein Merkmal dieses Blogs ist es, dass man die jeweils aktuellen Säue, die durchs Dorf getrieben werden, auch hin und wieder dahingehend befragt, was denn mit ihnen passiert ist. Folglich wurde am 23. Dezember 2016 dieser Beitrag hier publiziert: „80-Cent-Jobs“ für Flüchtlinge – billiger geht’s nun wirklich nicht. Und dennoch: Sie werden kaum genutzt. Die Länder und Kommunen nehmen das Angebot kaum in Anspruch. Erst 12.000 Plätze sind beantragt. Zwei Bundesländer haben gar kein Interesse. Noch mal zur Erinnerung: 100.000 solcher Arbeitsgelegenheiten wurden in Aussicht gestellt. Und beantragte Plätze sind nicht gleich auch besetzte Plätze. Auch wenn die Länder Plätze beantragt haben, geht deren Besetzung nur schleppend voran, so schon der damalige Erkenntnisstand. Und der kam eben nicht überraschend, wenn man sich einfach mal klar macht: Die Zielgruppe der Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen mit einer maximalen Dauer von sechs Monaten sind Volljährige mit guter Bleibeperspektive, über deren Asylantrag noch nicht entschieden ist. Die FIM sind also „Warte-Ein-Euro-Jobs“ für die Zeit zwischen Antrag und endgültigem Bescheid und damit für einen Zeitraum, den das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BMAF) immer mehr verkürzen soll und will.

Und der vorläufig letzte Todesstoß hinsichtlich der FIM wurde zumindest in diesem Blog am 3. Februar 2017 mit diesem Beitrag geleistet: Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen: „Erkenntnisse liegen der Bundesregierung nicht vor“. Doch, die gibt es – und sie bestätigen die Skepsis gegenüber den „Nirwana-Arbeitsgelegenheiten“. Die FIM sind ein totaler Reinfall. Was zu erwarten war.

Mittlerweile hat sich das auch in Berlin herumgesprochen – und man hat gehandelt. In einem dem Verfasser vorliegenden Schreiben vom 30. März 2017 wendet sich der Staatssekretär im BMAS, Thorben Albrecht, an seine Länderkollegen unter der unverfänglichen Überschrift „Arbeitsmarktprogramm Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen“. Darin wird den „sehr geehrten Kolleginnen und Kollegen“ folgendes mitgeteilt – und der eine oder andere Leser, der bis hierhin durchgehalten hat, wird nicht verwundert sein:

»… gerade Flüchtlinge mit einer guten Bleibeperspektive, die die Hauptzielgruppe der Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen darstellen, wechseln durch zügigere Asylverfahren schneller in die Grundsicherung für Arbeitsuchende. Deshalb hat sich die Bundesregierung … unter anderem darauf verständigt, dass ab dem Jahr 2018 das Gesamtbudget in der Grundsicherung aus Mitteln für das Arbeitsmarktprogramm „Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen“ verstärkt werden können soll … Auf dieser Grundlage habe ich … entschieden, ab dem Jahr 2018 240 Mio. Euro aus den Mitteln für das Arbeitsmarktprogramm „Flüchtlingsintegrationsmaßnahmen“ zur Verstärkung des Verwaltungskostenbudgets zur Durchführung des SGB II einzusetzen.«

Das muss man sich mal auf der Zunge zergehen lassen: Die FIM werden still beerdigt und die Mittel, die man eigentlich für dieses Programm eingeplant hatte, werden nun den Jobcentern teilweise zugewiesen. Aber nicht, wie vielleicht der eine oder andere jetzt naiv annehmen möchte, für andere Fördermaßnahmen, sondern für die Verwaltungsausgaben der Jobcenter, die bekanntlich seit Jahren ein unterausgestattetes Verwaltungskostenbudget haben und sich in einem von Jahr zu Jahr steigenden Umfang – aufgrund der gegenseitigen Deckungsfähigkeit auch rechtlich möglich – aus dem Eingliederungstopf für die Hartz IV-Empfänger bedienen, mithin also Gelder, die für die Förderung der Arbeitslosen gedacht sind, umschichten, um damit Miete und Personalkosten zu finanzieren (vgl. zu dieser besonderen Problematik meinen Beitrag Jobcenter: Die Notschlachtung eines Sparschweins für das Auffüllen eines anderen? Wieder ein skandalöser Rekord bei den Umschichtungen von Fördermitteln hin zu den Verwaltungsausgaben vom 27. Februar 2017).

Aber der Irrsinn kann noch gesteigert werden, denn landauf landab wird man mit solchen Meldungen konfrontiert: Mittel gekürzt: Jobcenter muss knausern: »Völlig überraschend hat Berlin dem Jobcenter Hannover Finanzmittel für Eingliederungsmaßnahmen gestrichen. 7,5 Millionen Euro fehlen. Der Sparkurs trifft Alleinerziehende, Jugendliche und Flüchtlinge.«

»Begründet wurde der Rotstiftkurs mit vermutlich geringerem Aufwand für die Integration von Flüchtlingen. Die Zahl der Menschen aus Kriegs- und Krisengebieten, die eine neue Heimat in Deutschland suchen, sei natürlich gesunken, sagt Sozialdezernent Erwin Jordan als Vorsitzender der Trägerversammlung. Den Effekt aber bekomme das Jobcenter mit Verspätung zu spüren: „Wir haben 100 bis 150 Neuzugänge von Flüchtlinge pro Woche.“

Jobcenter-Chef Michael Stier musste das Arbeits- und Integrationsprogramm 2017 deutlich abspecken. Er hatte für Verwaltungskosten 84,6 Millionen und für Eingliederungsmaßnahmen 77,2 Millionen Euro erwartet. „Das hätte für notwendige Unterstützung ausgereicht“, sagt er. „Jetzt können wir zum ersten Mal nicht alles realisieren, was wir für erforderlich halten.“

Die Zahl der Maßnahmen für Langzeitarbeitslose, aber auch Jugendliche und Flüchtlinge wird von 22 000 auf 16 600 sinken – also fast um ein Viertel abnehmen. Kurse finden in Folge mit weniger Teilnehmern statt, werden auf später verschoben oder ganz gestrichen. Das trifft auch die Bildungsträger, die mit dem Jobcenter arbeiten. Quasi als Kettenreaktion dürften auch bei ihnen Jobs gefährdet sein.«

Und das vor dem Hintergrund der bereits seit längerem praktizierten und schon angesprochenen Mittelumschichtungen aus den zugewiesenen Mitteln für Fördermaßnahmen. Am Beispiel des Jobcenter Hannover: »Die Einrichtung in Hannover, die 1700 Mitarbeiter habe …  müsse aber immer Mittel umschichten, weil die Zuweisung für Personalkosten seit 2012 trotz Tariferhöhungen unverändert blieben. 200 Mitarbeiter hätten noch befristete Verträge, für ihn ein Unding.«

Und nicht das der eine oder andere denkt, jetzt ist aber Schluss. Thomas Öchsner hat sich thematisch hier leider mehr als passend mit diesem Artikel zu Wort gemeldet: Bürokratisches Gewirr: »Die neuen Kombikurse für Flüchtlinge, bei denen Deutschkurse und die Berufsvorbereitung kombiniert wurden, laufen nur schleppend an. Dabei sollte es eigentlich ganz schnell gehen. Die Rechnung wurde ohne die deutsche Bürokratie gemacht.« Wieder werden wir mit einer guten Absicht konfrontiert: Im August 2016 wurde ein Programm mit dem Titel „KompAS“ ( Kompetenzfeststellung, frühzeitige Aktivierung und Spracherwerb) gestartet. Es soll helfen, anerkannte Geflüchtete und Asylbewerber mit guter Bleibeperspektive schneller in eine Ausbildung oder eine Arbeit zu bringen. Es geht also um Kurse, bei denen Deutschkurse und die Berufsvorbereitung kombiniert werden (sollen).

»So prognostizierte das Bundesarbeitsministerium im Juli in bestem Amtsdeutsch: „Bis Jahresende wird mit ca. 40 000 Maßnahmeeintritten gerechnet.“ Gut 40 000 Plätze sollten also bis Ende Dezember 2016 besetzt sein.«

Tatsächlich aber waren es nur gut 10.000. Dass diese Zahlen überhaupt ans Licht der Öffentlichkeit gekommen sind, liegt an einer Anfrage der grünen Bundestagsabgeordneten Brigitte Pothmer. Und die führt das ernüchternde Ergebnis auf „zersplitterte Zuständigkeiten und bürokratische Abstimmungsprozesse“ zurück. Wir werden nicht nur mit dem institutionellen Wirrnissen unseres „Systems“ konfrontiert, sondern auch mit den Untiefen einer kafkaesk daherkommenden Förderlandschaft:

»Zuständig für die Kombikurse sind das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) und die Nürnberger BA, das BAMF für die Integrationskurse, die Bundesagentur für Bewerbungstrainings oder Berufsvorbereitungskurse. Das löse laut Pothmer aber ein „Wirrwarr“ aus: So müssten die Bildungsträger die jeweiligen Kursanteile getrennt abrechnen. Bei den Unterrichtsräumen und der Qualifikation des Lehrpersonals gebe es unterschiedliche Normen. „Auch die Kursteilnehmer leiden unter den unterschiedlichen Vorschriften, etwa bei der Erstattung der Fahrkosten“, sagt die Grünen-Abgeordnete. Das sehen beteiligte Akteure genauso: Der zuständige Dezernent einer großen deutschen Stadt spricht in einer internen Mail von einem geringen Interesse der Bildungsträger wegen der „Regelungsdichte“. Auch weist er darauf hin, dass sich erst im Nachhinein herausstelle, dass viele Teilnehmer Analphabeten seien, die dann an den Kombikursen nicht mehr teilnehmen dürften. Viele Träger seien nach Aussagen der Jobcenter nicht bereit, mit anderen Anbietern zu kooperieren und sich gemeinsam für die Umsetzung der Kurse zu bewerben. Es fehle Lehrpersonal. Außerdem seien die Kombikurse für die Bildungsträger wegen der kurzen Laufzeiten finanziell nicht attraktiv.«

Und die Schlussfolgerung von Brigitte Pothmer? „Die Bundesregierung hätte von Anfang an die Zuständigkeit für die Kombikurse in eine Hand legen müssen. Jetzt droht der gute Ansatz der frühzeitigen Kombination von Spracherwerb und Qualifizierung zwischen den Ressort-Egoismen zerrieben zu werden.“

Irgendwie kommt einem das mehr als bekannt vor. Quod erat demonstrandum.

Da war doch noch was? Flüchtlinge, Sprach- und Integrationskurse und die Menschen, die das machen

Es ist ein grundsätzliches Phänomen unserer Zeit und zugleich ein echtes Problem, dass die von den Gesetzmäßigkeiten einer Aufmerksamkeitsökonomie vor sich hergetriebenen Medien auf ein Thema anspringen, um dann kurze Zeit später die mit Sicherheit folgende neue Sau, die dann durchs Dorf getrieben wird, zu verfolgen und die vor kurzem noch im Mittelpunkt der Berichterstattung stehende Angelegenheit verschwindet wieder in der Dunkelheit der Nicht-Berichterstattung und damit folgend der Nicht-Wahrnehmung. Mit erwartbaren Folgen: Aus den Augen, aus dem Sinn. Die Politik und ihre professionellen Öffentlichkeitsarbeiter wissen das. Also müssen sie in dem Moment, wo ein Thema durch eine Aufmerksamkeitswelle nach oben gespült wird und die Erregung am größten ist, schnell und scheinbar tatkräftig reagieren, in dem sie dem Publikum signalisieren, wir tun was. Das wird gelöst. Dumm nur, wenn es sich – wie im sozialpolitischen Feld eher der Regelfall – um höchst komplexe Angelegenheiten handelt, die man eben nicht einfach Wegreden kann, sondern wo nur mit dem Einsatz von Mehr-als-Worten, also Geld und dann auch noch möglicherweise gemeinsam mit den föderalen Ebenen unseres Staates etwas bewirkt werden kann. Das kostet Zeit, wenn die Finanzmittel überhaupt da sind oder zur Verfügung gestellt werden, da muss jemand die Verantwortung der Umsetzung übernehmen, wobei vorher die Zuständigkeitsfrage geklärt sein muss. Das dauert.

Nur hin und wieder wird mal nachgefragt seitens der Medien, was den aus einem der vielen tatkräftig daherkommenden Lösungsversprechen geworden ist, wie die Ergebnisse aussehen, ob es überhaupt welche gibt. Nicht selten wird man dann mehr als ernüchternde Befunde zur Kenntnis nehmen. Nehmen wir als Beispiel die Flüchtlinge und dabei ganz besonders die Sprach- und Integrationskurse. Die einleitend beschriebenen Mechanismen unserer Medienwelt kann und muss man hier wie in einem Lehrbuch zur Kenntnis nehmen.

In diesem Blog wurde bereits vor einiger Zeit nicht nur darüber berichtet, dass es nicht genügend Sprach- und Integrationskurse gibt, sondern ein besonderer Schwerpunkt wurde auf die teilweise erheblich prekäre Situation der Lehrkräfte gelegt.

Bereits am 13. April 2015 wurde hier dieser Beitrag veröffentlicht: Vom Sparen am falschen Ende und einer „vorsätzlichen Gesellschaftsgefährdung“. Es geht um Sprach- und Integrationskurse für Asylbewerber und „Menschen mit einem dauerhaften oder befristeten Aufenthaltstitel“. Schon damals wurde – mit Bezug auf die Bundesagentur für Arbeit – darauf hingewiesen, dass enorme gesellschaftliche Folgekosten drohen, wenn man nicht endlich bei den Sprach- und Integrationskursen in die Puschen kommt. Dazu braucht man natürlich die Lehrkräfte als wertvollste Ressource. Aber über die musste dann am 2. September 2015 unter dieser Überschrift berichtet werden: 1.200 Euro im Monat = „Top-Verdienerin“? Lehrkräfte in Integrationskursen verständlicherweise auf der Flucht oder im resignativen Überlebenskampf. Nach der Beschreibung der Bedingungen, unter denen die meisten (selbständigen) Lehrkräfte arbeiten müssen,  ließ sich dieses Fazit nicht vermeiden: „Letztendlich haben wir es hier mit pädagogischen Tagelöhnern zu tun.“

So etwas wie ein Hoffnungsschimmer hat es dann am 16. Mai 2016 in die Überschrift dieses Beitrags geschafft: Der Integrations-Flaschenhals Sprachkurse, die Lehrkräfte und deren schlechte Vergütung. Doch jetzt soll alles besser werden. Damals ging es darum, dass das durchschnittliche Mindesthonorar für die selbständigen Lehrkräfte gerade mal bei 20,35 Euro pro Unterrichtsstunde lag und eine Anhebung auf 35 Euro pro Stunde zur Diskussion stand, nachdem es in den Medien immer mehr kritische Berichte über die Vergütung der Lehrkräfte gegeben hatte. Aber selbst diese diskutierte Anhebung wurde von den Betroffenen als viel zu niedrig kritisiert.

In den vergangenen Monaten ist es ziemlich ruhig geworden rund um das Thema Flüchtlinge. Und damit leider auch um das Thema Sprach- und Integrationskurse, obgleich da eben nicht nunmehr alles rund läuft. Immer noch gibt es zu wenig Angebote und immer noch sind die Bedingungen der dort arbeitenden Fachkräfte unbefriedigend.

Mal wieder in den Lichtkegel der öffentlichen Aufmerksamkeit gerutscht ist das Thema rund um die Berichterstattung über eine Bewertung des Bundesrechnungshofes über längst zurückliegenden Vorgänge. Rechnungshof rügt Sprachkurse für Flüchtlinge, so eine der vielen Artikel-Überschriften dazu.: »Die Arbeitsagentur hat 400 Millionen Euro für Deutschkurse ausgegeben. Ein großer Teil der eingesetzten Mittel ist wohl wegen geringer Teilnehmerzahlen wirkungslos verpufft«, so Sven Astheimer. Das hört sich nach einem Skandal an, 400 Mio. Euro sind ja kein Pappenstiel. Und wenn man dann liest, der »Bundesrechnungshof beschuldigt Deutschlands größte Behörde, durch mangelnde Vorgaben für Bildungsträger und fehlende Kontrollen Millionenbeträge mit Sprachkursen für Flüchtlinge verschwendet zu haben«, dann scheint sich der Verdacht zu bestätigen. Hinzu kommt: Es geht hier um rund 400 Millionen Euro aus Beiträgen zur Arbeitslosenversicherung, denn die hat das Geld aus ihrer Kasse zur Verfügung gestellt, obgleich natürlich eigentlich die Aufgabe aus allgemeinen Steuermitteln zu finanzieren wäre.

Aber man muss genauer hinschauen.

»Im Herbst 2015, auf dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise, entschied sich jedoch der Verwaltungsrat der Arbeitsagentur dafür, ein Sonderprogramm aufzulegen, weil es an Sprachkursen mangele. Das Programm wurde als „Soforthilfe“ deklariert und sollte „unbürokratisch“ umgesetzt werden. Das Programm lief von Oktober bis Dezember 2015. Die Nachfrage war riesig: Rund 220000 Flüchtlinge wurden für die Sprachkurse angemeldet, mehr als doppelt so viel wie erwartet. Das trieb die Kosten in die Höhe. Waren zunächst 54 bis 121 Millionen Euro veranschlagt, stand am Ende ein Bedarf von rund 400 Millionen Euro.«

Die mit gut gefüllten Kassen ausgestattete Bundesagentur für Arbeit, deren damaliger Leiter Frank-Jürgen Weise auch noch Leiter des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) wurde, das für die Kurse eigentlich zuständig ist, ist also in die Bresche gesprungen, als Not am Mann war und der Haushalt des Bundes geschont werden sollte, denn Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble hatte und hat die „schwarze Null“ als ewige Dauerstimme im Kopf.

Man könnte jetzt also argumentieren, damals war die Not groß und die BA ist dann eben unbürokratisch eingesprungen, um die Kurse für die Flüchtlinge zu ermöglichen, da läuft natürlich nicht alles so, wie es seinen normalen bürokratischen Gang geht. Aber:

»Schon damals waren jedoch Zweifel an der Vergabe- und Kontrollpraxis der Agenturen aufgekommen. Von Schein- und Doppelmeldungen durch die Bildungsträger war die Rede, von überhöhten Abrechnungssätzen und dubiosen Anbietern. Die Arbeitsagentur schreckte auf und begann mit stichprobenartigen Prüfungen. Dabei sei man „in Einzelfällen“ auf Umstände gestoßen, „die wir uns so nicht gewünscht hätten“, hatte Vorstandsmitglied Detlef Scheele im Februar 2016 noch gesagt. Zu diesem Zeitpunkt waren jedoch erst 4 Prozent der Sprachkurse abgerechnet.«

Und nun – rückblickend ist man immer schlauer könnte man einwerfen – meldet sich Monate später der Rechnungshof zu Wort nach einer Prüfung der damaligen Vorgänge in aller Ruhe und im warmen Büro und wirft der BA vor, dass nicht alles so abgelaufen sei, wie man es erwarten müsste unter Normalbedingungen. Aber so einfach kann man die Kritik auch nicht beiseite schieben, die Argumentation des Rechnungshofes, über die Astheimer berichtet, hört sich differenzierter an:

„Besonders kritisch sehen wir, dass die Bundesagentur zwar bestimmte Vorgaben vorbereitet hatte, diese aber nicht zur Anwendung kamen“, rügte Rechnungshofpräsident Kay Scheller. Zwar erkennt er den Willen der Verantwortlichen an, in einer schwierigen Situation einen Beitrag für die Integration von Flüchtlingen leisten zu wollen. „Gerade in einer solchen Situation brauchen wir aber ein Mindestmaß an Regelung, wie solche Sprachkurse aussehen und durchgeführt werden sollen.“

Und fürwahr – das Vorgehen der BA damals erscheint als ziemlich freier Freibrief: »Normalerweise knüpft die Arbeitsagentur den Einkauf von Leistungen Dritter an konkrete Vorgaben. In diesem Fall wurde darauf jedoch verzichtet. Es gab weder ein festgelegtes Lernziel für die Teilnehmer noch eine Anwesenheitskontrolle. Auch wurden entgegen sonstigen Gepflogenheiten Anbieter ohne Zertifizierung zugelassen.«

Auch Sandra Stalinski weist in ihrem Artikel Integrationskurse: Die Qualität schwankt zuerst darauf hin, dass im Herbst und Winter 2015 in sehr kurzer Zeit sehr viele Menschen auf einmal kamen und zunächst Chaos herrschte. »Es gab nicht genügend Plätze in den Integrationskursen, es mangelte an Trägern, die solche Kurse durchführen können und an geeigneten Lehrkräften. Der Bund versuchte, schnell Abhilfe zu schaffen. Durch ein Sonderprogramm der Bundesagentur für Arbeit (BA) wurden rasch Einstiegskurse für Geflüchtete ins Leben gerufen. Die Anforderungen an die Träger waren sehr gering. Es kam zu Missbrauch, falschen Abrechnungen, miserablen Lernbedingungen.«
Dieses Chaos ist inzwischen behoben, so Stalinski, denn die Einstiegskurse sind ausgelaufen.

Für die regulären Integrationskurse wurden mehr Plätze geschaffen: Nach Angaben des BAMF wurden 20 Prozent mehr Träger zugelassen, die Zahl der Lehrkräfte sei sogar um 100 Prozent gestiegen. Hört sich erst einmal gut an.

»600 Unterrichtsstunden Sprachkurs und weitere 100 Stunden Orientierungskurs, mit Wissen zu Geschichte, Rechtsordnung und Werten in Deutschland umfasst ein Integrationskurs. Am Ende sollen die Teilnehmer mindestens das Sprachniveau B1 erreichen. Gemeint ist damit die selbstständige Sprachverwendung in den wichtigsten Lebensbereichen.«

Aber offensichtlich haben wir es weiterhin mit erheblichen Qualitätsunterschiede zwischen den so wichtigen Integrationskursen zu tun. Und bei der Suche nach den Ursachen dafür stoßen wir auf die Lehrkräfte und ihre Qualifikation:

»In der Kürze der Zeit sind viele Lehrer nachqualifiziert worden, die nie Deutsch als Fremdsprache (DaF) studiert haben. Ihre Qualifikation ist nicht gleichwertig: Beispielweise bei einem deutschen Soziologen, der zum Lehrer umgeschult wurde und jetzt durch eine Zusatzqualifizierung Integrationskurse unterrichtet. „Der musste in wenigen Wochen lernen, was andere in jahrelangem Studium lernen. Da fehlt es oft an methodisch-didaktischem Wissen, an Reflexion über die eigene Sprache, die man ja als Muttersprachler in der Regel nicht hat“, sagt Ingo Schöningh vom Goethe-Institut Mannheim.
Nur 51 Prozent der aktuell etwa 19.500 Integrationskurslehrer haben ein DaF-Studium absolviert, teilt das BAMF auf Anfrage mit. Rund 37 Prozent haben vor ihrer Zulassung eine Qualifizierung durchlaufen. 12 Prozent unterrichten bereits und holen die Zusatzqualifizierung parallel nach. Die – je nach Vorbildung – 70 oder 140 Unterrichtsstunden Zusatzqualifizierung sind nach BAMF ausreichend. Akteure im Bildungssektor bezweifeln das jedoch.«

Und die Arbeitsbedingungen, die auch heute zu beobachten sind, müssen als sichere Quelle für Qualitätsprobleme angesehen werden. Beispiel Gruppengröße – die ist sogar raufgesetzt worden:

Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) »bemängelt, dass die Teilnehmerzahl von 20 auf 25 erhöht wurde: „Die Gruppen sind viel zu groß, angesichts der pädagogischen Herausforderung“, sagt Ansgar Klinger zu tagesschau.de. „Da sitzen mitunter Menschen mit Bürgerkriegserfahrung, die vielleicht nie eine Schule besucht haben, neben EU-Bürgern, die hier arbeiten wollen und ein abgeschlossenes Studium haben.“ 

Und selbst die mehr als fragwürdigen 25 werden angeblich überschritten. So berichtet eine Lehrkraft: „Ich weiß von Kursen privater Träger, in denen 30 Leute sitzen. 25 davon sind Integrationskursteilnehmer, die anderen fünf sind Selbstzahler.“ Da formal die Teilnehmerzahl des Integrationskurses nicht überschritten wird, werde das offenbar nicht weiter kontrolliert.

An der Bezahlung hat sich seit der letzten Anhebung nichts geändert: 35 Euro pro Unterrichtsstunde erhält eine Honorarkraft für den Integrationskurs. Die Anhebung von durchschnittlich 23 auf 35 Euro sei zwar ein richtiger Schritt gewesen, reiche aber bei weitem nicht aus, so die GEW: Umgerechnet in eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung käme man laut GEW gerademal auf den Mindestlohn in der Weiterbildungsbranche, der auch für Nicht-Akademiker gilt.

Und ein eigenes Problemfeld sind die Träger, die solche Maßnahmen durchführen – mit bedenklichen Folgewirkungen der „wilden Zeit“, über die hier bereits berichtet wurde (Zitat einer Volkshochschullehrerin: „Als die BA 2015 die Einstiegskurse ins Leben rief, haben im Ruhrgebiet sogar Fahrschulen solche Kurse angeboten. Da haben Leute 300 Stunden Kurs gemacht und hinterher kaum ein Wort Deutsch verstanden.“) Aber die sind doch vorbei? Ja, aber:
„Anbieter, die damals ohne jede Qualifikation die Einstiegskurse der BA durchgeführt haben, können das beim BAMF heute als Erfahrungsnachweis vorbringen und so eine vorläufige Zulassung als Träger erhalten“, so Ansgar Klinger von der GEW.

Man sieht: Der Fortschritt ist eine quälend langsame Schnecke, in diesem Fall ganz besonders und zuweilen werden auch noch tote Schnecken reanimiert, um sie weiterlaufen zu lassen.

Und es möge sich keiner angesichts der seit dem vergangenen Jahr rückläufigen Flüchtlingszahlen in falscher Sicherheit wiegen, dass sich das Bedarfsproblem ab Sprach- und Integrationskursen irgendwie von alleine löst. Ein Beispiel, was – ob man will oder nicht – an zusätzlichem Bedarf auf uns zukommt, neben denen, die schon da sind: Fast 268.000 Syrer haben Anspruch auf Familiennachzug, so ist ein Artikel überschrieben. »Immer mehr anerkannte syrische Flüchtlinge haben einen Anspruch auf Familiennachzug. Das geht aus einem internen Papier der Bundesregierung zu den Folgen der Flüchtlingskrise hervor … Aus den Asylentscheidungen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) ergebe sich „ein Potenzial von Syrern, die berechtigt wären, Familienangehörige nachzuholen“ von derzeit rund 267.500 Personen. Für sie findet die „Aussetzung des Familiennachzugs für zwei Jahre“ nach dem Aufenthaltsgesetz (§ 104, Absatz 13) laut dem internen Bericht „keine Anwendung“. Die betroffenen syrischen Flüchtlinge dürften ihre Familien somit nach Deutschland nachholen.«

Wer sich gleichsam aus erster Hand über die Situation, vor allem aber über die Forderungen der Fachkräfte, die in den Sprach- und Integrationskursen arbeiten, informieren möchte, dem sei diese Seite empfohlen: Bündnis DaF/DaZ-Lehrkräfte, die beiden Kürzel stehen für Deutsch als Fremd- und Zweitsprache.