Ein Trauerspiel: Tarif weg, Betriebsräte weg, mindestens ein Viertel weniger Lohn. Das war mal anders. Und wenn man schon dabei ist, kann man die Minijobs gleich mitmachen

Wenn man die vergangenen Jahre zurückblickt, dann muss man für den Handel, vor allem für den Einzelhandel, immer wieder und mit zunehmender Häufigkeit wie auch Intensität Auseinandersetzungen über die Arbeitsbedingungen der dort arbeitenden Menschen, überwiegend Frauen, zur Kenntnis nehmen. Das hat auch etwas mit einer bedenklichen Entwicklung zu tun, die Alexander Hagelüken in seinem Artikel Ein Viertel weniger Lohn so umreißt: »Der Handel in Deutschland bezahlt nur noch jeden Zweiten nach Tarif – mit fatalen Folgen für die Beschäftigten. Sie bekommen nicht nur weniger Geld, sondern haben meist auch keinen Betriebsrat, der ihre Interessen vertritt.« Wenn wir über „den“ Handel sprechen, dann geht es um eine Branche, in der mehr als drei Millionen Menschen beschäftigt sind.

Seit Mitte der 1990er Jahre ist zu beobachten, dass immer mehr Unternehmen aus der Tarifbindung aussteigen, um die Lohnkosten zu senken und die Arbeitsbedingungen stärker nach ihren Wünschen zu gestalten. Inzwischen bezahlt weniger als jeder dritte Betrieb im Handel noch nach Tarifvertrag und damit ist der allgemeine Trend einer Tarifflucht in dieser Branche besonders ausgeprägt. »In der deutschen Wirtschaft arbeiten zwei von drei Beschäftigten nach Tarifvertrag … Im Handel dagegen profitiert nur noch jeder zweite von branchenweit geltenden Löhnen – im Jahr 2000 waren es dagegen fast 75 Prozent«, berichtet Hagelüken in seinem Artikel. Und man muss bereits an dieser Stelle anmerken: Im Einzelhandel waren es vor dem Jahr 2000 sogar noch mehr, denn bis zu diesem Jahr war der Tarifvertrag in diesem Bereich allgemeinverbindlich, er galt also für alle Unternehmen, egal ob tarifgebunden oder nicht.

Basis für den Artikel von Alexander Hagelüken ist eine Studie aus dem ifo-Institut für Wirtschaftsforschung in München:

Gabriel Felbermayr und Sybille Lehwald: Tarifbindung im Einzelhandel: Trends und Lohneffekte. In: ifo Schnelldienst, 11/2015, S. 33-40
Die Bedeutung der Kollektivverträge im Handel hat sich in jüngster Zeit deutlich gewandelt: Seit 2000 hat sich der Anteil der Beschäftigungsverhältnisse, die einem Tarifvertrag unterliegen, von knapp drei Viertel auf weniger als die Hälfte verringert. Nur noch jeder dritte Betrieb verfügt über einen Kollektivvertrag. Tarifgebundene Betriebe sind größer und älter als ungebundene. Der Tendenz nach weisen sie auch eine geringere Produktivität auf und zahlen durchschnittlich 25 bis 32% höhere Löhne.

Er hebt einige der Befunde aus dieser Studie hervor – wobei man davon ausgehen muss, dass sich die Zahlen und die dahinter stehenden Verhältnisse noch weiter verschlechtert haben, denn die Daten, die in der ifo-Studie verwendet wurden, stammen aus dem Jahr 2010: »Die Auswirkung auf Arbeitnehmer ist gewaltig: Wer keinen Tarifvertrag hat, verdient ein Viertel weniger. Angesichts der ohnehin überschaubaren Löhne für Verkäufer(innen) und andere in der Branche wirkt sich der Unterschied stark aus. Auch gibt es nur in zwei Prozent aller Firmen ohne Tarif einen Betriebsrat.« Da, wo noch eine Tarifbindung existiert, handelt es sich im Regelfall um größere Unternehmen mit mehreren Betrieben. 80 Prozent der Handelsfirmen ohne Tarifvertrag sind hingegen Einzelbetriebe. Das wiederum nutzen die Großen: »Konzerne wie die großen Supermarktketten gliedern Filialen aus und lassen die von einem Selbständigen als eigene Firma führen – ohne Tarifvertrag und Betriebsrat.« Edeka und Rewe sind hier besonders hervorzuheben. 
Man kann es drehen und wenden wie man will: Gerade das Beispiel des Einzelhandels verdeutlicht, was passiert, wenn eine ganze Branche nach dem – bewussten – Wegfall der flächendeckenden und alle Unternehmen betreffenden Tarifbindung über eine Allgemeinverbindlichkeit des Tarifvertrags in die „freie Wildbahn“ entlassen wird. Denn ab dem Moment des Wegfalls der Tarifbindung wurde es für einzelne Unternehmen attraktiv, sich gegenüber der Konkurrenz Kostenvorteile dadurch zu verschaffen, dass man das Personal schlechter vergütet. Denn die Personalkosten spielen eine große Rolle im Bereich vieler Dienstleistungen.

Ein möglicher Lösungsansatz liegt auf der Hand: Back to the roots, so könnte man diese Strategie bezeichnen. Also angesichts der nun wirklich empirisch belegbaren Fehlentwicklungen in der Branche muss eine Wieder-Einführung der Allgemeinverbindlichkeit in Erwägung gezogen werden. Grundsätzlich müssen das auch Vertreter der Regierungsparteien so gesehen haben, denn in dem Koalitionsvertrag aus dem Jahr 2013 findet man folgende Übereinkunft zwischen Schwarz und Rot:

»Das wichtige Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung (AVE) nach dem Tarifvertragsgesetz bedarf einer zeitgemäßen Anpassung an die heutigen Gegebenheiten. In Zukunft soll es für eine AVE nicht mehr erforderlich sein, dass die tarifgebundenen Arbeitgeber mindestens 50 Prozent der unter den Geltungsbereich des Tarifvertrages fallenden Arbeitnehmer beschäftigen. Ausreichend ist das Vorliegen eines besonderen öffentlichen Interesses.« (S. 48).

Auf diesem Feld allerdings lassen tatkräftige Aktivitäten der Großen Koalition bisher sehr zu wünschen übrig. Gerade für den Bereich des Einzelhandels lässt sich zeigen, dass diese Branche bis 2000 durchaus als stabil und „geordnet“ bezeichnet werden kann und die seitdem zu beobachtenden Ausformungen von Lohndumping und Verschlechterungen der Arbeitsbedingungen korrelieren eindeutig mit dem Wegfall der Allgemeinverbindlichkeit, die auf Druck der Arbeitgeber zustande gekommen ist. Und angesichts der sehr asymmetrischen Machtposition der zumeist Arbeitnehmerinnen in diesem Bereich wäre ein „öffentliches Interesse“ im wahrsten Sinne des Wortes gegeben. Man kann nur hoffen, dass hier endlich was passiert. Wir haben definitiv kein Erkenntnis-, sondern ein vertitables Umsetzungsproblem.

Und viele Beschäftigte im Handel, vor allem im Einzelhandel, sind Minijobber, also geringfügig Beschäftigte. Eine hoch problematische besondere Beschäftigungsform, vor allem hinsichtlich der negativen Anreize, die hier mit Blick auf Erwerbsbiografien vor allem von Frauen und den daraus resultierenden Sicherungslücken gesetzt werden. Vgl. hierzu nur als Beispiel die vom Bundesfamilienministerium herausgegebene Studie von Carsten Wippermann: Frauen im Minijob – Motive und (Fehl-)Anreize für die Aufnahme geringfügiger Beschäftigung im Lebenslauf, Berlin 2013. Es gibt eine lange „Traditionslinie“ von Forderungen, diese Sonder-Beschäftigungsverhältnisse abzuschaffen oder wenigstens deutlich restriktiver auszugestalten.

Im Koalitionsvertrag von Union und SPD findet sich dazu so gut wir gar nichts, keinerlei Ambitionen werden erkennbar: »Wir werden dafür sorgen, dass geringfügig Beschäftigte besser über ihre Rechte informiert werden. Zudem wollen wir die Übergänge aus geringfügiger in reguläre sozialversicherungspflichtige Beschäftigung erleichtern.« (S. 52 f.)

Jetzt kommt mal wieder etwas Bewegung in dieses „vergessene“ Thema. Dies zum einen vor dem Hintergrund der Mindestlohn-Debatte, denn wenn auch die im Vorfeld der Einführung des gesetzlichen Mindestlohns von vielen Ökonomen in den Raum gestellten schweren Verwerfungen auf dem Arbeitsmarkt ausgeblieben sind, konnte man am Anfang des Jahres Rückgänge bei der Zahl der geringfügig Beschäftigten beobachten, die über das übliche Muster hinausgehen. Dies wird sofort aufgegriffen als Beleg für die „zerstörerischen“ Wirkungen des Mindestlohns. Vgl. hierzu beispielsweise Dominik Groll vom Institut für Weltwirtschaft (IfW) in Kiel in seinem kurzen Beitrag Mindestlohn: erste Anzeichen für Jobverluste, der in der Zeitschrift „Wirtschaftsdienst“ veröffentlicht wurde. Aber auch er muss zugeben, dass wir uns derzeit hier im Bereich der Spekulation bewegen, es fehlen nicht nur Daten, sondern auch eine Gesamtbilanzierung ist derzeit nicht möglich (so bereits in meiner im April verfassten Kurzexpertise diskutiert: Stefan Sell: 100 Tage gesetzlicher Mindestlohn in Rheinland-Pfalz. Eine erste Bestandsaufnahme und offene Fragen einer Beurteilung der Auswirkungen auf den Arbeitsmarkt. Remagener Beiträge zur Sozialpolitik 16-2015. Remagen 2015).

Zum anderen hat sich nunmehr der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium zu Wort gemeldet mit einem Gutachten unter dem Titel Potenziale nutzen – mehr Fachkräfte durch weniger Arbeitsmarkthemmnisse, in dem auch Änderungsvorschläge bei den Minijobs vorgeschlagen werden. Thomas Öchsner hat das in diesem Artikel zusammengefasst: „Steuerfreiheit von Minijobs im Nebenerwerb abschaffen“.

Er umreißt die Ausgangslage: »7,24 Millionen Menschen, meistens Frauen, haben eine Stelle auf 450-Euro-Basis, für die sie keine Steuern zahlen müssen und sich von den Sozialabgaben befreien lassen können. Allein 2,42 Millionen packen dabei auf ihren Hauptjob die geringfügige Beschäftigung als Zusatzjob oben drauf, etwa, weil das Geld sonst nicht reicht oder ein paar Hunderter im Monat zusätzlich für Extrawünsche zur Verfügung stehen sollen.«

Der Wissenschaftliche Beirat beim BMWi fordert nun eine „Reform der geringfügigen Beschäftigungsverhältnisse“ – aber was die dann in ihrem Gutachten präsentieren, ist wenn überhaupt ein „Reförmchen“. Denn zumindest, so der Beirat, solle „die Steuerfreiheit von Minijobs für Zweitverdiener in einer Ehe“ abgeschafft werden. Die Begründung dafür:

»Die Gutachter führen aus, dass Minijobs besonders „für Verheiratete mit hoher Grenzsteuerbelastung interessant“ seien. Es sei „angesichts der hohen steuerlichen Belastung, die an der Verdienstgrenze der Minijobs einsetzt“ wenig überraschend, dass so wenige geringfügig beschäftigte Frauen auf eine sozialversicherungspflichtige Stelle wechselten.«

Das nun ist weder weitreichend, noch originell, letztendlich nur copy and paste vom Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, den so genannten fünf „Wirtschaftsweisen“, die ebenfalls den „Fehlanreiz“ beklagt und gefordert hatten, die Steuerfreiheit der Minijobs im Nebenerwerb und für den Zweitverdiener einer Ehe abzuschaffen. Nichts neues also. Das eigentliche Anliegen des genannten Gutachtens des Beirats beim BMWi ist auch etwas ganz anderes, was Öchsner so beschreibt: »Der Beirat wünscht sich von der Bundesregierung außerdem neue flexiblere Regeln für den Eintritt in die Rente, um ältere Beschäftigte möglichst lange am Arbeitsmarkt zu halten.« Aber das ist nicht nur brisant, sondern wäre wieder eine weiteres eigenständiges Thema, dass uns noch verfolgen wird.
Fazit: Auf Seiten der megagroßen Koalition keine Anzeichen von Bewegung und es ist aus politökonomischen Gründen auch nicht erwartbar, dass sich hier was hinsichtlich der Minijobs tun wird, nachdem die Arbeitsmarktfrage aus Sicht der Union so „belastet“ ist durch die bisherigen Aktivitäten der Bundesarbeitsministerin Nahles. Grundsätzlich gilt: Man sollte schon mal immer wieder darüber nachdenken, warum Deutschland mit dieser besonderen Beschäftigungsform weltweit ziemlich solitär daherkommt.

Billiger, noch billiger. Wo soll man anfangen? Karstadt, Deutsche Post DHL, Commerzbank … und Primark treibt es besonders konsequent

Es muss schon nachdenklich stimmen – die deutsche Volkswirtschaft segelt von einem Rekord zum nächsten, ganz anders als viele andere europäische Staaten. Nicht nur im Außenhandel, auch bei der Beschäftigung – und das, obgleich doch ausweislich der Untergangs-Propheten zahlreicher wirtschaftswissenschaftlicher Mainstream-Institute der halbe Untergang des Abendlandes aufgrund des seit dem 1. Januar 2015 in Kraft gesetzten gesetzlichen Mindestlohns angebrochen sein müsste, dem „hunderttausende Arbeitsplätze“ zum Opfer fallen sollen. Davon ist aber nichts zu spüren, ganz im Gegenteil. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit (BA) schreibt diese Tage in dem aktuellen Bericht Einschätzung des IAB zur wirtschaftlichen Lage: »Die Beschäftigung folgt weiter ihrem stabilen Aufwärtstrend, und auch die Zahl der offenen Stellen steigt weiter. Die Arbeitslosigkeit sinkt im Januar den vierten Monat in Folge. Dem IAB-Arbeitsmarktbarometer zufolge setzt sich diese Entwicklung in den nächsten Monaten fort. Nach einem weiteren Plus um 0,2 auf 101,8 Punkte signalisiert der Indikator einen leichten Rückgang der saisonbereinigten Arbeitslosigkeit in den nächsten drei Monaten. Wesentliche Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns auf Beschäftigung und Arbeitslosigkeit sind gegenwärtig nicht wahrnehmbar.« Nicht dass das die Katheder-Kritiker irgendwie erschüttert in ihrer ideologisch einzementierten Position. Aber es deutet bei nüchterner Betrachtung darauf hin, dass es kaum eine bessere Zeit gibt als jetzt, eine gesetzliche Lohnuntergrenze einzuführen.

Die mediale Aufmerksamkeit fokussiert derzeit auf zwangsläufig sich ergebende Anpassungsprobleme für einige Billig-Geschäftsmodelle nach Einführung des Mindestlohns, wobei die betriebswirtschaftlichen Probleme einiger immer eingeordnet werden in eine Anfage an „den“ Mindestlohn und seine angeblich negativen Wirkungen. Dabei gibt es hier eine zweite Seite der Medaille, über die punktuell aufgrund des derzeit gehäuften Auftretens zwar auch berichtet wird, aber zumeist nur isoliert bezogen auf das Unternehmen A oder B und nicht eingebettet in eine vergleichbar grundsätzliche übergeordnete Anfrage, die sich allerdings anbieten würde: Die Billigheimer-Strategie vieler Unternehmen, betriebswirtschaftlich im Einzelfall rational, volkswirtschaftlich im Zusammenspiel aber desaströs. Hierzu einige Beispiele aus der deutschen Arbeitswelt.

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Der „kleine“ Mindestlohn auf allen Kanälen – und Stille um die „große“ Tarifvertragswelt. Dabei ist die Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen ein viel schärferes Schwert

Der Jesuit und Sozialethiker Friedhelm Hengsbach hat sich zu Wort gemeldet zum Thema Mindestlohn – und sein Beitrag Mindestlohn und Lohnuntergrenzen ersetzen keine Tarifverträge aus dem März dieses Jahres sei hier zur Lektüre empfohlen. Hengsbach – ein Mahner aus der Tradition des Sozialkatholizismus,  der als einer der führenden Sozialethiker in Deutschland gilt – geht einer interessanten Vermutung nach. Hengsbach fragt sich, »ob die Debatte über den Mindestlohn eine Nebenarena darstellt, welche die Aufmerksamkeit von der Funktion und dem Gewicht der Tarifautonomie ablenkt.« Das wäre natürlich mehr als irritierend, ist der Mindestlohn doch ein Bestandteil des so genannten „Tarifautonomiestärkungsgesetzes“ der Bundesregierung, die will damit doch eigentlich die Tarifautonomie stärken.

Schauen wir uns seine Argumentationslinien an:

»Die Debatte um den gesetzlichen Mindestlohn hat inzwischen ähnlich wie die um ein bedingungsloses Grundeinkommen einen Pegel öffentlicher Erregung erreicht, der sich umgekehrt proportional zum Gewicht und zur Funktion des Tarifvertrags bzw. der Tarifautonomie verhält« (S. 10).

Hengsbach führt dann im weiteren Verlauf seines Beitrags aus, welche wichtigen positiven Funktionen den Tarifverträgen, vor allem den Flächentarifverträgen zukommt – und das nicht nur aus einer engeren ökonomischen Perspektive.

Am Ende entwickelt Hengsbach fünf interessante Hypothesen, die er im Sinne von Anfragen an das „Mindestlohnsystem“ zur Diskussion stellt:

»(1) Die staatliche Intervention in die kollektive Regelung der Arbeitsverhältnisse ist eine hoheitliche Setzung. Eine etatistische Option tritt damit neben eine korporative, zivilgesellschaftliche Option. Im Extremfall löst sie diese gar ab.

(2) Welche Kompetenz der Staat vorweisen kann, um zentral einen flächendeckenden gesetzlichen Mindestlohn zu ermitteln, der die personale, regionale und sektorale Vielfalt der Arbeitsverhältnisse berücksichtigt, bleibt verborgen.

(3) Die Rolle und Funktion, die den staatlichen Vertretern in einer Kommission zukommt, die zudem mit jeweils drei Mitgliedern der Tarifparteien besetzt wird, ist unklar. Soll der Staat als wohlwollender Beobachter auftreten, als Schiedsrichter oder als dritte Kraft, die das allgemeine Interesse vertritt? Der moderne Staat begreift sich häufig als ein Knoten in einem politischen Netzwerk, das von staatlichen Organen, Wirtschaftsverbänden und zivilgesellschaftlichen Akteuren gebildet wird. Im ungünstigen Fall etwa einer Finanzdemokratie ist er selbst Partei oder kooperative Geisel. Unter dem Druck von Lobbyisten aus Banken, Energiekonzernen und Handelsketten sitzt er der Legende einer nationalen Standortkonkurrenz auf. Er wird dann eine nur moderate Lohnentwicklung im Interesse der Exportindustrie empfehlen und die Tarifforderungen der Gewerkschaften ausbremsen.

(4) Gesellschaftliche Funktionen und Institutionen, die verschieden sind, sollten als solche unvermischt und ungetrennt präzisiert werden: Tarifverträge und Tarifverhandlungen sind zivilgesellschaftlich verankert und Bestandteil einer aktiven Beschäftigungspolitik. Ein allgemeiner gesetzlicher Mindestlohn ist Bestandteil staatlicher Sozialpolitik.

(5) Eine arbeitsteilige beschäftigungs- und sozialpolitische Rangfolge lässt sich so skizzieren: Der Staat festigt vorrangig Flächentarifverträge und die Tarifautonomie. Er regelt gesetzlich, dass der Mitgliedschaft in einem Arbeitgeberverband automatisch die Tarifbindung folgt. Und der Staat erklärt die Tarifverträge, die von Arbeitgebern und Gewerkschaften personen-, firmen-, branchenbezogen und regional ausgehandelt sind, unter erweiterten Bedingungen für allgemeinverbindlich.« (Hengsbach 2014: 12-13)

Der entscheidende Punkt an Hengsbach Argumentation ist die Nummer (5). Hier geht es um einen weiteren Baustein des „Tarifautonomiestärkungsgesetzes“, in dem der Mindestlohn nur eine Komponente darstellt, die zwar die öffentliche Debatte dominiert, die aber dem Grunde nach wesentlich weniger bedeutsam ist wie die angestrebte Erleichterung der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen.

Auch ich habe mehrfach darauf hingewiesen, dass eine Wiederbelebung des Instruments der Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen eine wichtige beschäftigungspolitische Ordnungsfunktion hat, deren Bedeutung angesichts der derzeit alles überlagernden Debatte über einen Mindestlohn völlig verkannt wird. Der entscheidende Unterschied zu einem Mindestlohn, der ja „nur“ eine Lohnuntergrenze darstellt, ansonsten aber alles, was darüber (nicht) passiert, nicht tangiert, führt eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung eines Tarifvertrags dazu, dass sich alle Unternehmen in der Branche an die tarifvertraglichen Bestimmungen halten müssen – und die umfassen eben nicht nur eine untere Lohngrenze, sondern eingeschlossen ist das gesamte Tarifgefüge. Konkret habe ich vor kurzem in einem Blog-Beitrag auf der Facebook-Seite von „Aktuelle Sozialpolitik“ über die geplante Übernahme eines Real-Marktes durch Kaufland und die Absicht des übernehmenden Unternehmens, zur Vermeidung der Pflichten aus dem Betriebsübergang das Geschäft ein Jahr lang „umzubauen“, um sich auf diesem Wege vor allem der vielen älteren Mitarbeiter entledigen zu können, darauf hingewiesen, dass es zumindestens erhebliche Bremswirkungen geben würde für die permanenten Versuche, im Einzelhandel über Lohndumping und Personalaustausch Kostenvorteile gegenüber den Wettbewerbern zu erringen, wenn der Tarifvertrag dort allgemein verbindlich wäre.

Im „Tarifautonomiestärkungsgesetz“ wird dazu ausgeführt (vgl. BT-Drs. 18/1558):

»Das Instrument der Allgemeinverbindlicherklärung ermöglicht eine Abstützung der tariflichen Ordnung. Der Nutzung dieses Instruments steht in Zeiten sinkender Tarifbindung das Erfordernis des starren 50 Prozent-Quorums zunehmend entgegen.
Das Arbeitnehmer-Entsendegesetz bietet eine Möglichkeit zur Geltungserstreckung von Tarifverträgen durch Rechtsverordnung. Diese Möglichkeit ist bislang auf einige wenige abschließend aufgezählte Branchen begrenzt. Künftig soll diese Erstreckung zugunsten inländischer und ausländischer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer gleichermaßen in allen Branchen möglich sein.«

Und weiter:

»Das bisher geltende starre 50 Prozent-Quorum für die Allgemeinverbindlicherklärung eines Tarifvertrages wird gestrichen. An seine Stelle tritt ein konkretisiertes öffentliches Interesse. Durch das Erfordernis eines gemeinsamen Antrags der Tarifvertragsparteien ist sichergestellt, dass die Sozialpartner eine Abstützung der tariflichen Ordnung für notwendig erachten.«

Diese Neuregelung wäre schon mal eine gewaltige Verbesserung im Vergleich zur gegenwärtigen Situation, die dadurch gekennzeichnet ist, dass es kaum noch Allgemeinverbindlichkeitserklärung von Tarifverträgen gegeben hat. Allerdings muss man sehen, dass es auch nach dieser Neuregelung erforderlich ist, dass mit beiden Tarifvertragsparteien im Tarifausschuss Einvernehmen hergestellt werden muss, so dass die Arbeitgeberseite weiterhin eine Allgemeinverbindlichkeitserklärung blockieren kann, in dem sie sich der Herstellung des Einvernehmens verweigert.

Insofern wäre gerade der Einzelhandel eine wunderbare Gelegenheit für die sozialdemokratische Bundesarbeitsminister Andrea Nahles, ein wenig „Wiedergutmachung“ zu leisten – denn bis zum Jahr 2000 war die Welt des Einzelhandels eigentlich ganz in Ordnung. Denn bis zu diesem Jahr galt die Allgemeinverbindlichkeit des Tarifvertrags. Dann wurde diese auf Druck der Arbeitgeber von der damaligen rot-grünen Bundesregierung aufgehoben. Seitdem befindet sich der Einzelhandel und vor allem die dort beschäftigten Menschen auf einer Rutschbahn nach unten, denn seitdem lohnt es sich für die einzelnen Unternehmen, zu versuchen, bei den Personalkosten den Konkurrenten nach unten zu entkommen.

In diesem Sinne: Übernehmen Sie, Frau Nahles.