Es muss schon nachdenklich stimmen – die deutsche Volkswirtschaft segelt von einem Rekord zum nächsten, ganz anders als viele andere europäische Staaten. Nicht nur im Außenhandel, auch bei der Beschäftigung – und das, obgleich doch ausweislich der Untergangs-Propheten zahlreicher wirtschaftswissenschaftlicher Mainstream-Institute der halbe Untergang des Abendlandes aufgrund des seit dem 1. Januar 2015 in Kraft gesetzten gesetzlichen Mindestlohns angebrochen sein müsste, dem „hunderttausende Arbeitsplätze“ zum Opfer fallen sollen. Davon ist aber nichts zu spüren, ganz im Gegenteil. Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit (BA) schreibt diese Tage in dem aktuellen Bericht Einschätzung des IAB zur wirtschaftlichen Lage: »Die Beschäftigung folgt weiter ihrem stabilen Aufwärtstrend, und auch die Zahl der offenen Stellen steigt weiter. Die Arbeitslosigkeit sinkt im Januar den vierten Monat in Folge. Dem IAB-Arbeitsmarktbarometer zufolge setzt sich diese Entwicklung in den nächsten Monaten fort. Nach einem weiteren Plus um 0,2 auf 101,8 Punkte signalisiert der Indikator einen leichten Rückgang der saisonbereinigten Arbeitslosigkeit in den nächsten drei Monaten. Wesentliche Auswirkungen des gesetzlichen Mindestlohns auf Beschäftigung und Arbeitslosigkeit sind gegenwärtig nicht wahrnehmbar.« Nicht dass das die Katheder-Kritiker irgendwie erschüttert in ihrer ideologisch einzementierten Position. Aber es deutet bei nüchterner Betrachtung darauf hin, dass es kaum eine bessere Zeit gibt als jetzt, eine gesetzliche Lohnuntergrenze einzuführen.
Die mediale Aufmerksamkeit fokussiert derzeit auf zwangsläufig sich ergebende Anpassungsprobleme für einige Billig-Geschäftsmodelle nach Einführung des Mindestlohns, wobei die betriebswirtschaftlichen Probleme einiger immer eingeordnet werden in eine Anfage an „den“ Mindestlohn und seine angeblich negativen Wirkungen. Dabei gibt es hier eine zweite Seite der Medaille, über die punktuell aufgrund des derzeit gehäuften Auftretens zwar auch berichtet wird, aber zumeist nur isoliert bezogen auf das Unternehmen A oder B und nicht eingebettet in eine vergleichbar grundsätzliche übergeordnete Anfrage, die sich allerdings anbieten würde: Die Billigheimer-Strategie vieler Unternehmen, betriebswirtschaftlich im Einzelfall rational, volkswirtschaftlich im Zusammenspiel aber desaströs. Hierzu einige Beispiele aus der deutschen Arbeitswelt.
Betrachtet werden in diesem Beitrag die Unternehmen Deutsche Post DHL, Karstadt und die Commerzbank, und Primark – alles nur ausgewählte Beispiele aus einer langen Liste, aber die sehr unterschiedliche Branchenzugehörigkeit verdeutlicht zum einen, dass es sich um ein grundsätzliches Phänomen handelt, zugleich gibt es natürlich ganz unterschiedliche Beweggründe für die einzelnen Firmen, sich so zu verhalten, wie derzeit berichtet wird.
Über die Deutsche Post DHL und ihrem Ansatz einer Auslagerung eines Teils der Paketzusteller in eine Billiggesellschaft wurde bereits in dem Blog-Beitrag Endlich viele neue Jobs. Und dann wieder: Aber. Die Deutsche Post DHL als Opfer und Mittäter in einem Teufelskreis nach unten berichtet – auch, dass der Druck seitens der Billigkonkurrenten hier sicher ein, wenn nicht das treibende Motiv ist. Die Deutsche Post belässt es aber nicht bei Ankündigungen, sondern die Umsetzung der Auslagerung ist bereits in vollem Gange: Post drängt Paketzusteller aus Essen in Billig-Tochter, so ist ein Artikel überschrieben:
»Die Deutsche Post will ihre neue Niedriglohntochter DHL Delivery offenbar schnell ans Laufen bringen und geht dabei mit fragwürdigen Methoden vor. Ende vergangener Woche hatte die Post mehr als hundert befristet beschäftigte Paketzusteller der Niederlassung Essen in ein Gladbecker Hotel eingeladen, um sie zu einem Wechsel in die neue Gesellschaft zu bewegen.
Wie Teilnehmer bestätigten, habe die Post die Anwesenden dabei unter Druck gesetzt. „Wenn wir die Verträge nicht unterschrieben hätten, hätten wir ab Montag zu Hause bleiben können“, berichtet ein Zusteller, der aus Angst um seinen Job anonym bleiben will und der wie die meisten an dem Abend unterzeichnet hat. Bei den Zustellern liefen die Verträge am 31. Januar aus. Sie sollten daher zunächst einen neuen befristeten Arbeitsvertrag bis 31. März unterschreiben und einen zweiten, wonach sie ab 1. April unbefristet bei Delivery angestellt sind. Die Post habe deutlich gemacht: entweder beide oder keinen. Den Mitarbeitern wurden die Verträge anschließend nicht ausgehändigt. „Ich weiß bis heute nicht, was ich unterschrieben habe“, beklagt ein Teilnehmer.«
Es geht hier um Mitarbeiter der Deutschen Post DHL, die dort derzeit befristet beschäftigt sind – sie werden ausgelagert in die DHL Delivery, also einer Billigtochter, denn: »Die Post wird die neuen Mitarbeiter in der Delivery nicht mehr nach dem Haustarifvertrag, sondern nach den in der Regel niedrigeren regionalen Tarifverträgen der Speditions- und Logistikbranche bezahlen. In NRW liegt dieser laut Verdi rund 20 Prozent unter dem Posttarif.« Das alles immer eine Frage der „Perspektive“ ist, verdeutlicht diese Stellungnahme der Post: »Die Post nannte das Angebot „lukrativ“, schließlich würden die Paketzusteller künftig unbefristet beschäftigt.« Die sollen sich halt freuen.
In dieses Modell des „Abschichtens“ eines Teils des Personals passt dann leider auch die neue Hiobsbotschaft, die von den nun wirklich seit Jahren arg gebeutelten Beschäftigten von Karstadt verdaut werden muss: Karstadt denkt über Drei-Klassen-Gesellschaft nach oder Karstadt plant Billiglöhne, um nur zwei Schlagzeilen hervorzuheben. Weniger Stellen und günstigeres Personal – so soll das „Zukunftskonzept“ des angeschlagenen Warenhauskonzerns aussehen: »Alleine in den 83 Filialen sollen im kommenden Jahr nur noch 8.170 Vollzeitbeschäftigte arbeiten … Das wären 1.271 Mitarbeiter weniger, als derzeit beschäftigt sind. Durch den Abbau sollen die Personalkosten um 64 Millionen Euro auf 308 Millionen Euro gedrückt werden. In diesen Zahlen sind die bereits angekündigten Filialschließungen jedoch nicht berücksichtigt. Hier werden früheren Angaben zufolge voraussichtlich weitere 300 Arbeitsplätze wegfallen«, berichtet die Süddeutsche Zeitung. In den Filialen soll eine Führungsebene wegfallen. Besonders bitter und hier besonders relevant:
»In den einzelnen Häusern wird es künftig drei Gruppen von Karstadt-Mitarbeitern geben: Verkäufer, Kassierer und solche, die in neu geschaffene Warenservice-Teams wechseln sollen. Diese Mitarbeiter sollen vor allem die Ware auspacken und die Regale einräumen. Das eröffnet Karstadt die Möglichkeit, diese Beschäftigten künftig nur noch nach den deutlich niedrigeren Tarifen für die Logistikbranche zu bezahlen.
Bis zu 1.100 Mitarbeiter könnten von dieser Degradierung betroffen sein, kritisiert die Gewerkschaft Verdi. Im Schnitt bedeute das Lohneinbußen für die Mitarbeiter in Höhe von etwa 300 Euro.«
Man muss an dieser Stelle daran erinnern, dass die Belegschaft von Karstadt in den zurückliegenden Jahren bereits erhebliche Lohneinbußen haben hinnehmen müssen bzw. als ihren Sanierungsbeitrag eingebracht haben – vgl. beispielsweise nur die wenigen Hinweise in „Karstadts Krisen-Chronik“ in dem Artikel Niedriglöhne sollen Krisen-Konzern Karstadt retten. An diesem „strategischen“ Ansatz kann man mehr als große Fragezeichen setzen – man nehme nur eine Zahl: 14,5 Prozent. Das ist die zukünftige Obergrenze für die Personalkosten gemessen am Filialumsatz. Wenn man diesen Anteilswert durch schmerzhafte und die Produktivität sicher nicht steigernde Maßnahmen beim Personal auf 12 oder 11 Prozent drückt – davon soll der Konzern dann gesunden? Wohl kaum. Möglicherweise muss man an dieser Stelle zum dem Ergebnis kommen, dass das grundlegende Geschäftsmodell des Warenhauses in dieser Form einfach nicht mehr zukunftsfähig ist, wofür es ja auch zahlreiche Hinweise gibt. Dann kann man so viel kürzen beim Personal wie man will, es bleibt ein schmerzhafter Tod auf Raten.
Ebenfalls im Zusammenhang mit möglicherweise tradierten Geschäftsmodellen muss auch das nächste Billigheimer-Beispiel gesehen werden, das zudem aus einer Branche kommt, an die die meisten sicher nicht sofort denken: dem Bankensektor: Neue Jobs mit Beigeschmack. Tarifflucht bei der Commerzbank?, so ist ein Artikel der Mitteldeutschen Zeitung überschrieben. Auch hier geht es wieder um das Modell des „Abschichtens“ der Belegschaften: »Die Commerzbank wird wohl viele Stellen nach Halle verlagern. Die Tochterfirma zahlt Mitarbeitern weniger.« Der Hintergrund ist schnell erzählt: »Deutschlands zweitgrößtes Geldhaus baut die Finanzbuchhaltung massiv um. In den nächsten Jahren werden an den Standorten Frankfurt (Main), Berlin und Duisburg 376 Vollzeitstellen gestrichen. Ein Teil der Aufgaben übernimmt nach Angaben der Gewerkschaft Verdi die tariflose Commerzbank-Tochter ComTS.« Wie praktisch für die Bank. Der Vorwurf der Gewerkschaft ver.di: „Gut ausgebildete Bank-Angestellte werden entlassen, um an anderer Stelle Billigjobs zu schaffen“. Die Löhne bei ComTS liegen nur etwas über Mindestlohn-Niveau. Die entlassenen Mitarbeiter würden dagegen nach Banktarif bezahlt. Das Lohngefälle betrage mehr als 40 Prozent. Aber auch, wenn alles in die Billigtochter verlagert wird, ist deren Zukunft mehr als fragil: »Bei der Commerzbank habe es auch Überlegungen gegeben, Aufgaben an eine polnische Tochter abzugeben.«
Wir haben es auch hier nicht nur mit einem solitären Beispiel oder gar Ausreißer zu tun, dahinter steht eine betriebswirtschaftlich durchaus rationale Logik: Die Finanzbuchhaltung soll stärker standardisiert und in einzelne Arbeitsschritte zerlegt werden, damit die Arbeit auch ohne höhere Qualifikation erbracht werden könnte. Und nach Gewerkschaftsangaben würde nicht nur die Commerzbank, sondern auch die Deutsche Bank sowie die Sparkassen zunehmend Banktätigkeiten an Billig-Töchter auslagern. In diesem Zusammenhang darf man erinnern: »Im Jahr 2012 sorgte ein monatelanger Streik der Sparkassen-Tochter S-Direkt in Halle für bundesweites Aufsehen. Die Mitarbeiter, die vor allem in einem Call-Center arbeiten, forderten damals einen Stundenlohn von 8,50 Euro.« Da sind wir wieder bei unserem aktuellen Mindestlohn.
Abschließend kommen wir zu einem besonders „konsequenten“ Beispiel für Lohndrückerei – besonders konsequent deshalb, weil dieses Unternehmen offensichtlich – folgt man der aktuellen Berichterstattung – nicht nur generell niedrige Löhne zahlt, sondern die kostensenkenden Effekte potenziert durch eine „eigenartige“ Arbeitszeitgestaltung und – um den ganzen die Krone aufzusetzen – mit tatkräftiger Unterstützung der örtlichen Arbeitsagenturen und Jobcenter einen Teil der anfallenden betrieblichen Kosten auch noch sozialisiert zu Lasten des Steuerzahlers. Es geht um die in vielfältiger Hinsicht in Verruf geratene Bekleidungskette Primark.
Anette Dowideit und Flora Wisdorff haben in dem gut recherchierten Artikel So funktioniert das Modell des Ramschladens Primark hinter die Kulissen des lauten, angesagten, extrem presiwerten irischen Bekleidungsunternehmens geschaut. »Die irische Billigmodekette mischt die Innenstädte auf, seit sie vor gut fünf Jahren den Markt enterte. Bisher hat sie 15 großflächige Konsumtempel eröffnet, in begehrter Innenstadtlage, voll gepfropft mit einer maximalen Menge von Kleidern pro Quadratmeter – und sehr, sehr billig.« Und bei den folgenden Sätzen sollte jeder Leser an die sporadisch über uns kommenden Berichte über menschenunwürdige Arbeitsbedingungen der Textilarbeiterinnen in Bangladesch und anderen Billigstlohnländern denken: »Das Erfolgsmodell von Primark gründet auf Wegwerfmode für eine Saison. Wie andere Textilriesen kann die Kette T-Shirts, Hosen und Jacken nur deshalb so günstig anbieten, weil sie billig in Ländern wie Bangladesh produziert. Doch Primark treibt das Billig-Konzept auf die Spitze: T-Shirts kosten manchmal nur 99 Cent, und eine Jeans kriegt man schon mal für 8,50 Euro.« Ein T-Shirt für 99 Cent in Deutschland verkaufen – ohne Blut an den Händen zu haben? Geht gar nicht. Aber in diesem Blog-Beitrag geht es um eine weitere Komponente, die zu diesen niedrigen Preisen beiträgt – die Arbeitsbedingungen in den Filialen hier in Deutschland. Dazu bekommen wir von Dowideit und Wisdorff aufschlussreiche Informationen geliefert. Es geht dabei noch nicht einmal um das an sich mehr als fragwürdige Vorgehen von Primark, mit einem dichten Netz von Überwachungskameras zu arbeiten, durch das sich Mitarbeiter bespitzelt fühlen (schon im vergangenen Sommer berichteten Medien, dass in der Hannoveraner Niederlassung 120 Kameras installiert worden sind).
Viele Mitarbeiter müssen auf der Basis befristeter Teilzeitverträge arbeiten, was dem Unternehmen Primark maximale Flexibilität bietet.
»(Der) Staat (greift) Primark kräftig unter die Arme: bei der Personalrekrutierung. Wenn sich der Textilkonzern in einer neuen Stadt ansiedelt, arbeitet er oft mit den Jobcentern und den Arbeitsagenturen zusammen. Natürlich freuen sich Politiker, wenn Primark auf einen Schlag mehrere Hundert Geringqualifizierte einstellt. Deswegen erhält das Unternehmen nicht nur die kostenlose Personalvermittlung, sondern zusätzlich häufig Eingliederungszuschüsse für die Anstellung von Langzeitarbeitslosen.
In Köln etwa zahlte die Arbeitsverwaltung 219 der 360 an Primark vermittelten Angestellten für mindestens drei Monate einen Teil des Gehalts. Solche Subventionen nehmen natürlich auch Konkurrenten gern mit, wenn sie Mitarbeiter einstellen. Es sei betriebswirtschaftlich vernünftig, diese Möglichkeit auszuschöpfen, sagt Jürgen Dax, Hauptgeschäftsführer beim Bundesverband des Deutschen Textileinzelhandels.«
Na klar, betriebswirtschaftlich ist die Sozialisierung betrieblicher Kosten immer eine tolle Sache. Eine bestechende Logik.
Aber es geht weiter:
»Zudem stellt Primark, wie viele Einzelhändler, seine Beschäftigten häufig nur in Teilzeit ein. Das hat zum Beispiel in Köln die Folge, dass von den 360 vermittelten Arbeitskräften 116 so wenig verdienen, dass sie zusätzlich aufstockende Leistungen vom Jobcenter erhalten.«
Das nennt man dann wohl maximales Abschöpfen dessen, was man so holen kann. Beim Staat. Und wir haben es hier offensichtlich mit echten Profis zu tun, wie der folgende Sachverhalt aufzeigen kann, über den die Hannoversche Allgemeine berichtet: Primark entlässt 132 Beschäftigte. Zum Hintergrund:
»Die Modekette Primark soll 132 der gut 500 Beschäftigten ihrer Filiale in Hannover entlassen haben … Auffällig sei, dass genau die Verträge von denjenigen Mitarbeitern nicht verlängert worden seien, die nach einem Jahr Beschäftigung Anspruch auf eine unbefristete Stelle gehabt hätten, heißt es aus Mitarbeiterkreisen. Dagegen sollen die Verträge von den Mitarbeitern, die erst vier Monate für die Modekette gejobbt hätten, noch einmal um einige Monate verlängert worden seien. Mitarbeiter mit befristeten Verträgen, die sich erkundigen wollten, ob sie weiterbeschäftigt würden, seien über Wochen hin immer wieder vertröstet worden.«
Dahinter steckt System. Man kann es auch so ausdrücken: „Ich habe schon viele Mitarbeiter bei Primark kommen und gehen gesehen, viele haben den Laden weinend verlassen“, berichtet einer der Beschäftigten.
Foto: © Stefan Sell