Arbeitsrecht: Wenn man unwillig ist, unbillige Weisungen zu befolgen. Das Bundesarbeitsgericht will seine Rechtsprechung ändern

Das Arbeitsrecht ist eine komplizierte Angelegenheit. Dies auch deshalb, weil weite Teile des Arbeitsrechts Richterrecht sind, also durch die Rechtsprechung konstituiert werden. Ein einheitliches Arbeitsgesetzbuch gibt es in Deutschland nicht – immer wieder hatte es dazu Aufforderungen und Absichtserklärungen gegeben. Nach der Wiedervereinigung hat man beispielsweise im Einigungsvertrag im Art. 30 EinigVtr ein solches Vorhaben als Auftrag an den Gesetzgeber formuliert: Dort heißt es im Absatz 1 unter der Nummer 1:

1) Es ist Aufgabe des gesamtdeutschen Gesetzgebers,

1. das Arbeitsvertragsrecht sowie das öffentlich-rechtliche Arbeitszeitrecht einschließlich der Zulässigkeit von Sonn- und Feiertagsarbeit und den besonderen Frauenarbeitsschutz möglichst bald einheitlich neu zu kodifizieren.

Das ist bis heute nicht erfolgt und es sieht auch nicht so aus, als ob das demnächst in Angriff genommen wird. Also muss man neben dem Rückgriff auf zahlreiche Einzelgesetze weiter vor allem die arbeitsgerichtliche Rechtsprechung verfolgen.

Hinzu kommt, dass sich das Arbeitsrecht nicht in einem gleichsam aseptischen Raum gleichwertiger Interaktionen bewegt, sondern Fragen und vor allem Konflikte betrifft, die stattfinden in asymmetrischen Machtverhältnissen zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Aus dieser Konfiguration entspringt dann auch die – wie manche von der anderen Seite meinen: überspannte – Funktion eines Schutzrechtes für Arbeitnehmer.

Hierzu ein konkretes und aktuelles Beispiel, das zugleich von grundsätzlicher Bedeutung ist. Es geht um einen Grundtatbestand des Arbeitsverhältnisses – die Weisungsgebundenheit des Arbeitnehmers. Der hat Weisungen des Arbeitgebers Folge zu leisten, hat dieser ihn doch ökonomisch gesprochen „eingekauft“ und vergütet ihn dafür.

Wir ahnen schon, was jetzt kommt. Denn es gibt solche und andere Weisungen und ein nicht seltener Streitfall in der Lebenswirklichkeit bezieht sich darauf, dass der Arbeitnehmer der Ansicht ist, eine konkrete Weisung des Arbeitgebers sei unangemessen, überzogen – oder dient nicht wirklich der Erfüllung des Arbeitsverhältnisses, sondern man versuche, über eine solche überzogene Weisung den Arbeitnehmer unter Druck zu setzen, ihn möglicherweise aus dem Arbeitsverhältnis heraus zu drängen. Das kann man sich durchaus vorstellen, man denke hier an die Fälle, in denen unliebsame Mitarbeiter, die beispielsweise einen Betriebsrat ins Leben rufen wollen, „bearbeitet“ werden.
Auf der anderen Seite steht das für sich genommen durchaus nachvollziehbare Interesse des Arbeitgebers, dass die Beschäftigten sich an seine Vorgaben halten, auch wenn die denen nicht schmecken. Und dass sie Weisungen, auch wenn sie unangenehm sein sollten, nicht über eine längere Zeit blockiert werden können.

Wir haben es hier mit fließenden und nicht immer klar abgrenzbaren Übergängen zwischen „noch in Ordnung“ und „nicht mehr in Ordnung“ zu tun. Die Juristen haben für den letzten Fall einen eigenen Terminus zur Hand: „unbillige Weisungen“. Die muss ein Arbeitnehmer nicht befolgen, aber das muss erst einmal arbeitsgerichtlich festgestellt werden. Und bis das passiert ist, gilt bzw. galt bislang die höchstrichterliche Rechtsprechung, dass der Arbeitnehmer auch (später als solche festgestellte) „unbillige Weisungen“ erst einmal befolgen muss, ansonsten riskiert er Folgen wie eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses.

Aber wie weit geht das Weisungsrecht des Arbeitgebers? Hierzu der Beitrag Unbillige Weisungen im Arbeitsrecht – Umschwung der Rechtsprechung? von Sebastian Schröder aus dem vergangenen Jahr, der zugleich schon im Titel noch mit Fragezeichen andeutet, was aktuell passiert ist:
Auf die Frage nach der Reichweite des Weisungsrechts des Arbeitgebers gibt das Gesetz »eine – zunächst – simple Antwort: Nach § 106 Gewerbeordnung (GewO) kann er Inhalt, Ort und Zeit (gemeint ist die Lage der Arbeitszeit) der Arbeitsleistung nach billigem Ermessen näher bestimmen, soweit diese Arbeitsbedingungen nicht durch Arbeitsvertrag, Betriebsvereinbarung, Tarifvertrag oder gesetzliche Vorschriften festgelegt sind.« Dazu ein Beispiel:

»Legt ein Arbeitsvertrag ohne Versetzungsvorbehalt abschließend fest, dass der Arbeitnehmer seine Arbeitsleistung ausschließlich in einer bestimmten Filiale in einer bestimmten Stadt zu erbringen hat, ist das Versetzungsrecht beschränkt. Versetzungen in andere Filialen des Unternehmens sind ausgeschlossen. Eine entsprechende Weisung verstieße gegen den Arbeitsvertrag. Sie ist schlicht nichtig und muss nicht befolgt werden.«

Aber es gilt eben auch: »Wurde die Festlegung des Arbeitsortes jedoch mit einem üblichen Versetzungsvorbehalt kombiniert und verfügt das Unternehmen über weitere Filialen im gesamten Bundesgebiet, ist eine Versetzung auch in andere Städte zulässig. Das örtliche Versetzungsrecht gilt grundsätzlich bundesweit!« Und Schröder weist auf eine nicht selten zu beobachtende Quelle für Konflikte hin: »Arbeitnehmer, die bereits seit vielen Jahren am selben Standort eines bundesweit tätigen Unternehmens eingesetzt werden, wähnen sich oft in vermeintlicher Sicherheit, was eine Versetzungsmöglichkeit angeht.« Die Enttäuschung folgt dann für die Arbeitnehmer oft auf dem Fuße: »Hier ist die Rechtsprechung zugunsten der Arbeitgeber jedoch sehr großzügig. Auch wenn der Arbeitgeber von seinem Versetzungsrecht über Jahre hinweg keinen Gebrauch gemacht hat, bedeutet das nicht unbedingt, dass er diesbezüglich eingeschränkt ist.«

Auch bei der Lage der Arbeitszeit gelten vergleichbare flexible Spielräume für den Arbeitgeber, wenn nichts anderes im Arbeitsvertrag fixiert wurde.

Und jetzt kommt das arbeitsrechtliche „aber“: Die schier grenzenlose Reichweite des Weisungsrechts wird durch die „Billigkeitskontrolle“ kompensiert, ein ganz praktischer Ausdruck der eingangs hervorgehobenen Schutzfunktion des Arbeitsrechts:

»Die Arbeitsgerichte prüfen hierbei, ob die Interessen des Arbeitgebers an der Befolgung der Weisung und die Interessen des Arbeitnehmers miteinander abgewogen wurden. Hierbei spielen in der Praxis unter anderem die Vermögens- und Einkommensverhältnisse oder familiäre Pflichten und Unterhaltsverpflichtungen des Arbeitnehmers eine Rolle. Im Kern gilt freilich, dass nur eklatant willkürliche oder rechtsmissbräuchliche Weisungen unbillig sein werden.«

Das hört sich erst einmal sehr abstrakt an, aber der Verfasser des Beitrags liefert uns ein konkretes Beispiel, was das bedeuten kann:

»Ein Arbeitnehmer – ledig, kinderlos – ist in einer Kölner Filiale eines bundesweit tätigen Einzelhandelsunternehmens als Metzger beschäftigt. Sein Arbeitsvertrag enthält eine zulässige Versetzungsmöglichkeit. Er wird (mit einer angemessenen Ankündigungsfrist) angewiesen, seine Tätigkeit künftig in einer Hamburger Filiale zu erbringen. Die Weisung ist im Ergebnis wirksam und billig. Der Mitarbeiter wird seinen Wohnort verlegen und der Weisung nachkommen müssen.

Anders sieht es aus, wenn er verheiratet und seiner schwangeren Frau sowie den drei schulpflichtigen Kindern zum Unterhalt verpflichtet ist. Dann dürfte die Weisung in einem ersten Schritt von der arbeitsvertraglichen Regelung zwar gedeckt sein. Jedoch wird die Versetzung nicht mehr billigem Ermessen entsprechen.«

Die Ähnlichkeiten zu dem aktuell für einige Diskussionen sorgenden Fall sind offensichtlich. Dazu Christoph Bergwitz in seinem Artikel Diver­genz am BAG vom 16.06.2017:

»Der Arbeitnehmer des zugrunde liegenden Falls war als Immobilienkaufmann am Standort Dortmund des beklagten Unternehmens beschäftigt. Mehrere Mitarbeiter seines Teams lehnten im März 2014 gegenüber dem Betriebsratsvorsitzenden eine weitere Zusammenarbeit mit dem als unkollegial und unkooperativ bezeichneten Arbeitskollegen ab. Daraufhin versetzte der Arbeitgeber ihn für die Zeit vom 16. März bis 30. September 2015 an den Standort Berlin. Der Arbeitnehmer leistete dieser Versetzungsanordnung trotz zweimaliger Abmahnung nicht Folge und wurde deshalb fristlos gekündigt. Der entsprechende Kündigungsrechtsstreit ist noch beim 2. Senat des BAG anhängig (Az. 2 AZR 329/16).

Mit seiner vor dem 10. Senat anhängigen Klage wandte sich der Kläger gegen seine Versetzung sowie die Abmahnungen und machte die Fortzahlung seiner Vergütung geltend. Die Vorinstanzen haben festgestellt, dass der Arbeitnehmer nicht verpflichtet war, seine Arbeitsleistung am Standort Berlin zu erbringen. Sie haben das Unternehmen verurteilt, die Abmahnungen aus der Personalakte zu entfernen und dem Kläger die vorenthaltene Vergütung nachzuzahlen. Ausdrücklich hat das Landesarbeitsgericht (LAG) Hamm dem 5. Senat des BAG die Gefolgschaft verweigert und eine vorläufige Bindungswirkung der als unbillig erachteten Versetzungsanordnung verneint.«

Das Kernargument des LAG Hamm gegen die (bisherige) Rechtsprechung geht so: »Die Rechtsprechung des 5. Senats führe zu einer für den Arbeitnehmer untragbaren Risikoverlagerung. Er müsse auch einer unbilligen Leistungsanordnung zunächst Folge leisten, wenn er nicht Gefahr laufen will, seine Vergütungsansprüche zu verlieren oder wegen Arbeitsverweigerung gekündigt zu werden (Urt. v. 17.03.2016, Az. 17 Sa 1660/15).«

Man muss dazu anmerken, dass die (bisherige) Rechtsprechung des 5. Senats zur vorläufigen Verbindlichkeit einer unbilligen Arbeitgeberweisung auch bei anderen auf Kritik gestoßen ist: »Sie belaste den Arbeitnehmer als „Gestaltungsopfer“ einseitig, weil er zunächst eine gerichtliche Klärung über die Rechtmäßigkeit der Weisung herbeiführen müsse, wenn er keine arbeitsrechtlichen Sanktionen riskieren will.«

Offensichtlich gibt es nun innerhalb des Bundesarbeitsgerichts Differenzen, denn der 10. Senat hat sich der skizzierten Kritik angeschlossen. Bergwitz berichtete dazu, dass der 10. Senat die Auffassung vertreten möchte, dass der Arbeitnehmer einer unbilligen Weisung des Arbeitgebers nicht – auch nicht vorläufig – folgen muss. Er hat daher nach § 45 Abs. 3 Satz 1 Arbeitsgerichtsgesetz (ArbGG) beim 5. Senat angefragt, ob dieser an seiner gegenteiligen Rechtsauffassung festhält.

Und der hat nun geantwortet: Unter der Überschrift Versetzung – Verbindlichkeit einer unbilligen Weisung – Antwort des 5. Senats hat das Bundesarbeitsgericht eine Pressemitteilung veröffentlicht, die eine offensichtliche Änderung der bisherigen Rechtsprechung in Aussicht stellt – und das mit einem einzigen Satz:

»Der Fünfte Senat des Bundesarbeitsgerichts hat auf die Anfrage mitgeteilt, dass er an dieser Rechtsauffassung nicht mehr festhält.«

Der DGB Rechtsschutz hat seine Berichterstattung dazu unter diese Überschrift gestellt: Unbillige Weisungen: 5. Senat gibt bisherige Rechtsprechung auf. Mit der Antwort des 5. Senats steht einer Entscheidung des 10. Senats in der Sache nichts mehr entgegen. Die vielkritisierte Rechtsprechung zu unbilligen Weisungen findet also in naher Zukunft ein Ende, was hier offensichtlich begrüßt wird.

Es gibt aber auch kritische Stimmen, so die von Günther Heckelmann in seinem Beitrag Senat gibt Recht­sp­re­chung auf. Seine Argumentation geht so:

»Nach der bevorstehenden Rechtsprechungsänderung des Zehnten Senats trägt der Arbeitnehmer das Abschätzungsrisiko, will er der angeblich unbilligen Weisung nicht unter Vorbehalt bis zu einer rechtskräftigen Entscheidung nachkommen. Stellt sich nach einer häufig mehrere Monate dauernde arbeitsgerichtliche Auseinandersetzung heraus, dass die Weisung doch wirksam war, muss er auch die arbeitsrechtlichen Konsequenzen bis hin zu einer Kündigung tragen.

Aber selbst wenn sich am Ende die Unbilligkeit der Weisung herausstellt, wird das Arbeitsverhältnis in aller Regel irreparabel beschädigt sein. Der Arbeitnehmer wird nach einem langen Rechtsstreit bei ausgesprochener außerordentlicher Kündigung über einen längeren Zeitraum freigestellt gewesen und damit nicht mehr in den Arbeitsablauf integriert sein. In der Praxis werden die Arbeitsvertragsparteien danach nicht mehr erfolgreich zusammenarbeiten können und am Ende wird häufig die (einvernehmliche) Beendigung des Arbeitsverhältnisses stehen. Gewonnen hat damit keine Seite etwas.«

Aber was ist mit dem Argument der Kritiker der bisherigen Rechtsauffassung, dass angesichts der unsachgemäßen, weil langen Verfahrensdauer vor den Arbeitsgerichten und des damit fehlenden Rechtsschutzes gegen unbillige Weisungen der Arbeitnehmer durch die Verweigerungsmöglichkeit geschützt werden müsse? Hierzu Heckelmann:

»Genau für diese Fälle sieht das Gesetz das einstweilige Verfügungsverfahren vor, in dem eine schnelle Klärung der Verbindlichkeit der Weisung erfolgen kann. Da jede Partei im ersten Rechtszug nur ihre eigenen Kosten trägt und viele Arbeitnehmer rechtschutzversichert sind, bleiben die Kosten überschaubar. Für den betroffenen Arbeitnehmer ist es regelmäßig zumutbar für die Dauer des einstweiligen Verfügungsverfahrens der Weisung in jedem Fall nachzukommen. Berücksichtigt man die Möglichkeit, durch einstweiligen Rechtsschutz schnell eine Entscheidung zu erhalten, sind durch dieses Instrument die Interessen beider Parteien des Arbeitsvertrages ausgewogen berücksichtigt.«

Wie immer – ein kompliziertes Ding, das Arbeitsrecht.

Das Bundesarbeitsgericht und der Schutz der Arbeitnehmer vor einer „dauerhaften Produktivitäts-Überwachung“

Streitfragen vor den Arbeitsgerichten berühren einen Kernbestandteil unseres Lebens, wenn man überlegt, wie viel Zeit die Menschen, die eine Erwerbsarbeit haben, mit dieser zubringen. Und notwendigerweise wird es bei arbeitsweltlichen Konflikten immer ganz unterschiedliche Perspektiven geben  und wo Verlierer und Gewinner sind, dann ist auch Frust und Freude. Und manche Entscheidung der Arbeitsgerichte wird auf Unverständnis oder Ablehnung stoßen. Das lässt sich grundsätzlich nicht vermeiden. Immer wieder kann man mit Blick auf die deutsche Arbeitsgerichtsbarkeit lesen, sie sei „arbeitnehmerfreundlich“, womit man wohl zum Ausdruck bringen will, sie sei den Arbeitgebern nicht so zugewandt, wie sich die das wünschen.

Dabei haben sich die Arbeitsrichter zuweilen mit nicht wirklich jugendfreien Themen zu beschäftigen und entscheiden diese auch letztinstanzlich: Griff ans Geschlechtsteil führt zur Kündigung: »Ein Mann wird gefeuert, weil er einem Kollegen in den Schritt fasst – aus Gehässigkeit, nicht aus Lust. Trotzdem ist das sexuelle Belästigung, stellte das Bundesarbeitsgericht nun klar.« Ein kräftiger Griff ans Gemächt des Kollegen, die Bemerkung: „Du hast aber dicke Eier!“ Einem Stahlarbeiter aus Bremen war wegen dieses Verhaltens gekündigt worden. Dagegen wehrte er sich vor Gericht. Beim Landesarbeitsgericht in Bremen hatte er recht bekommen: Zwar habe er sich falsch verhalten. Aber weil er seit 23 Jahren ohne Beanstandung bei der Firma arbeitete, hätte als Sanktion eine Abmahnung gereicht. Offensichtlich eines diese Urteile im Sinne des Arbeitnehmers.

Das sieht das Bundesarbeitsgericht als höchste Instanz anders: Die absichtliche Berührung der Geschlechtsteile eines anderen gilt immer als sexuelle Belästigung und kann am Arbeitsplatz die Kündigung nach sich ziehen. Auf eine sexuelle Motivation der Berührung kommt es dabei nicht an (Az: 2 AZR 302/16).
Nur um den Sachverhalt abzurunden: Dass es bei der Kündigung bleibt, ist trotz des eindeutig daherkommenden Urteils nicht sicher, denn nach der Klarstellung durch das BAG soll das Landesarbeitsgericht Bremen nun prüfen, ob der gekündigte Arbeitnehmer gewichtige soziale Gründe anführen kann, die schwerer wiegen als das Kündigungsinteresse der Firma.

In diesem Beitrag soll es aber um eine andere neue Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts gehen, deren Bedeutung man nicht gering schätzen sollte: Arbeitgeber dürfen die Produktivität ihrer Beschäftigten nicht dauerhaft technisch überwachen. Auch eine entsprechende Betriebsvereinbarung ist unzulässig und daher unwirksam, wie das Bundesarbeitsgericht (BAG) in Erfurt in einem Urteil entschieden hat, kann man beispielsweise dieser Meldung entnehmen: Dauerhafte Überwachung ist unzulässig.

Das Bundesarbeitsgericht hat einen Schiedsspruch über eine „Belastungsstatistik“ bei einem Versicherungsunternehmen aufgehoben.

Schauen wir uns den Sachverhalt einmal genauer an, Details dazu finden wir in diesem Artikel: Bundesarbeitsgericht: Dauerhafte Produktivitäts-Überwachung der Arbeitnehmer ist nicht erlaubt.

Mit einer „Belastungsstatistik“ wollte das Versicherungsunternehmen »die Belastung der Sachbearbeiter überprüfen, die in den Außenstellen für die Schadensregulierung zuständig sind. Grund waren die nach Angaben des Unternehmens erheblichen Unterschiede in der Produktivität der Außenstellen.«

Nun ist es so, dass der Betriebsrat bei technischen Überwachungen der Arbeitnehmer ein  Mitspracherecht hat und im vorliegenden Fall konnten sich Unternehmen und Betriebsrat nicht verständigen, so dass eine Einigungsstelle eine Betriebsvereinbarung zu dem Thema verfasst hat:

»Danach sollten unter anderem für jeden Sachbearbeiter die Zahl der erledigten Fälle und die „Rückstände“ auf dem jeweiligen Schreibtisch ermittelt werden. Diese und detaillierte weitere Daten sollten dann wöchentlich durch den Firmencomputer ausgewertet werden.«

Damit nun war der Gesamtbetriebsrat des betroffenen Unternehmens nicht einverstanden – und klagte gegen die Regelung in der Betriebsvereinbarung.

Das BAG gab nun dem Betriebsrat recht. Der Spruch der Einigungsstelle verletze die Persönlichkeitsrechte der Arbeitnehmer. Mit welcher Begründung?

»Zwar sei es grundsätzlich ein legitimes Anliegen des Arbeitgebers, die Ursachen der unterschiedlichen Produktivität der Außenstellen in Erfahrung zu bringen. Das BAG äußerte allerdings Zweifel, ob die „Belastungsstatistik“ in der vorgesehenen Form hierfür überhaupt geeignet ist.

Denn vorrangig werde nicht die Belastung, sondern die Produktivität der einzelnen Sachbearbeiter erfasst. Dabei bleibe der Schweregrad des jeweiligen Falls völlig unberücksichtigt. Gründe für die bestehenden Unterschiede würden gar nicht ermittelt.

Zudem sei nicht ersichtlich, warum nicht eine Stichprobenerhebung ausreicht. Dadurch könnte der Überwachungsdruck für die Arbeitnehmer erheblich gemindert werden, so das BAG. Weiter rügten die Erfurter Richter, dass die einzelnen Sachbearbeiter gar nicht erkennen könnten, ob ihre Leistung von der ihrer Kollegen abweiche.«

„Für diesen schwerwiegenden dauerhaften Eingriff in das Persönlichkeitsrecht der Arbeitnehmer gibt es keine hinreichende Rechtfertigung“, urteilte das Bundesarbeitsgericht.

Der Europäische Gerichtshof (EuGH) stärkt die Rechte von Arbeitnehmern und manchmal muss es nach einem für Arbeitnehmer zuständigen Gericht erst suchen

Dass immer mehr wichtige Entscheidungen in der großen weiten Welt des Arbeits- und Sozialrechts auf die Letztebene des Europäischen Gerichtshofs (EuGH) verlagert werden, ist mittlerweile wohl allen klar geworden. Regelmäßig werden folgenreiche Entscheidungen des EuGH in den Medien diskutiert – man denke hier nur an die Entscheidungen den Sozialleistungsanspruch von „EU-Ausländern“ in einem EU-Mitgliedsstaat betreffend ((vgl. dazu nur die Blog-Beiträge vom 17.06.2016, vom 25.02.2016, vom 02.01.2016 oder vom 06.12.2015). Die Rückwirkungen auf die Gestaltung unserer Arbeits- und Sozialsysteme sind nicht zu unterschätzen – erst jüngst konnte man das beobachten anlässlich einer Entscheidung des Bundesarbeitsgerichts zur Frage der Leiharbeitnehmereigenschaft von Rotkreuzschwestern, Das Bundesarbeitsgericht hatte die Frage,  ob die deutsche Regelung zu den Rotkreuzschwestern mit der europäischen Leiharbeitsrichtlinie vereinbar ist, 2015 dem EuGH vorgelegt. Der EuGH erkannt im November 2016 (Urteil vom 17. November 2016 – C-216/15) den Sonderstatus der DRK-Schwestern nicht an, übertrug die Entscheidung aber den deutschen Richtern. Was die zwischenzeitlich gemacht haben – mit der brisanten Folge, dass die Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) nun extra für das DRK eine Rechtsänderung ins Parlament eingebracht hat, mit der die Rotkreuzschwestern quasi in eine Dauer-Leihe gegeben werden können (vgl. dazu den Beitrag Dauer-Leih-Schwestern vom DRK: Auch in Zukunft im Angebot? Da muss die Ministerin selbst Hand anlegen, um das hinzubiegen vom 1. März 2017).

Nun erreicht uns eine neue Entscheidung des hohen Gerichts. Asklepios muss eingekauften Mitarbeitern wohl weiter Tarif zahlen, so ist ein Bericht über das neue Urteil, um das es hier geht, überschrieben worden. Man merkt es schon an der Überschrift – so ganz einfach ist der Spruch des EuGH nicht zu übersetzen. Er hat aber wohl, wenn die Interpretation richtig ist, erhebliche Auswirkungen auf die nationale Rechtsprechung, in diesem Fall auf die Entscheidungen des Bundesarbeitsgerichts. »Das Unternehmen wird verkauft – gilt dann für die Mitarbeiter noch der alte Tarifvertrag mit all seinen Gehaltssteigerungen? Eine EuGH-Entscheidung stärkt die Rechte von Arbeitnehmern« – unter bestimmten Bedingungen zumindest.

Ein Gärtner und eine Stationshelferin haben im Tarifstreit mit einer Privatklinik in Hessen höchstrichterlichen Beistand bekommen. Zum konkreten Sachverhalt der beiden miteinander verbundenen Rechtssachen finden wir in EuGH, Urteil vom 27.04.2017, C‑680/15 und C‑681/15 die folgenden Erläuterungen:

»Die Arbeitnehmer waren im Krankenhaus Dreieich-Langen (Deutschland) beschäftigt, das damals in Trägerschaft einer kommunalen Gebietskörperschaft stand. Herr Felja ging dort seit 1978 einer Beschäftigung als Hausarbeiter/Gärtner nach, Frau Graf übte dort seit 1986 die Tätigkeit einer Stationshelferin aus. Nachdem die kommunale Gebietskörperschaft das Krankenhaus im Jahr 1995 an eine Gesellschaft mit beschränkter Haftung (GmbH) veräußert hatte, ging der Betriebsteil, in dem die Arbeitnehmer beschäftigt waren, im Jahr 1997 auf die KLS Facility Management GmbH (im Folgenden: KLS FM) über.

Die zwischen KLS FM, die keinem Arbeitgeberverband angehörte, der an Tarifverhandlungen und der Annahme eines Tarifvertrags beteiligt war, und den Arbeitnehmern geschlossenen Arbeitsverträge enthielten eine „dynamische“ Verweisungsklausel, wonach sich ihr Arbeitsverhältnis – wie vor dem Übergang – nach dem Bundesmanteltarifvertrag für Arbeiter gemeindlicher Verwaltungen und Betriebe (im Folgenden BMT‑G II), aber zukünftig auch nach den diesen ergänzenden, ändernden und ersetzenden Tarifverträgen richten sollte.

Später wurde KLS FM Teil eines Krankenhaus-Konzerns.

Zum 1. Juli 2008 ging der Betriebsteil, in dem die Arbeitnehmer beschäftigt waren, auf eine andere Konzerngesellschaft, nämlich Asklepios, über. Wie KLS FM war und ist auch Asklepios bis heute nicht durch die Mitgliedschaft in einem Arbeitgeberverband an den BMT‑G II und den diesen seit dem 1. Oktober 2005 ersetzenden Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst (TVöD) und den Tarifvertrag zur Überleitung der Beschäftigten der kommunalen Arbeitgeber in den TVöD und zur Regelung des Übergangsrechts gebunden.

Die Arbeitnehmer beantragten die gerichtliche Feststellung, dass gemäß der in ihren jeweiligen Arbeitsverträgen enthaltenen „dynamischen“ Verweisungsklausel auf den BMT‑G II die Bestimmungen des TVöD und der diesen ergänzenden Tarifverträge sowie die Bestimmungen des Tarifvertrags zur Überleitung der Beschäftigten der kommunalen Arbeitgeber in den TVöD und zur Regelung des Übergangsrechts in ihrer zum Zeitpunkt ihres Antrags gültigen Fassung auf ihre jeweiligen Arbeitsverhältnisse Anwendung finden.

Asklepios vertritt die Auffassung, der nach dem nationalen Recht vorgesehenen Rechtsfolge einer solchen „dynamischen“ Anwendung der arbeitsvertraglich in Bezug genommenen Kollektivregelungen des öffentlichen Dienstes stünden die Richtlinie 2001/23 und Art. 16 der Charta entgegen. Dies führe nach dem Übergang der betroffenen Arbeitnehmer auf einen anderen Arbeitgeber zu einer lediglich „statischen“ Anwendung dieser Regelung in dem Sinne, dass nur die in dem mit dem Veräußerer arbeitsvertraglich vereinbarten Arbeitsbedingungen aus den in diesem Arbeitsvertrag genannten Kollektivverträgen dem Erwerber entgegengehalten werden könnten.«

Die Instanzen in Deutschland hatten für die Arbeitnehmer und gegen Asklepios entschieden. Die Erwartungshaltung das AuGH-Urteil betreffend wird so beschrieben:

»Beobachter hatten eher mit einer arbeitgeberfreundlichen Entscheidung der Luxemburger Richter gerechnet. Der Generalanwalt hatte argumentiert, dass Asklepios ja weder an den Tarifvertragsverhandlungen teilnehmen noch den Arbeitsvertrag der Kläger aushandeln konnte. Wäre das Gericht dieser Linie gefolgt, hätte das Bundesarbeitsgericht seine Rechtsprechung in vergleichbaren Fällen wohl geändert.«

Doch es ist anders gekommen: Beide Arbeitnehmer hatten mit ihrem ursprünglichen Arbeitgeber frei vereinbart, dass sich ihre Arbeitsverträge auch der Weiterentwicklung der damals gültigen Tarife anpassen. An diese Klauseln sei der neue Arbeitgeber gebunden, erklärte der EuGH in seinem Urteil, „sofern das nationale Recht sowohl einvernehmliche als auch einseitige Anpassungsmöglichkeiten für den Erwerber vorsieht“. Genau diesen Punkt soll nun das Bundesarbeitsgericht (BAG) für Deutschland abschließend bescheiden.

Das ermöglicht es dem BAG, an seiner bisherigen Rechtsauffassung festzuhalten: Dynamische Anpassungklauseln in Arbeitsverträgen behalten ihre Gültigkeit auch bei einem Unternehmensverkauf. »Will der neue Arbeitgeber daran etwas ändern, bleibt ihm nur, eine Änderungskündigung auszusprechen, bei der dem Arbeitnehmer ein neuer Arbeitsvertrag angeboten wird. An solche Kündigungen stellen die Gerichte aber hohe rechtliche Anforderungen. Sie sind nur unter bestimmten Voraussetzungen zulässig und kommen für die Unternehmen selten in Frage.«

Hier haben wir also einen „klassischen“ Fall, dass eine Grundsatzfrage auf der Ebene des EuGH entschieden wird (bzw. die Umrisse) und die nationalen Gerichte dann damit weiterarbeiten können. Der Verfahrensgang ist deshalb „klassisch“, weil die eigentlich zuständigen nationalen Instanzen durchlaufen worden sind und das höchste deutsche Arbeitsgericht eine grundlegende Fragestellung an das EuGH weitergeleitet hat mit der Bitte, diese zu klären.

Auf der Suche nach einem überhaupt zuständigen Gericht

Mit einer anderen Fallkonstellation beschäftigt sich dieser Bericht: Wo sollen wir klagen? Ryanair-Personal sucht zuständiges Gericht. Da wird sich der juristische Laie erst einmal verwundert die Augen reiben. Wieso ist das überhaupt eine Frage? »Welches Gericht ist zuständig für das Flugpersonal von Ryanair? Die arbeitsrechtlichen Verflechtungen machen die Antwort schwierig. Der Generalanwalt am EuGH hat eine Sechs-Punkte-Prüfung zur Lösung der Frage entwickelt.«

Auch hier ein Blick auf den Sachverhalt: Einige frühere Mitgliedern des Bordpersonals der irischen Ryanair wollen gegenüber der Fluggesellschaft und dem ebenfalls irischen Personaldienstleister Crewlink die Zahlung verschiedener Beträge geltend machen, unter anderem wegen nachträglicher Gehaltsanpassungen.

»Doch wo sie klagen sollen, wissen sie nicht. Denn Ryanair hatte das Flugpersonal – Staatsangehörige aus Portugal, Spanien und Belgien – entweder selbst eingestellt oder Crewlink hatte die Stewards eingestellt und an Ryanair abgeordnet. In den Arbeitsverträgen ist dabei der Flughafen Charleroi in Belgien als Heimatbasis der Arbeitnehmer angegeben. Die Arbeitnehmer waren dabei vertraglich verpflichtet, weniger als eine Stunde von ihrer Heimatbasis entfernt zu wohnen und traten am Flughafen Charleroi morgens ihren Dienst an für innereuropäische Flügen und beendeten ihn auch dort.

In den Arbeitsverträgen ist aber gleichzeitig vereinbart, dass das Gehalt auf ein irisches Bankkonto überwiesen werde, irisches Recht anwendbar sei und die irischen Gerichte für Rechtsstreitigkeiten zuständig seien. Das Arbeitsgericht Charleroi erklärte sich daher für die Klagen für unzuständig und wies sie ab.

Dagegen legten die Arbeitnehmer ein Rechtsmittel beim Arbeitsgerichtshof Mons in Belgien ein. Der legte dem Europäischen Gerichtshof (EuGH) die Frage vor, wie die Verordnung Nr. 44/2001 über die gerichtliche Zuständigkeit auszulegen sei. Darin ist unter anderem geregelt, dass der Arbeitgeber auch an dem Ort verklagt werden kann, an dem der Arbeitnehmer gewöhnlich seine Arbeit verrichtet.«

Und was wird den Richtern des EuGH zur Entscheidung vorgelegt? »In seinen Schlussanträgen vom Donnerstag schlägt Generalanwalt Henrik Saugmandsgaard Øe vor, die ständige Rechtsprechung beizubehalten. Danach wäre bei Arbeitsverträgen, die im Hoheitsgebiet mehrerer Mitgliedstaaten erfüllt werden, das Gericht des Ortes zuständig ist, an dem oder von dem aus der Arbeitnehmer seine Verpflichtungen gegenüber seinem Arbeitgeber hauptsächlich erfüllt.«

Das aber hört sich einfacher an, als es wohl kommen wird, denn: Das nationale Gericht müsse diesen Ort im Licht aller relevanten Umstände ermitteln. Dabei seien vor allem diese sechs Aspekte zu berücksichtigen:

»Zunächst einmal den Ort, wo der Arbeitnehmer seine Arbeitstage beginnt und beendet. Als zweites, wo die Flugzeuge, an Bord deren er tätig ist, ihren gewöhnlichen Standort haben. Als drittes, wo er von Anweisungen seines Arbeitgebers Kenntnis erlangt und seinen Arbeitstag organisiert. Weitere Gesichtspunkte seien die Fragen, wo der Arbeitnehmer aufgrund vertraglicher Verpflichtung wohnen muss und wo sich ein vom Arbeitgeber zur Verfügung gestelltes Büro befindet. Als letztes Kriterium sei heranzuziehen, wohin sich der Arbeitnehmer im Fall der Arbeitsunfähigkeit und im Fall disziplinarischer Probleme begeben muss.«

Das hört sich wie eine große Arbeitsbeschaffungsmaßnahme an. »Der Generalanwalt ließ durchblicken, dass nach diesen sechs Kriterien viel für die Zuständigkeit der Gerichte des Ortes spricht, an dem sich der Flughafen Charleroi befindet.« Aber ob es so kommt wird erst noch zu entscheiden sein. Denn die Richter können dem Schlussplädoyer des Generalanwalts folgen, müssen das aber nicht.

Auf alle Fälle interessant – wieder einmal geht es um den Billigflieger Ryanair. Und der war in diesem Blog schon mehrfach Thema aufgrund der miesen Arbeitsbedingungen. Zuletzt in diesem Beitrag vom 25. März 2017: Das moderne Prekariat sitzt nicht (nur) in sozialen Brennpunkten. Sondern auch im Cockpit und fliegt über den Wolken.

Nachtrag: Am 28.04.2017 erreicht mich eine Mail des Pressebüros von Ryanair mit folgendem Hinweis: „Ryanair wird die unverbindliche Empfehlung des Generalanwalts zu dem aktuellen Fall am Arbeitsgerichtshof Mons untersuchen, die kürzlich bekannt gegeben wurde“, so Robin Kiely, Head of Communications bei Ryanair.