Es geht bergauf. Immer mehr Menschen auf Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung angewiesen. Das passt in die Debatte über Altersarmut und Rente – und auch wieder nicht

In der vergangenen Woche haben sich ganz viele Medien mit dem Thema Altersarmut und dem Zustand der Rentenversicherung beschäftigt. Grundlage dafür war eine Meldung des WDR, die – auf allerdings teilweise grotesk verzerrter Datenbasis (dazu der Beitrag Viele Menschen stehen vor der Altersarmut, wenn sich im System nichts ändert. Aber gleich mehr als 25 Millionen Menschen? Wohl kaum vom 12. April 2016) – eine Vorhersage in die Welt gesetzt hat, nach der mit Blick auf das Jahr 2030 jedem Zweiten die Altersarmut drohen soll. Die Talk-Sendung „Anne Will“ machte das am Sonntag zu ihrem Thema (vgl. dazu die Besprechung von Frank Lübberding unter der bezeichnenden Überschrift Das große Renten-Vergessen) und selbst in der Bundesregierung ist eine Rentendebatte ausgebrochen, in der wir Zeugen werden nicht-alltäglicher Bündnisse. So gibt ein Horst Seehofer (CSU) bekannt, in der Rentenfrage sei er der gleichen Auffassung wie Andrea Nahles (SPD). Bei anderen, beispielsweise dem Namensgeber und heutigen Profiteur der Riester-Rente, liegen die Nerven offensichtlich blank angesichts der erneuten Tiefschläge gegen ihre Kapitaldeckungsprodukte, wo doch die Geschäfte bereits seit längerem mehr als schlecht laufen, weil immer mehr Menschen begriffen haben, wer hier was abzieht. So meldet sich Walter Riester, der ehemalige Bundesarbeitsminister der rot-grünen Bundesregierung, zu Wort und kritisiert die Kritik an der privaten Altersvorsorge: „Immer wieder kommt diese saudumme Debatte, die wirklich Millionen Menschen verunsichert“, wird Riester zitiert.

Und als ob Öl ins Feuer gegossen werden soll, kommen dann auch noch neue Zahlen vom Statistischen Bundesamt über die Inanspruchnahme der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. In der trockenen Sprache der Statistiker liest sich die Überschrift zur Meldung dann so: 1.038.000 Empfänger von Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung im Dezember 2015: »Im Dezember 2015 hatten rund 536 000 beziehungsweise 51,6 % der Empfängerinnen und Empfänger von Grundsicherung die Altersgrenze erreicht oder überschritten und erhielten somit Grundsicherung im Alter … Knapp 502 000 beziehungsweise 48,4 % der Empfängerinnen und Empfänger von Grundsicherung waren im Alter von 18 Jahren bis unter die Altersgrenze. Sie erhielten diese Leistungen aufgrund einer dauerhaft vollen Erwerbsminderung.

Die Abbildungen verdeutlichen, dass es sich um zwei Leistungsbereiche (nach dem SGB XII) handelt – zum einen die Grundsicherung bei voller Erwerbsminderung, wenn man also nicht mehr arbeiten kann, aber noch nicht im Rentenalter ist, zum anderen die Grundsicherung im Alter, um die es derzeit u.a. bei der Debatte über Altersarmut geht.
Deren Entwicklung in den Jahren seit 2003 kann kurz und knapp zusammengefasst werden: Die Inanspruchnahme hat sich von 257.000 innerhalb weniger Jahre auf über 536.000 mehr als verdoppelt. Und sie steigt von Jahr zu Jahr weiter an.

An dieser Stelle muss berücksichtigt werden, dass das nur als Untergrenze zu verstehen ist, denn wir gehen von einer erheblichen Dunkelziffer aus, also Menschen, die im Grunde Anspruch hätten auf diese Leistungen, aber auf einen Leistungsbezug verzichten. Dazu die Hinweise in dem Beitrag Diesseits und jenseits der Grundsicherung im Alter: Die Legende von der massenhaften Rentner-Armut. Das ist (nicht) richtig vom 7. August 2015: »Die Verteilungsforscherin Irene Becker hat … 2012 einen Beitrag publiziert, in dem sie die Ergebnisse einer Untersuchung vorgestellt hat, die der Frage nachgegangen ist, wie sich die verdeckte Armut unter Älteren seit der 2003 erfolgten Einführung der „Grundsicherung im Alter“ entwickelt hat (vgl. Irene Becker: Finanzielle Mindestsicherung und Bedürftigkeit im Alter. In: Zeitschrift für Sozialreform, Heft 2, 2012, S. 123-148). Die Ergebnisse ihrer Studie bezogen sich auf das Jahr 2007: Von gut einer Million Menschen ab 65 Jahren, denen damals Grundsicherung zustand, bezogen nur 340.000 tatsächlich Leistungen. Die „Quote der Nichtinanspruchnahme“, so der technische Begriff für die Dunkelziffer der Armut, betrug 68 Prozent.

Nun haben sich die Verhältnisse – möglicherweise – seit damals geändert. Wir wissen darüber aber nichts genaues und es ist durchaus plausibel, immer noch von einer nicht unerheblichen Dunkelziffer auszugehen, gerade bei den älteren Menschen, bei denen beispielsweise Scham-Faktoren hinsichtlich der Inanspruchnahme einer bedürftigkeitsabhängigen Sozialleistung eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen. Hinzuweisen wäre auch auf den Tatbestand, dass die Einkommens- und vor allem die Vermögensanrechnung im SGB XII, wo die Grundsicherung im Alter normiert ist, restriktiver erfolgt als im SGB II, also im „normalen“ Hartz IV-System.«

Aber auch wenn noch mehr ältere Menschen in den offiziellen Grundsicherungszahlen auftauchen würden, so wäre es dennoch falsch, das Thema Altersarmut auf die Quote der diese Leistung beziehenden Menschen abzubilden. Das dafür immer noch gültige Maß ist die relative Einkommensarmut bzw. im Statistiker-Deutsch Armutsgefährungsschwelle. Und von Armut oder Armutsgefährdung spricht man nach internationalen Konventionen, wenn man weniger als 60 Prozent des Medieneinkommens in der Gesellschaft, in der man lebt, zur Verfügung hat. Und dann wird aus den 3 Prozent, die Grundsicherungsleistungen im Alter beziehen, gleich ein ganz anderer Prozentwert.

In der im April 2015 veröffentlichten Publikation Grundsicherungsbezug und Armutsrisikoquote als Indikatoren von Altersarmut führt Johannes Geyer vom DIW aus, dass 2013 »14,9% aller Personen ab 65 Jahren als armutsgefährdet galten, in der jüngeren Bevölkerung lag der Wert mit 16,4% nur unwesentlich höher.«

Und im neuen Armutsbericht des Paritätischen und anderer Sozialverbände, der Anfang dieses Jahres veröffentlicht wurde ( Zeit zu handeln. Bericht zur Armutsentwicklung in Deutschland 2016), heißt es mit Blick auf das Jahr 2014: »Während in neun Bundesländern die Armutsquoten 2014 gesunken seien, belegt der Bericht einen Anstieg der Armut in den bevölkerungsreichen Bundesländern Bayern und Nordrhein-Westfalen. Hauptrisikogruppen seien Alleinerziehende und Erwerbslose sowie Rentnerinnen und Rentner, deren Armutsquote rasant gestiegen sei und erstmals über dem Durchschnitt liege … Die Armut verharre mit 15,4 Prozent auf hohem Niveau.«
Erstmals über dem Durchschnitt – und rückblickend wird sich dieses Jahr als das erweisen, in dem die Entwicklung der Armutsbetroffenheit in der älteren Generation weiter an Fahrt aufnehmen wird, wenn sich denn nichts grundlegend ändert.

Aber die hier präsentierten und in Abbildungen gegossenen neuen Zahlen des Statistischen Bundesamtes weisen noch auf einen anderen wichtigen Aspekt hin, der in der gegenwärtigen Debatte über Altersarmut und Rentenversicherung völlig ausgeblendet wird und ansonsten auch immer ein Schattendasein fristet: Betrachtet man die Entwicklungsdynamik der Grundsicherungsleistungen, dann kann man erkennen, dass wir den stärksten Anstieg nicht bei den Älteren haben, sondern im Bereich der Menschen, die wegen einer vollen Erwerbsminderung auf Hilfe angewiesen sind.
Die finanzielle Situation der voll erwerbsgeminderten Menschen ist hoch problematisch (vgl. dazu beispielsweise aus dem Jahr 2013 Johannes Steffen: Erwerbsminderungsrenten im Sinkflug
Ursachen und Handlungsoptionen) – schon in der Gegenwart und angesichts der im Regelfall sicheren Perspektive, in der Altersarmut zu landen.

Die Ursachen für den beobachtbaren Anstieg der Erwerbsminderungsfälle sind vielschichtig und berühren zahlreiche Arbeitsmarktprozesse und natürlich immer auch individuelle Dispositionen.
Als Beispiel aus der Forschung vgl. Ralf Müller: Erwerbsminderungsrente in Bremen: Berufsgruppen im Spiegel von Arbeitsbelastung und Arbeitslosigkeit. Schriftenreihe der Arbeitnehmerkammer Bremen 02 | 2015, Bremen 2015.

Das soll nur andeuten, was wir alles berücksichtigen müssen, wenn es um eine wirkliche Rentenreform gehen sollte, die das Alterssicherungssystem vor allem hinsichtlich der vielen, die ansonsten unter die Armutsschwelle gedrückt werden, wetterfest machen soll.

Einige Zahlen und Zusammenhänge jenseits der punktuellen medialen Aufgeregtheit über Altersarmut und Rentenversicherung

Da wird so mancher, der seit Jahren auf die systematischen Schwachstellen im Alterssicherungssystem hinweist und für einen Teil der älteren Menschen bei gleichbleibenden Bedingungen den sicheren Marsch in die Altersarmut ausrechnen kann, mit dem Kopf schütteln, wenn er oder sie die mediale Welle zur Kenntnis nimmt, die  in dieser Woche durch die Landschaft gerauscht ist – ausgehend von einer Meldung des WDR, die zudem noch falsche Zahlen enthielt (vgl. dazu den kritischen Beitrag Viele Menschen stehen vor der Altersarmut, wenn sich im System nichts ändert. Aber gleich mehr als 25 Millionen Menschen? Wohl kaum vom 12. April 2016). Die Botschaft ist ja auch erschütternd und zugleich hervorragend geeignet, in der in den Strukturen der Aufmerksamkeitsökonomie gefangenen Medienwelt eine (kurzzeitige) Resonanz zu erzeugen: Fast jedem Zweiten droht 2030 die Altersarmut. Da läuft es dem Leser oder Zuschauer oder Zuhörer aber kalt den Rücken runter.

Unabhängig von der Tatsache, dass man das eben nicht so ableiten kann, wie das seitens des WDR behauptet wurde, da man dort einfach die Menschen in ihren heutigen Verhältnissen verbleibend hinsichtlich ihrer Rentenansprüche hochgerechnet hat (während die tatsächliche gesetzliche Rente immer die Einkommensposition des gesamten Erwerbslebens widerspiegelt) und außerdem nicht berücksichtigt wurde, dass der individuelle Rentenzahlbetrag nicht gleichbedeutend mit dem Haushaltseinkommen ist bzw. sein muss, ist es von entscheidender Bedeutung für eine rationale Alterssicherungsdiskussion, dass man die systematischen Schwachstellen in unserem gegebenen System, zu dem neben der gesetzlichen Rente als der wichtigsten Säule auch noch die Betriebsrenten und die private Altersvorsorge für einen Teil der älteren Menschen gehört, auf den Tisch legt, damit man erkennt, dass ohne systematische Änderungen immer mehr Menschen aufgrund einer weit verbreiteten Kumulation von Risikofaktoren unabwendbar in die tatsächliche Altersarmut rutschen werden, in der sich übrigens heute schon zahlreiche ältere Menschen befinden.

Aber gerade wenn man für die unglaubliche Brisanz des Themas (bestehende und vor allem kommende) Altersarmut sensibilisieren und nach Ansatzpunkten für eine notwendige Veränderung suchen will, dann muss man sauber bleiben bei der Präsentation der Daten – und seien sie noch so geeignet, dem Schnappatmungsmechanismus vieler Medien zu bedienen. Das hilft der Sache letztendlich nicht weiter. Es gibt dann nur die reflexhaften Hinweise auf eine unzulässige Dramatisierung, was im Ergebnis ablenkt von den eigentlichen Baustellen.

Schauen wir uns ein Beispiel an. Nachdem zahlreiche Medien die Meldung des WDR über die drohende Altersverarmung fast jedes zweiten Älteren aufgegriffen haben, kam am 12.04.2016 eine Lebensäußerung seitens der Rentenversicherung: Berechnung des Westdeutschen Rundfunks (WDR) zu Rentenhöhen. Stellungnahme der Deutschen Rentenversicherung Bund, so ist das überschrieben und dort wird natürlich auf die Schwachstellen in der Argumentation hingewiesen: »Nicht nachzuvollziehen ist die Aussage des WDR, dass beinahe die Hälfte der Rentnerinnen und Rentner, die ab 2030 in Rente gehen, möglicherweise abhängig von staatlichen Grundsicherungsleistungen wären. Aufgrund der Betrachtung individueller Ansprüche alleine aus der gesetzlichen Rentenversicherung kann kein Armutsrisiko ermittelt werden. Einkommensarmut kann immer nur im Haushaltskontext bestimmt werden. Die Höhe der gesetzlichen Rente alleine kann also keine Auskunft über die Einkommenslage von Rentnerhaushalten geben.« Das ist richtig. Der zweite Erwiderungspunkt: »Die Lebensstandardsicherung erfolgt spätestens seit der Rentenreform 2001 im Drei-Säulen-System. Nur wenn alle Vorsorgeformen berücksichtigt werden, lassen sich Aussagen zur Einkommenslage im Alter treffen. Die Berechnungen des WDR berücksichtigen aber nicht die Absicherung in der zweiten und dritten Säule, d.h. in der betrieblichen und der privaten Alterssicherung. Auch können niedrige Rentenleistungen eines Partners durch den anderen Partner ausgeglichen werden. Darüber hinaus verfügen Rentnerhaushalte in nicht wenigen Fällen über Einkünfte aus weiteren Quellen.« Auch das ist – so erst einmal – richtig. Der dritte Punkt: »Das Vorkommen von Renten unter Grundsicherungsniveau beruht zu einem erheblichen Anteil darauf, dass Versicherte nur kurze Zeit in die Rentenversicherung eingezahlt haben. Hierzu zählen etwa Hausfrauen, die nur kurze Zeit versichert waren oder selbständig Erwerbstätige, die keine Beiträge zur Rentenversicherung entrichtet haben. Teilweise resultieren niedrige gesetzliche Renten auch auf einem frühen Wechsel von der gesetzlichen Rentenversicherung in andere Alterssicherungssysteme wie beispielsweise die Beamtenversorgung oder ein berufsständisches Versorgungswerk. Da Rentner in diesen Fällen auch aus anderen Versorgungssystemen Leistungen erhalten, sagt eine niedrige Rente aus der gesetzlichen Rentenversicherung wenig über das Gesamteinkommen im Alter aus.« Auch das ist durchaus plausibel.
Aber so vordergründig richtig die Einwände der Deutschen Rentenversicherung auch sind – sie unterschlagen wesentliche Schwachstellen im bestehenden Alterssicherungssystem, die sich erschließen, wenn man sich die Mechanik des bestehenden Rentensystems genauer anschaut.

In der Abbildung am Anfang dieses Beitrags wurde am Beispiel der vielleicht berühmtesten Kunstfigur des deutschen Sozialrechts, dem „Eckrentner“, illustriert, wie voraussetzungsvoll der Bezug einer gesetzlichen Rente ist, wenn man sein Erwerbsleben lang Mitglied in der Rentenversicherung war und mit deren Leistungen seinen Lebensunterhalt bestreiten muss oder korrekter: müsste.

Die Rentenformel (vgl. hierzu die §§ 64 bis 68 SGB VI) ist an sich eine simple Angelegenheit. Unter der Voraussetzung, dass man bis zum Erreichen des gesetzlich festgelegten Renteneintrittsalters durchgehalten hat, bestimmt sich die Höhe der monatlichen Altersrente aus zwei Faktoren: Zum einen aus der individuellen Einkommensposition über das gesamte Erwerbsleben hinweg, was sich in den Entgeltpunkten niederschlägt. Der „Eckrentner“ hat per definitionem sein ganzes Erwerbsleben (= 45 Jahre) durchgehend gearbeitet und dabei immer genau das Durchschnittsentgelt der Versicherten verdient – für das laufende Jahr 2016 muss man also einen monatlichen Bruttoverdienst von 3.022 Euro erreichen, um das Kriterium zu erfüllen. Dann bekommt man für dieses Jahr genau einen Entgeltpunkt gutgeschrieben.

An diesem Punkt kann man erste fundamentale Schwachstellen des Systems identifizieren: Es überrascht nicht, dass viele Arbeitnehmer zum einen damit konfrontiert sind, dass sie schlichtweg weniger verdienen als das, was als Durchschnittsentgelt ausgewiesen wird. Wenn man aber beispielsweise mit einem Monatsverdienst von 1.500 Euro nach Hause gehen muss, dann kann sich jeder ausrechnen, dass dann für ein ganzes Jahr Erwerbsarbeit eine Zahl deutlich kleiner als 1 bei den persönlichen Entgeltpunkten verbucht werden muss. Das gleiche gilt auch für so gut wie alle Teilzeitbeschäftigten, die kommen auch nicht auf die 1,0. Hinzu kommt: Die Rentenformel geht – angesichts des Beitragsbezugs der Rente auch in sich völlig korrekt – von einem ganzen Jahr aus, in dem man gearbeitet und Beiträge gezahlt hat. Wenn aber das Jahr in Arbeitslosigkeit verbracht wurde, dann sieht es düster aus, denn in den vergangenen Jahren haben wir einen massiven Entwertungsprozess der Anrechnung von Arbeitslosigkeitszeiten in der Rentenversicherung erleben müssen. Früher wurden seitens der Arbeitslosenversicherung noch Beiträge an die Rentenversicherung geleistet, das ist systematisch runtergefahren und für die Hartz IV-Empfänger mittlerweile beseitigt worden. Muss man an dieser Stelle wirklich begründen, dass es einen Zusammenhang gibt zwischen niedriger Entlohnung (die zu einem Wert < 1 in der Rentenformel bei den EP führt) und der Betroffenheit von Arbeitslosigkeit? In nicht wenigen Fällen haben wir es hier mit einem verbundenen Risiko zu tun. Im Ergebnis führt das zu einer kumulativen Schlechterstellung im Rentensystem.

Aber wie ist es mit dem Hinweis auf die die erste Säule des Alterssicherungssystems ergänzende zweite und dritte Säule bestellt? Also den Betriebsrenten und der privaten Altersvorsorge? Die können ja durchaus eine Menge kompensieren bzw. die tatsächlichen Mittel in der Rente deutlich erhöhen. Wenn, ja wenn wir auch hier nicht mit einer systematischen Ungleichverteilung zuungunsten der unteren Einkommen konfrontiert wären.

Vereinfacht gesagt und mit den vorliegenden Daten auch gut zu belegen: Gerade diejenigen, die des kompensatorischen Effekts aus diesen zwei ergänzenden Säulen bedürfen, sind unterdurchschnittlich bis gar nicht integriert in diese Systeme. Für die Riester-Rente vgl. dazu beispielsweise den Beitrag (Keine) Überraschung: Gute Riester-Rente für höhere Einkommen, kaum bis gar keine Riester-Rente für die unteren Einkommen. Eigentlich wäre mal wieder die Systemfrage fällig vom 7. Juli 2015. Und auch die Betriebsrenten entfallen eher auf die höheren Einkommen. Bereits 2012 konnte man dazu in dem Artikel Nur eine Minderheit sorgt betrieblich vor lesen: » Nur 6,2 Prozent der Beschäftigten mit einem Bruttostundenlohn um 10 Euro oder weniger nutzen die Möglichkeit zur Entgeltumwandlung. Bei Besserverdienenden, die über 23 Euro je Stunde bekommen, ist es dagegen ein gutes Drittel.«

Zwischenfazit: Gerade die unteren Einkommen sind aufgrund der Rahmenbedingungen im Wesentlichen angewiesen auf die Leistungen aus der Gesetzlichen Rentenversicherung, die allerdings nur dann ein Rentenniveau oberhalb der Grundsicherung gewährleisten kann, wenn man möglichst ohne nennenswerte Brüche in der eigenen Erwerbsbiografie durchs Leben gekommen ist und dabei mindestens den Durchschnitt verdient hat. Selbst wenn jemand 45 Jahre gearbeitet, aber unterdurchschnittlich verdient hat, wird er oder sie auf keine Rente kommen können, die oberhalb des Hartz IV-Satzes liegen wird.

Das wird sich alles angesichts der gewaltigen Verwerfungen am Arbeitsmarkt, also dem das Rentensystem strukturierenden vorgelagerten System, in jedem vor uns liegenden Jahr weiter entfalten müssen, wenn man in dem bestehenden System keine grundsätzlichen Veränderungen vornimmt.

Kehren wir wieder zurück in das Hier und Heute. Der Rentenexperte Johannes Steffen, der das Portal Sozialpolitik betreibt, hat sich die Mühe gemacht, die gegenwärtigen Zählbeträge in der Gesetzlichen Rentenversicherung zu vergleichen mit dem Grundsicherungssatz. Das Ergebnis sieht man hinsichtlich des Rentenbestandes im Jahr 2014 in der nebenstehenden Abbildung.

»Ein Blick in die aktuelle Rentenstatistik zeigt: Schon heute (letzte Daten stammen aus 2014) liegt der Zahlbetrag bei fast der Hälfte aller Altersrenten unterhalb des durchschnittlichen Bedarfs der Grundsicherung nach SGB XII. Dieser betrug 2014 bei älteren Personen außerhalb von Einrichtungen (avE) 769 Euro im Monat. Im Rentenbestand lag der Zahlbetrag bei fast 48 Prozent der Renten unterhalb von 750 Euro (West: 52,6%, Ost: 26,7%) – beim Rentenzugang waren es gut 52 Prozent (West: 56,4%, Ost: 31,5%)«, schreibt er in seinem Beitrag Rentenzahlbeträge und Grundsicherung, dem auch die Abbildungen entnommen sind.

Und weiter erfahren wir:

»Von den insgesamt knapp 15,5 Millionen Inlandsrentnern (Altersrenten) bezogen allerdings nur 2,5 Prozent zusätzlich noch Leistungen der Grundsicherung im Alter. Niedrige Altersrenten sind also nicht gleichbedeutend mit Hilfebedürftigkeit im Sinne des SGB XII. – Aber: Wenn erwerbslebenslang vollzeitnah Beschäftigte infolge der Senkung des Rentenniveaus nicht mehr mit einer Rente deutlich oberhalb des Fürsorgeniveaus rechnen können, dann gerät die Pflichtversicherung in eine schwere Legitimationskrise.«

Steffen bezieht sich auf die Grundsicherungsschwelle, also den Betrag, den  man auch bekommen würde, wenn man sein Leben lang nicht gearbeitet hätte und keine anderen Einkünfte oder gar Vermögen hat. Hinsichtlich der Einkommensarmut älterer Menschen relevant ist aber die offizielle Armutsgefährdungsschwelle, die bei (weniger als) 60 Prozent des Medianeinkommens liegt.

Hierzu hat auch der statistisch umtriebige Paul M. Schröder vom BIAJ veröffentlicht: Zum einen den Beitrag Altersrenten: Rentenzugänge, Rentenbestand und Rentenzahlbeträge 2000 bis 2014 sowie ergänzend dazu Altersrenten unterhalb der Armutsgefährdungsschwelle und Armutsgefährdung 2005 bis 2014.

Daraus die folgenden Hinweise – zuerst aus seiner ersten Veröffentlichung, die sich ebenfalls an der WDR-Veröffentlichung abarbeitet:

»Das Ausmaß der Armutsgefährdung aller Menschen im Alter von 65 Jahren und älter lässt sich nicht eins zu eins aus den gesetzlichen Renten wegen Alters ableiten. 2014 lag der Rentenzahlbetrag bei 10,90 Millionen Renten wegen Alters unterhalb der Armutsgefährdungsschwelle (917 Euro), bei 8,488 Millionen Renten unterhalb von 750 Euro. Die auf Grundlage der amtlichen Sozialberichterstattung für 2014 ermittelte Zahl der armutsgefährdeten Menschen im Alter von 65 Jahren und älter betrug 2,44 Millionen. Und die die Altersarmut deutlich unterzeichnende Zahl der Menschen, die Grundsicherung bezogen, betrug 515.289. Dass Menschen auch ohne oder mit einer geringen gesetzlichen Rente wegen Alters nicht arm oder sogar reich sein können, bleibt in der WDR-Projektion unbeachtet. Kurz: Mit der „Erklärung“ von nahezu der Hälfte der Bevölkerung als armutsgefährdet wird der Blick auf die wachsende Zahl der wirklich armen Menschen verstellt – und damit wohl auch auf die notwendigen gesetzlichen Veränderungen für diese Menschen.«

Und seiner Ergänzung zum ersten Text können wir entnehmen:

»Der Anteil der Renten nach SGB VI wegen Alters mit einem Rentenzahlbetrag unterhalb der Armutsgefährdungsschwelle stieg von 50,7 Prozent (8,59 Millionen) in 2005 auf 61,0 Prozent (10,90 Millionen) in 2014 … Männer-Renten: von 25,0 Prozent (1,88 Millionen) in 2005 auf 35,8 Prozent (2,85 Millionen) in 2014 … Frauen-Renten: von 71,0 Prozent (6,71 Millionen) in 2005 auf 81,3 Prozent (8,05 Millionen) in 2014.«

Aber bezogen auf den Tatbestand der Einkommensarmut fügt er an:

»Die Zahl der armutsgefährdeten Menschen im Alter von 65 Jahren und älter stieg von 1,72 Millionen in 2005 … von Jahr zu Jahr auf 2,44 Millionen in 2014 …. Männer: von 0,65 Millionen in 2005 auf 0,90 Millionen in 2014 … Frauen: von 1,17 Millionen in 2005 auf 1,55 Millionen in 2014.«

Wenn man das aufrechnet ergibt sich der folgende Befund:

»Gemessen am Bestand der Renten nach SGB VI wegen Alters mit einem Rentenzahlbetrag unterhalb der Armutsgefährdungsschwelle galten pro 100 Renten im Jahr 2005 insgesamt 20,0 Men- schen im Alter von 65 Jahren und älter als armutsgefährdet.«

Fazit: Wenn sich nichts am System ändert (beispielsweise die (Wieder-)Einführung einer Rente nach Mindesteinkommen), dann werden immer mehr Menschen in den vor uns liegenden Jahren in die Altersarmut rutschen (müssen), da sie nicht die Kriterien der „alten“ Rentenformel erfüllen (können). Hinzu kommen weitere Phänomene, die hier noch gar nicht eingebaut wurden in die Vorhersage. So beispielsweise die zunehmende Problematik einer wohnkostenbedingten Verarmung älterer Menschen. Darüber berichtet beispielsweise das Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL in seinem Heft 16/2016 unter der Überschrift „Altersrisiko Wohnen“:

»Wenn Hol­ger Pur­gan­der, 72, auf sein Le­ben zu­rück­blickt, muss er sich nicht schä­men. 40 Jah­re lang Pünkt­lich­keit, 40 Jah­re lang hat er als Bus­fah­rer und Ma­schi­nen­schlos­ser ge­ar­bei­tet, im­mer Steu­ern be­zahlt. Mit sei­nen 811,90 Euro Ren­te mo­nat­lich kam der Rent­ner ei­ni­ger­ma­ßen über die Run­den. Bis sei­ne 54-Qua­drat­me­ter-Woh­nung im Ber­lner Au­ßen­be­zirk Nie­der­schön­hau­sen zwei neue Fens­ter und ei­nen Bal­kon be­kam.
Für den Ver­mie­ter war die In­ves­ti­ti­on eine Mo­der­ni­sie­rung, für Pur­gan­der war es der Schritt ins so­zia­le Ab­seits. Die Mo­nats­mie­te klet­ter­te, von 204 im Jahr 2012 auf inzwischen 313 Euro kalt. Jetzt blei­ben Pur­gan­der noch 150 Euro im Mo­nat für Lebensmit­tel, zu we­nig für drei Mahl­zei­ten am Tag, und so schleicht er sich, wenn es am Mo­nats­en­de mal wie­der eng wird, für ein Mit­tag­es­sen zur nahe ge­le­ge­nen Ca­ri­tas … Zwei ge­gen­läu­fi­ge Pro­zes­se ver­schär­fen die Al­ters­ar­mut: Wäh­rend die Im­mo­bi­li­en- und Miet­prei­se in den städ­ti­schen Zen­tren ra­sant an­zie­hen, ver­fal­len die Häu­ser­wer­te in vielen länd­li­chen Re­gio­nen. Es geht also nicht nur um Mie­ter in teu­ren Bal­lungs­räu­men, auch die Lage ei­ner Viel­zahl von Ei­gen­heim­be­sit­zern ver­schlim­mert sich. Sie hat­ten sich die Im­mo­bi­lie nicht zu­letzt als Si­cher­heit fürs Al­ter zu­ge­legt. Doch nun ist das er­spar­te Heim im­mer we­ni­ger wert.«

Oder wie wäre es mit dieser Botschaft? Immer mehr Ältere geraten in die Schuldenfalle, berichtet die FAZ. Nach dem von der Wirtschaftsauskunftei Creditreform veröffentlichten „Schuldneratlas 2015“ »stieg die Zahl der über 60-Jährigen mit Schulden, die sie nicht mehr vollständig bedienen können, in den vergangenen zwei Jahren drastisch an. Bei den 60 bis 69-Jährigen um 12,4 Prozent, bei den Senioren ab 70 sogar um 35,4 Prozent.«

Diese beiden Beispiele mögen genügen, wenn es darum geht, darauf hinzuweisen, dass das Thema Altersarmut ein Megathema der vor uns liegenden Jahre werden muss, wenn … . Ja, wenn nicht endlich systematisch die Schwachstellen im bestehenden Alterssicherungssystem auf die Tagesordnung gesetzt werden.

Viele Menschen stehen vor der Altersarmut, wenn sich im System nichts ändert. Aber gleich mehr als 25 Millionen Menschen? Wohl kaum

Was für eine Aufregungswelle in den Medien. Der WDR hat Ergebnisse einer Recherche zur drohenden Altersarmut ab dem Jahr 2030 veröffentlicht. Mit einer mehr als beunruhigenden Botschaft, die natürlich sofort aufgegriffen wurde: Fast jedem Zweiten droht die Altersarmut: »2030 werden von 53,7 Mio Rentnern etwa 25,1 Mio. von Altersarmut bedroht sein.« Schon an dieser Stelle sollte man sich verwundert die Augen reiben, dazu gleich mehr. Aber lesen wir weiter: »Ursache dafür sind nicht nur niedrige Löhne etwa im Einzelhandel oder im Gastgewerbe, sondern auch die hohe Zahl von Teilzeitbeschäftigten, Solo-Selbständigen oder Mini-Jobbern. Gerade in diesen Gruppen dürfte das künftige Armutsrisiko im Alter massiv sein. Um im Jahr 2030 eine Rente über dem Grundsicherungsniveau zu bekommen, müsste ein Arbeitnehmer nach heutigem Stand 40 Jahre lang ununterbrochen pro Monat mindestens 2.097 Euro brutto verdienen.« Da wird ein Finger auf eine klaffende Wunde legen, wie es seit vielen Jahren von den nicht-interessengebundenen Sozialpolitik-Beobachtern getan wird – auch immer wieder in Beiträgen zum Thema Altersarmut auf dieser Seite.

Und gerade weil es so wichtig ist, dass das Thema breit in der Gesellschaft diskutiert und endlich auch über eine fundamentale Reform des Alterssicherungssystems gestritten wird, sollte man sich nicht durch grobe Fehler eine Blöße geben.

Damit wären wir wieder bei den Zahlen im ersten Zitat aus dem WDR-Bericht: 53,7 Mio. Rentner 2030? In welchem Land leben die Verfasser des Berichts. Schon hier hätte man innehalten müssen, wenn man nur mal berücksichtigt, dass wir derzeit etwas über 20 Mio. Rentner haben, die in Deutschland leben. Müssen wir von einer dramatischen Zuwanderung von Millionen Ruheständlern ausgehen in den kommenden Jahren? Wohl kaum. Da hat sich schlichtweg jemand verstrickt in den großen Zahlen.
Auch Paul M. Schröder vom Bremer Institut für Arbeitsmarktforschung und Jugendberufshilfe (BIAJ) hat das unter der hier zutreffenden Rubrik „absurde Statistik“ aufgegriffen: WDR: 53,7 Millionen Rentnerinnen und Rentner in 2030 – wie und wo?, fragt er ebenfalls.

»Nach der 13. Bevölkerungsvorausberechnung der statistischen Ämter des Bundes und der Länder werden in der Bundesrepublik Deutschland Ende 2030 z.B. nach der Variante 2 („Kontinuität bei stärkerer Zuwanderung“) 80,919 Millionen Menschen leben, darunter 19,239 Millionen im Alter von 67 Jahren und älter. Und nach der Variante 3 („relativ alte Bevölkerung“) 79,631 Millionen Menschen, darunter 19,555 Millionen im Alter von 67 Jahren und älter.«

Auch wenn es ein oder zwei Millionen Menschen in der Altersgruppe mehr sein sollten – das ist alles ganz weit weg von den über 50 Mio. Rentnern des Jahres 2030. Die wird es nicht geben, weil es sie nicht geben kann.

Es wäre natürlich schön, wenn eine Projektion des WDR eintreten würde, die allerdings auf den völlig aus dem Ruder gelaufenen Zahlen abgeleitet wurde und damit nicht realistisch ist: In einer tabellarischen Übersicht findet man den Hinweis für 2030, dass 28,6 Mio. Menschen mit einer ausreichenden Rente versorgt sein werden. Wenn uns dieser Wert gelingen würde, hätten wir keine Altersarmut mehr. Wenn.