Profi-Pflegekräfte nicht mehr allein im Heim! Die zusätzlichen und ergänzenden Betreuungskräfte und das alte Dilemma: Gut starten und zuweilen falsch landen

Man kennt das (nicht nur) in der Sozialpolitik: Man hat eine gute Absicht und startet entsprechend und muss dann feststellen, dass die Umsetzung in der Praxis irgendwie zu ganz anderen als den angestrebten Ergebnissen führt. Nehmen wir zur Illustration ein Beispiel aus der Pflege. Es muss sicher nicht besonders hervorgehoben werden, weil mittlerweile als „Allgemeingut“ voraussehbar, dass es in der Altenpflege einen erheblichen Personalmangel gibt, vor allem in den Pflegeheimen, wo immer „schwierigere“ Fälle im Sinne einer steigenden Pflegeintensität der dort zu pflegenden Menschen beobachtbar sind. Das durchschnittliche Heimeintrittsalter steigt immer mehr an, viele, die dann kommen, haben einen deutlich höheren Pflegebedarf als früher und der Anteil der Menschen mit einer Demenzerkrankung wird immer größer. Das alles hat Folgen für den Bedarf an Pflegekräften. Immer wieder wurde und wird dabei kritisiert, dass neben der rein pflegerischen Versorgung, die oftmals angesichts der realen Personalsituation nur mit Müh und Not aufrechterhalten wird, andere wichtige Dinge wie Zuwendung oder soziale Aktivierung zu kurz kommen müssen. Da ist dann schlichtweg keine Zeit für sowas wie Vorlesen oder den pflegebedürftigen Menschen mal an die frische Luft zu bringen.

Das wurde schon vor Jahren auch in der Politik erkannt und man hat versucht, darauf zu reagieren – immer natürlich „im Rahmen des Möglichen“. Auslöser für erste Schritte im Sinne einer Verbesserung der Situation war vor dem Hintergrund des steigenden Anteils an Menschen mit einer Demenzerkrankung die Regelung, dass Heime seit 2008 Betreuungsassistenten beschäftigen dürfen. Zu deren Aufgaben gehört etwa, mit Bewohnern spazieren zu gehen, zu basteln oder Sport zu treiben. Zunächst gab es diese Betreuung nur für Menschen mit „eingeschränkter Alltagskompetenz“. Seit Anfang dieses Jahres ist sie für alle Pflegebedürftigen in stationären oder teilstationären Einrichtungen möglich, denn die Ausweitung ist ein Bestandteil des Pflegestärkungsgesetzes I der großen Koalition, das zum 1. Januar 2015 in Kraft gesetzt wurde.

Und in diesem gesetzgeberischen Kontext wird die Ausweitung des Ansatzes, zusätzliche und ergänzend tätige Betreuungskräfte in den Altenheimen einzusetzen, gebührend gefeiert. So kann man beispielsweise der vom Bundesministerium für Gesundheit im Januar 2015 veröffentlichten Broschüre Das Pflegestärkungsgesetz I. Das Wichtigste im Überblick entnehmen:

  • Das Erste Pflegestärkungsgesetz mobilisiert rund eine Milliarde Euro zusätzlich, unter anderem für sogenannte zusätzliche Betreuungsangebote in voll- und teilstationären Einrichtungen.
  • Die Zahl der zusätzlichen Betreuungskräfte steigt deutlich – von bisher rund 25.000 auf bis zu 45.000. Die Aufstockung durch dieses eigens weitergebildete Personal sorgt dafür, dass Pflegebedürftige noch besser bei ihren alltäglichen Aktivitäten unterstützt werden und sich ihre Lebensqualität erhöht.
  • Der Betreuungsschlüssel verbessert sich durch das Pflegestärkungsgesetz von 1 : 24 auf 1 : 20. Zudem stehen die zusätzlichen Betreuungsangebote in den stationären Einrichtungen ab 1. Januar 2015 allen Pflegebedürftigen offen. Das verbessert den Pflegealltag in den voll- und teilstationären Pflegeeinrichtungen deutlich. (BMG 2015: 13)

Das hört sich doch gut an. Genau diese zusätzlichen, ergänzenden Kräfte werden vor Ort dringend gebraucht. Vor allem von vielen Pflegebedürftigen, die ansonsten nicht in die Nähe der Chance auf etwas (mehr) Zuwendung kommen können. Es geht um etwas mehr Lebensqualität.

Offensichtlich baut die Bundesregierung hier einen Ansatz aus, der vor Jahren grundgelegt wurde. Seit Sommer 2008 haben Pflegeheime die Möglichkeit, Betreuungsassistenten zu beschäftigen, die sich speziell um Demenzkranke kümmern. Rechtsgrundlage war das Pflegeweiterentwicklungsgesetz (PfWG) mit dem § 87b SGB XI. Betreuungsassistenten müssen eine Qualifizierungsmaßnahme im Umfang von insgesamt 160 Stunden nachweisen, mit einem vorgeschalteten Orientierungspraktikum von 40 Stunden. Nicht selten hat man ehemals langzeitarbeitslose Menschen in dieses Tätigkeitsfeld vermittelt. Es handelt sich also um Arbeitskräfte unterhalb der Qualifikationsebene der Pflegehelfer. Vor diesem Hintergrund ist es verständlich, dass man die Arbeit der Betreuungsassistenten abgrenzen muss gegenüber dem, was Pflegehelfer oder gar examinierte Fachkräfte machen (dürfen/müssen).
Die Heime bekommen einen festen Lohnkostenzuschuss, wenn sie diese Kräfte beschäftigen und die Betreuungsassistenten werden auf der Basis einer angelernten Kraft eingruppiert.

Schaut man in die aktuelle Pflegestatistik des Statistischen Bundesamtes, deren Werte sich auf das Jahresende 2013 beziehen, dann kann man den Angaben zur Personalsituation entnehmen, dass in den stationären Einrichtungen damals insgesamt 685.447 Beschäftigte (insgesamt, nicht nur Pflegekräfte) gezählt wurden. Eigens ausgewiesen werden in einer Größenordnung von 27.864 zusätzliche Betreuungskräfte nach § 87b SGB XI, also 4,1 Prozent des Gesamtpersonals im stationären Bereich (Statistisches Bundesamt, Pflegestatistik 2013, Deutschlandergebnisse, S. 23).

Und jetzt das: Altenheime setzen unqualifiziertes Personal ein, berichtet beispielsweise die Süddeutsche Zeitung: »In Altenheimen in Deutschland werden vermehrt angelernte Helfer für Pflegearbeiten eingesetzt, die sie gar nicht verrichten dürfen. Bundesweit steige die Zahl der sogenannten Betreuungsassistenten, die Heimbewohner sozial begleiten sollen … In vielen Heimen würden Aufgaben, die eigentlich ausgebildete Pfleger übernehmen sollen, von angelernten Helfern ausgeführt – was gegen das Gesetz verstoße. Die Betreuungsassistenten müssten etwa Bewohner allein waschen, im Bett lagern oder ihnen Medikamente verabreichen.« Das bezieht sich auf Recherchen, die in diesem Original-Artikel veröffentlicht wurden: Helfer ersetzen Profi-Pfleger in Altenheimen von Anette Dowideit. Die an sich begrüßenswerte Maßnahme einer Aufstockung der Betreuungsassistenten, die Erleichterung schaffen sollen, hat nicht selten Besorgnis erregende Folgen. »Denn die Betreuungsassistenten werden nach Recherchen … vielerorts rechtswidrig eingesetzt. Sie waschen bettlägerige Bewohner, lagern sie im Bett um, füttern sie oder verabreichen ihnen Medikamente. Alles Aufgaben, die aus gutem Grund ausgebildetem Fachpersonal vorbehalten sind.«

Das konfligiert mit der Tatsache, dass es sich ausdrücklich um Zusatzkräfte handeln soll. Auch der der Bundesgesundheitsminister Hermann Gröhe (CDU) weist ausdrücklich darauf hin, die Betreuer seien lediglich als Ergänzung zu Altenpflegern vorgesehen, „sie dürfen kein Ersatz sein“.
Offensichtlich, so Dowideit in ihrem Artikel, sieht die Realität ganz anders aus:

»Es meldeten sich Dutzende Pfleger, die berichten, dass in ihren Heimen die Angelernten regelmäßig zur Lagerung Bettlägeriger eingeteilt würden – und diese dann häufig offene Wunden entwickelten, weil sie nicht fachgerecht gelegt und stabilisiert würden. Oder dass die Helfer bettlägerige, schwere Patienten allein aus den Betten und auf die Toilette hieven müssten, ohne die richtigen Handgriffe zu kennen … Pfleger Christian Hübner, der heute in einem Krankenhaus arbeitet, machte während seiner Ausbildung Station in fünf Pflegeheimen – und hat in vieren erlebt, dass die Angelernten gesetzeswidrig eingesetzt wurden. „In einer Einrichtung bekamen die Betreuungsassistenten morgens vier oder fünf bettlägerige Bewohner zugeteilt und mussten sie alleine waschen. Das ist nicht mal mehr grenzwertig“, findet er.«

Wie muss man das einordnen? In dem Artikel wird Johanna Knüppel vom Deutschen Berufsverband für Pflegeberufe (DbfK) zitiert:

Sie »vermutet, dass die Bundesregierung sehr wohl vom Missbrauch der Betreuungsassistenten wisse – aber schlicht wegsieht. „Anstatt die Pflegefachkräfte in den Heimen tatsächlich zu entlasten, wird die Versorgung auf immer mehr pflegerische Laien übertragen“, sagt sie. Aus politischer Sicht habe eine solche Strategie gleich mehrere Vorteile: „Sie kaschiert die durch den Fachkräftemangel entstandene pflegerische Unterversorgung in vielen Heimen, sorgt für positive Schlagzeilen und gleichzeitig schafft sie Arbeitsplätze für Langzeitarbeitslose.“«

Für viele Arbeitgeber ist das ein betriebswirtschaftlich gesehen eine interessante Personalbeschaffungsvariante, vor allem dann, wenn man – auch wenn das eigentlich rechtlich nicht zulässig ist – faktisch Personallöcher in anderen Bereichen stopfen kann, wo das Personal auch deutlich teurer käme:

»Die Quereinsteiger verdienen in der Regel nicht mehr als den gesetzlichen Mindestlohn von 8,50 Euro pro Stunde, während ein examinierter Altenpfleger laut einer aktuellen Berechnung der Gewerkschaft Verdi inklusive aller Zulagen auf 17,50 Euro Stundenlohn kommen kann. Dazu kommt: Das Gehalt der Assistenten wird von den Pflegekassen bezuschusst – bei manchen Heimen laut GKV-Spitzenverband so stark, dass sie selbst gar kein Gehalt mehr zuzahlen müssen. Wie viel Zuschuss ein Heim erhält, handelt es mit den Pflegekassen vor Ort aus.«

Und wieder einmal haben wir ein starkes Gefälle hin zur (Nicht-)Kontrolle, denn was diese Kräfte tatsächlich tun, wird von keinem kontrolliert und steht auch bei den Prüfungen des Medizinischen Dienstes der Krankenkassen nicht auf der Agenda, dort wird lediglich geschaut, ob die Betreuungsassistenten die vorgeschriebene Qualifizierungsmaßnahme absolviert haben. Nicht aber, wie sie genau eingesetzt werden.

Es handelt sich auch nicht um eine vernachlässigbare Größenordnung. Dowideit zitiert in ihrem Artikel eine Zahlenrelation, die zu denken geben sollte:

»Seit der Einführung dieses Berufs im Jahr 2008 war die Zahl bis Ende 2013 auf knapp 28.000 gestiegen. Und die Bundesregierung prognostiziert, dass es schon bald 45.000 sein werden – so viele wären es, wenn alle Heime die ihnen für ihre Bewohner zustehenden Kräfte demnächst einsetzen. Zum Vergleich: Die Zahl der ausgebildeten Altenpfleger, die in den 13.000 Heimen bundesweit arbeiten, liegt nur gut dreimal höher, nämlich bei 151.000.«

Dowideit berichtet in ihrem Artikel von konkreten Beispielen, wo seit Anfang des Jahres zahlreiche Betreuungsassistenten neu eingestellt wurden und werden, die dann Arbeit auf Abruf machen sollen. »Rund um die Uhr sollen die Angelernten einsatzbereit sein für die Heimkette, theoretisch auch mitten in der Nacht – obwohl sie ihren gesetzlich erlaubten Tätigkeiten, also mit den Bewohnern Karten spielen, gärtnern, ihnen vorlesen – zu dieser Zeit wohl kaum nachkommen können. Der Betriebsrat der Heimkette vermutet, dass die Betreuungsassistenten als billige Alternative zum Pfleger im Nachtdienst eingesetzt werden könnten.«

Manche Heimbetreiber sind auch ganz ehrlich, was sie wollen, bis man sie entdeckt: »Zum Beispiel die privatwirtschaftliche Kette Compassio mit Sitz in Ulm, die 24 Standorte betreibt. In einer Stellenanzeige, die sie auf einem Internetportal schaltete, ist zu lesen: „Sie sind für die soziale Betreuung unserer Bewohner verantwortlich und verrichten zudem grundlegende pflegerische Tätigkeiten.“ Eine Sprecherin des Unternehmens sagt dazu auf Anfrage, beim Formulieren der Anzeige sei ein Fehler unterlaufen. Die knapp 100 bei Compassio angestellten Betreuungsassistenten würden keinesfalls pflegerische Aufgaben übernehmen.«

Es hat seine eigene betriebswirtschaftliche Rationalität:  Wenn dieses zusätzliche Angebot an Personal auf Einrichtungen trifft, die in den Bereichen, für die das zusätzliche Personal gar nicht zuständig sein soll, erhebliche Personalmangelprobleme hat, dann liegt es nahe, dass es entweder „lebenspraktisch“ bedingt auch bei keiner Vorgängen Absicht zu zahlreichen Überschneidungen kommen kann zwischen dem, was Betreuungskräfte tun und was Pflegekräfte tun – gerade bei teamorientierten Arbeiten ist das zu arbeiten. Und mancher Arbeitgeber wird das auch bewusst nutzen, um Löcher zu stopfen.

Damit hier kein Missverständnis aufkommt: Der Ansatz und Einsatz zusätzlicher, ergänzender Betreuungsassistenten wird hier ausdrücklich befürwortet. Damit verbunden ist die Möglichkeit einer erheblichen Steigerung der Lebensqualität der Pflegebedürftigen in den Heimen.

Wenn, ja wenn man sich an das hält, was in den – ich kann nichts für den Titel – „Richtlinien nach § 87b Abs. 3 SGB XI zur Qualifikation und zu den Aufgaben von zusätzlichen Betreuungskräften in stationäre Pflegeeinrichtungen (Betreuungskräfte-Rl) vom 19. August 2008 in der Fassung vom 29. Dezember 2014″ im § 2 über die „Grundsätze der Arbeit und Aufgaben der zusätzlichen Betreuungskräfte“ normiert worden ist:

Die Aufgabe der zusätzlichen Betreuungskräfte ist es, die Anspruchsberechtigten zum Beispiel zu folgenden Alltagsaktivitäten zu motivieren und sie dabei zu betreuen und zu begleiten:
– Malen und basteln,
– handwerkliche Arbeiten und leichte Gartenarbeiten,
– Haustiere füttern und pflegen,
– Kochen und backen,
– Anfertigung von Erinnerungsalben oder -ordnern,
– Musik hören, musizieren, singen,
– Brett- und Kartenspiele,
– Spaziergänge und Ausflüge,
– Bewegungsübungen und Tanzen in der Gruppe,
– Besuch von kulturellen Veranstaltungen, Sportveranstaltungen
– Gottesdiensten, und Friedhöfen,
– Lesen und Vorlesen,
– Fotoalben anschauen.

Die Betreuungskräfte sollen den Anspruchsberechtigten für Gespräche über Alltägliches und ihre Sorgen zur Verfügung stehen, ihnen durch ihre Anwesenheit Ängste nehmen sowie Sicherheit und Orientierung vermitteln. Betreuungs- und Aktivierungsangebote sollen sich an den Erwartungen, Wünschen, Fähigkeiten und Befindlichkeiten der Anspruchsberechtigten unter Berücksichtigung ihrer jeweiligen Biographie, ggf. einschließlich ihres Migrationshintergrundes, dem Geschlecht sowie dem jeweiligen situativen Kontext orientieren.

Damit wäre sehr viel gewonnen. Wenn, ja wenn es darum gehen würde.

Der Tanz um die Pflegenoten und die schwierige Frage nach der Qualität „der“ Pflege

„Als ich noch zur Schule ging, konnte man eine Fünf in Mathe nicht durch Singen ausgleichen. Aber in Heimen geht das.“ 


(Staatssekretär Karl-Josef Laumann, Pflegebevollmächtigter der Bundesregierung, zitiert nach Pflege-TÜV ist Laumann ein Dorn im Auge).

Das mit Noten ist ja so eine Sache – wir alle haben unsere eigenen, mehr oder weniger oder gar nicht schönen Erfahrungen und Assoziationen, wenn wir an den Notenraum von 1 bis 6 (zurück)denken. Aber davon abgesehen verstehen wir alle, was es bedeutet, eine 1 oder eine 4 oder gar eine 5 – zumeist in roter Signalfarbe – testiert zu bekommen. Und genau daran wollte man anknüpfen, als man das Anliegen hatte, die Ergebnisse von Qualitätsprüfungen der Pflegeheime und Pflegedienste, die vom Medizinischen Dienst der Krankenversicherung (MDK) durchgeführt werden, für die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen verständlich, übersichtlich und vergleichbar zu machen. Eine an sich gute Sache. Und seit 2009 werden Pflegenoten (vgl. dazu www.pflegenoten.de) nach dem Muster der Schulnoten (allerdings hört das bei der 5 auf) vom MDK verteilt. Diese Pflegenoten sollen nicht nur den Verbraucher informieren, Transparenz schaffen und die Auswahl eines Pflegedienstes und Heimes erleichtern. Sie sollen auch für Qualität sorgen, denn und auf den ersten Blick durchaus plausibel: Wer kann es sich schon leisten, dass eine schlechte Note über seine Einrichtung veröffentlicht wird?

Wie passt dann aber so eine Nachricht in diese schöne kompakte Notenwelt? In dem Artikel Umstrittenes Bonner Heim geschlossen vom 06.02.2015 wurde berichtet: Es geht um das Seniorenheim Haus Dottendorf der Dortmunder Betreibergesellschaft Senator GmbH in Bonn. »Die Bonner Heimaufsicht hatte im Januar gefährliche Mängel in der Pflege festgestellt. Im Dezember waren zwei Bewohner in der Einrichtung zu Tode gekommen, die Staatsanwaltschaft nahm die Ermittlungen auf. Die Heimaufsicht beschloss eine Teilschließung, bei der zunächst Bewohner mit den Pflegestufen zwei und drei umquartiert wurden. Nachdem erneut Mängel in der Pflege auftauchten, entschied die Aufsicht die komplette Schließung.« Die erfolgte dann im Februar 2015.

Was das mit unserem Thema zu tun hat: »Wie fast alle Einrichtungen in Deutschland hatte das Haus Dottendorf zuletzt die Bestnote 1,0 erhalten.« Ganz offensichtlich ist es gar nicht das Problem, dass eine Einrichtung vor das Problem gestellt wird, eine schlechte Note ausweisen zu müssen. Der bundesweite Durchschnitt der meist auf der ersten Seite des MDK-Prüfberichts veröffentlichten Noten liegt derzeit bei 1,3. Die Spitzennoten kommen zustande, weil pflegerische Mängel zum Beispiel durch gute Küche und Freizeitangebote ausgeglichen werden können.

Die Vorgänge um das Bonner Heim mit der Spitzen-Benotung war dann wieder einmal Auslöser einer politischen Debatte, die Pflegenoten grundsätzlich in Frage zu stellen. Anfang Februar dieses Jahres wird beispielsweise der gesundheitspolitische Sprecher der Unionsfraktion, Jens Spahn, in dem Artikel Pflegenoten vor dem Aus? mit en folgenden Worten zitiert: „Aus heutiger Sicht muss man feststellen, dass das System der Pflegenoten gescheitert ist. Das System der Pflegenoten hat bei maximalem Aufwand und Ärger bisher nichts, aber auch gar nichts gebracht“, so Spahn.
In diesem Artikel findet man schon alle Ingredienzien der aktuellen und durchaus kontroversen Debatte über Sinn und Unsinn der Pflegenoten. Die in der großen Koalition mitregierenden Sozialdemokraten halten von einer „Fundamentalkritik“ nichts und die gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, Hilde Mattheis, warnt vor einer „Verteufelung“ des Instruments.

»Die Opposition übt ebenfalls heftige Kritik an den Pflegenoten: „Das System der Pflegenoten ist gescheitert. Und das war von Anfang an absehbar. Es ist schwierig, die Frage nach guter Qualität zu einer Verhandlungssache zu machen“, sagte Elisabeth Scharfenberg, pflegepolitische Sprecherin der Grünen … „Wir fordern eine sofortige Aussetzung der Veröffentlichung der Pflegenoten“, so Scharfenberg. Sie schlägt ein unabhängiges und multidisziplinär besetztes Institut für Qualität in der Pflege vor, das die künftigen Qualitätsanforderungen in der Pflegeentwickeln soll.«

Aber auch diese Position wurde vorgetragen: „Das Aussetzen der Pflegenoten ist der falsche Weg, weil damit die Transparenz für lange Zeit auf Eis gelegt würde“, so wird Peter Pick vom Medizinischen Dienst zitiert.

Ebenfalls im Februar dieses Jahres wurde erkennbar, in welche Richtung die Entwicklung geht: Pflegeorganisationen wollen mitreden, so die Überschrift eines Artikels. Sozialverbände wie der SoVD und VdK sowie der Bundesverband der Verbraucherzentralen hatten sich gegenüber der Bundesregierung positioniert: „Den Pflege-TÜV abzuschaffen, wäre fahrlässig“, so wird SoVD-Präsident Adolf Bauer zitiert. Aber: „Bereits der Verzicht auf die Gesamtnote wäre ein großer Schritt nach vorn. Denn dann wird es schwieriger, schlechte Bewertungen zu verschleiern.“

Genau das hat dann der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Karl-Josef Laumann, aufgegriffen. Notensystem ist am Ende, so kurz und bündig Anno Fricke in der Ärzte Zeitung in einem Bericht über den Vorstoß von Laumann: »Der Pflege-TÜV wird umgekrempelt: Das umstrittene Notensystem soll nächstes Jahr abgeschafft werden, ein neues Bewertungssystem kommt aber nicht vor 2018 … Das umstrittene Bewertungssystem für Pflegeheime soll zum 1. Januar ausgesetzt werden. Eine entsprechende Regelung hat der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Staatssekretär Karl Josef Laumann (CDU) … angekündigt.«

Diese Ankündigung kann man im Original hier nachlesen: Endlich gute Pflege erkennen – Neues Konzept für den Pflege-TÜV, so ist die Pressemitteilung von Laumann überschrieben. Zu Beginn des kommenden Jahres soll zunächst ein Pflegequalitätsausschuss errichtet werden, der bis Ende 2017 ein neues Qualitätsprüfungs- und Veröffentlichungssystem ausarbeiten soll. Laumann schlägt vor, den Ausschuss beim Pflegebevollmächtigten anzusiedeln – also bei sich selbst. Statt der wenig aussagefähigen Gesamtnoten soll spätestens ab kommendem Januar eine Kurzzusammenfassung der Prüfergebnisse auf dem Deckblatt der Prüfberichte stehen.

Wie aber stellt sich Laumann eine Neukonzeption des Pflege-TÜV vor?

Zum 1. Januar 2016 soll eine Pflegequalitätsausschuss eingerichtet werden, der ein neues Qualitätsprüfungs- und Veröffentlichungssystem für Pflegeeinrichtungen berät und als Richtlinie beschließt. In diesem Ausschuss müssen neben den Einrichtungs- und Kostenträgern künftig auch die Verbände der Pflegebedürftigen und der Pflegeberufe gleichberechtigt mit Stimmrecht vertreten sein. Der Pflegequalitätsausschuss erhält eine gesetzliche Frist bis 31. Dezember 2017, um die Richtlinie für ein neues Qualitätsprüfungs- und Veröffentlichungssystem zu erlassen, wenn er das nicht schafft, dann kann das Bundesgesundheitsministerium auf dem Wege der Ersatzvornahme eine solche in die Welt setzen. Und dann kommt in der Pressemitteilung des Pflegebevollmächtigten eine aufschlussreicher Passus:

»Der Pflegequalitätsausschuss wird bei seiner Arbeit durch ein neu zu gründendes Pflegequalitätsinstitut mit unabhängigen Wissenschaftlern unterstützt … Das Institut muss schlank sein und aus bereits vorhandenen Mitteln finanziert werden.«

Das hört sich nicht beruhigend an. Ein „schlankes“ Institut, das „aus bereits vorhandenen Mitteln finanziert werden“ muss. Was soll da angesichts der Komplexität des Thema herauskommen?

Natürlich haben sich die Bedenkenträger sogleich zu Wort gemeldet: Dem neuen, geplanten Pflegequalitätsausschuss begegnen die gesetzlichen Krankenkassen mit Skepsis, wie man dem Artikel  GKV pocht auf Staatsferne entnehmen kann. »Der GKV-Spitzenverband reklamiert die Zuständigkeit für eine Reform des Bewertungssystems für Pflegeheime für sich …  dem GKV-Spitzenverband sollte im Rahmen einer Richtlinienkompetenz der Auftrag erteilt werden, für die Pflegetransparenz die Kriterien der Veröffentlichung einschließlich der Bewertungssystematik zu entwickeln.«

Zur Einordnung sollte man wissen: »Für die Entwicklung des aktuell geltenden Bewertungssystems wurden der GKV-Spitzenverband, die kommunalen Spitzenverbände, Sozialhilfeträger und 14 Pflegeverbände mit unterschiedlichen Interessenslagen an den Verhandlungstisch gezwungen. Ihre Entscheidungen über ein Bewertungssystem müssen seither einstimmig gefällt werden. Das lässt wunderliche Kompromisse blühen … nach wie vor werden die Transparenzkriterien dieses Marktes in der beschriebenen Konstellation reguliert. Das musste schief gehen.«, so Anno Fricke in seinem Artikel Eine Ad hoc-Reform überfordert das System.

Wenn man sich den – wohlgemerkt – Vorschlag von Laumann anschaut, wie eine Neukonzeption des Pflege-TÜV erfolgen soll, dann wird schnell erkennbar, dass die von Fricke kritisch beschriebene Konstellation fortgeschrieben und sogar angereichert werden soll um „Verbände der Pflegebedürftigen und der Pflegeberufe“, was die Komplexität weiter erhöhen würde.

An dieser Stelle sei der Hinweis erlaubt, dass eine fundamentale Infragestellung des Systems der Pflegenoten keine neue Erkenntnis ist, sondern wertvolle Zeit für einen anderen Ansatz verloren wurde. Am 31. März 2011 veröffentlichte der bekannte Pflegeexperte Thomas Klie ein Moratorium Nein zu Pflege-Noten mit 10 Argumenten. Daraus nur einige Aspekte:

»Die Qualitätsprüfungen und die Pflegenoten sollen auf wissenschaftlich fundierter Basis ermittelt werden – so der Gesetzgeber. Selbst die Pflegekassen gestehen ein, dass es derzeit keine validen Grundlagen für Qualitätsindikatoren hinsichtlich der Ergebnisqualität in der Pflege gibt … Über die Kriterien in den Transparenzberichten und die Pflegenoten sollen sich Pflegekassen und Pflegeheime und -dienste verständigen. Sie sind Pflegesatzparteien. Sie verfolgen jeweils auch ökonomische Interessen. Sie sind nicht die geeigneten Akteure, um unabhängig relevante Kriterien für die Lebens- und Versorgungsqualität zu definieren. Den state-of-the-art, den Stand der Künste, kann man nicht im Konsens zwischen Kostenträger, Leistungsträger und Leistungserbringer verhandeln … Es ist ordnungspolitisch falsch, die Leistungsträger, die Pflegekassen, mit der Aufgabe des Verbraucherschutzes zu betrauen. Notengebung außerhalb der Schule ist nicht Sache des Staates, sondern Sache eines unabhängigen Verbraucherschutzes. Den Pflegekassen ist in Fragen der Pflege eine hochproblematische Omnipotenz zugeordnet, die angesichts ihrer begrenzten Leistungen und ihrer fiskalischen Steuerungsinteressen unangemessen ist … Qualitätsprüfungen und insbesondere die Pflegenoten führen zu einer Aufmerksamkeitsverlagerung sowohl in den Diensten und Einrichtungen als auch in der Öffentlichkeit. Für relevant wird das erklärt, was geprüft wird. Pflegedienste und Heime lernen, wie man gute Noten erzielt, und dies unabhängig von den Qualitätseffekten für die Pflegebedürftigen. Der bürokratische Aufwand ist enorm, der Aussagewert der Pflegenoten in der Tendenz immer unbedeutsamer … Die Prüflogik führt zu einer gefährlichen Konzentration auf eine Pflege, die im Zentrum nicht mehr der Beantwortung der komplexen Situationen und Bedürfnisse Pflegebedürftiger gilt, sondern sich an den Erfordernissen von Prüfsituationen und –katalogen ausrichtet … Der bürokratische Aufwand, der mit den Qualitätsprüfungen verbunden ist, ist gigantisch. Nicht nur die Pflegedokumentation – unbestritten wichtig als professionelles Arbeitsmittel in der professionellen Pflege – wird mit Blick auf die Qualitätsprüfungen zum Zeitfresser, auch die Prüfungen selbst und die Auseinandersetzung mit den Prüfinstanzen binden Zeit und mindern die Zuwendung für den Menschen, um den es geht. Der Aufwand für die Qualitätsprüfungen und die Ermittlung von Pflegenoten steht in keinem Verhältnis zum Ertrag für die auf Pflege angewiesenen Menschen.«

Es gab also von Anfang an und frühzeitig eine fundierte mehrdimensionale Kritik an den Pflegenoten, aus der sich schon längst hätte ableiten lassen müssen, dieses System einzudampfen.

Und wieder zurück in die Gegenwart: Der von vielen sicher begrüßte Vorstoß des Pflegebeauftragten der Bundesregierung hinsichtlich einer Aussetzung der Pflegenoten zum 1. Januar 2016 und dem beschriebenen Verfahren einer Neukonzeption stößt nicht nur auf den Widerstand innerhalb der eigenen Regierung, also bei der SPD, sondern die Aufgabe eines „Systemwechsels“, der allerdings nur in Aussicht gestellt wird, weil noch gar kein anderes System entscheidungsreif vorliegt, muss bewältigt werden in einem sehr schwierigen Umfeld, in dem sich die Pflege befindet. Der Streit über den Pflege-TÜV versperrt die Sicht auf die eigentliche Reformbaustelle, meint Anno Fricke. Er sieht das eingebettet in diese Herausforderungen – wobei er Pflege nicht nur begrenzt auf die Altenpflege:

1. »Es gibt keine einheitliche Vorstellung von der Qualität, die Pflege leisten sollte. Die Aufteilung des Pflegekomplexes auf mehrere Sozialgesetzbücher verhindert Pflegepolitik aus einem Guss.« Beispiel: »Der Gemeinsame Bundesausschuss kann Qualitätssicherungsvorgaben zum Beispiel für die Dekubitusprophylaxe in Krankenhäusern beschließen, in die Altenpflege- oder Rehabilitationseinrichtungen hinein reicht sein Einfluss nicht.«

2. »Um Qualität herzustellen, bedarf es Personal, Arbeitszeit und Material. Die ersten beiden Güter sind äußerst knapp. In den Krankenhäusern verändern sich die Personalschlüssel kontinuierlich zuungunsten der Pflege.« Und die Perspektiven sind düster: »Spätestens 2018, so die Berechnungen, werde dem Pflegearbeitsmarkt die Luft ausgehen.«

3. »Den Pflege-TÜV zu streichen bringt nicht über Nacht ein neues Bewertungssystem hervor. Es ist richtig, die Gesamtnoten in Frage zu stellen … Im Gespräch ist nun, eine Gruppe von Pflegewissenschaftlern ein neues Notenschema ausarbeiten zu lassen. Mit dem nach dem Bielefelder Wissenschaftler Dr. Klaus Wingenfeld benannten Modell liegt allerdings schon eine im Feldversuch erprobte Alternative vor. Es stützt sich auf eine Reihe von Indikatoren zur Messung von Ergebnis- und Lebensqualität.« Zum Wingenfelder Modell vgl. beispielsweise die Studie Entwicklung und Erprobung von Instrumenten zur Beurteilung der Ergebnisqualität in der stationären Altenhilfe aus dem Jahr 2011.

4. »Kosten und Nutzen von Qualität in der Pflege sind höchst unterschiedlich verteilt … Von der Steigerung der Qualität hat der Anbieter jedoch nicht direkt etwas. Den Nutzen heimsen die Gepflegten und die Krankenkassen ein, die weniger Geld für Krankenhauseinweisungen und Arztbehandlungen aufwenden müssen. Hier liegt Potenzial für Wettbewerb über leistungsorientierte Vergütungen für Einrichtungen mit ausgewiesen hoher Qualität … «

Fazit: Weg mit den Pflegenoten? Experten uneins, so auch die Überschrift eines Artikels, der über eine entsprechende Anhörung im Gesundheitsausschuss des Bundestages berichtet. Während die Fraktion der Grünen die unmittelbare Aussetzung der Pflegenoten fordern, warnt der GKV-Spitzenverband vor einer Abschaffung der Noten: »Dann bestünde die Gefahr, dass Verbraucher mehrere Jahre keine Anhaltspunkte hätten, um Einrichtungen zu vergleichen. Auch der Sozialverband VdK plädierte dafür, „nicht das Kind mit dem Bade auszuschütten“. Prüfungen seien wichtig zum Schutz der Menschen.«

Wie auch immer das ausgehen wird, absehbar ist eine nächste Runde der mehr als mühsamen Erarbeitung von Prüfungskriterien in einem ähnlichen, sogar noch erweiterten institutionellen Setting, das auch schon den ersten Versuch produziert hat. Und vielleicht wird es auch zu einer stärkeren „Verstaatlichung“ dergestalt kommen, dass das Bundesgesundheitsministerium mit dem Damoklesschwert der „Ersatzvornahme“ hantieren kann.

Aber das alles verbleibt gewissermaßen im bestehenden System – und das bewegt sich in den gängigen Vorstellungen von Qualität als eine Komposition aus Struktur-, Prozess- und Ergebnisqualität. Beschränkt man sich darauf, dann wird man in der Pflege (aber auch in vielen anderen Bereichen der personenbezogenen Dienstleistungen) immer wieder mit dem dilemmatischen(?) Grundproblem konfrontiert werden, wie man denn die Ergebnisqualität abbilden kann. An dieser Stelle stehen auch andere Bereiche, hier sei nur beispielhaft auf die Diskussion über „Qualität der Krankenhausbehandlung“ hingewiesen. Dazu die Gesprächssendung Auf Herz und Nieren: Lässt sich die Qualität von Krankenhäusern messen? (SWR, 21.05.2015), u.a. mit Dr. Christof Veit, dem Leiter des Instituts für Qualitätssicherung und Transparenz im Gesundheitswesen (IQTIG), das eine wichtige Rolle in der zukünftigen Qualitätsmessung im Gesundheitswesen einnehmen soll und wird.

Man kann sicher noch mehr optimieren, genauer werden und besser messen. Keine Fragen. Aber ein Grundzweifel bleibt. Es ist erwartbar, dass die Systeme sich in diese Richtung werden entwickeln müssen – aber ist das auch wirklich anstrebenswert? Besteht nicht die Gefahr, dass die eigentlichen Qualitätsfragen dadurch gar nicht mehr gestellt, geschweige denn beantwortet werden können, weil sie nicht zugelassen sind in dem immer enger eingezäunten Gelände dessen, was wir messen?
Dieser Grundzweifel findet Nahrung in dem folgenden der zehn Punkte, die der Pflegeexperte Thomas Klie in seinem Moratorium Nein zu Pflege-Noten aus dem Jahr 2011 so formuliert hat:

»Das Konzept der Pflegenoten basiert auf einem Verständnis von Pflege als marktgängige Dienstleistung. Ein solches Verständnis von Pflege greift sowohl fachlich als auch gesellschaftlich und kulturell zu kurz. Es reflektiert nicht das, was lebensweltlich für Menschen mit Pflegebedarf individuell bedeutsam ist, was es an unterschiedlichen kulturellen Prägungen zu respektieren gilt, was im Gesetz als zu entwickelnde Kultur des Helfens verankert ist. Es sieht nicht den auf Pflege angewiesenen Menschen als Koproduzent und vernachlässigt die Qualitätsverantwortung von Angehörigen und Bürgerschaft. Pflege ist mehr als Dienstleistung. In der Pflege zeigt sich die Solidaritätsbereitschaft und Mitverantwortung von Angehörigen und Bürgerinnen und Bürgern. Die Pflegenoten reduzieren Pflege auf eine Dienstleistung, gaukeln eine Souveränität der Kunden vor und gehen an den zentralen – infrastrukturellen – Entwicklungsaufgaben vorbei.«

Die Pflege allein zu Haus. Diesseits und jenseits der auch am diesjährigen Tag der Pflege vorgetragenen warmen Worte braut sich was zusammen

Der internationale Aktionstag „Tag der Pflege“ („International Nurses Day“, eigentlich müsste man also richtigerweise von „Tag der Krankenschwestern und -pfleger sprechen) am 12. Mai wird in Deutschland seit 1967 veranstaltet. Es ist der Geburtstag von Florence Nightingale, der Begründerin der systematischen Krankenpflege. Solche mehr oder weniger sinnvollen Tage des … werden dann gerne genutzt, um den Müttern, Vätern (kommt diese Woche auch noch) oder wem auch immer seine Aufwartung zu machen und auf die Schulter zu klopfen.

Aber sie können auch einen Impuls setzen, einen etwas genaueren Blick zu werfen auf das, was da meistens als toll, wertvoll und unverzichtbar semantisch eingenebelt wird. Gerade im Bereich „der“ Pflege ist das auch wahrlich dringend angezeigt. Wobei die Anführungsstriche bereits andeuten, dass es mit „der“ Pflege gar nicht so einfach ist.

Welche Pflege meinen wir denn? Die in den Krankenhäusern oder Psychiatrien? Die in den Altenpflegeheimen oder ambulanten Pflegedienste, die wiederum nicht nur die Pflegebedürftigen nach dem SGB XI betreuen, sondern auch in die häusliche Krankenpflege nach dem SGB V involviert sind und damit die versorgen, die immer schneller aus den unter Fallpauschalenbedingungen agierenden Kliniken wieder ausgestoßen werden (müssen)? Oder meinen wir vielleicht die „24-Stunden-Pflege“ eines demenzkranken Familienangehörigen in seinem häuslichen Umfeld mithilfe einer osteuropäischen Pflege- oder Betreuungskraft? Oder die Pflege der vielen Angehörigen, die das allein machen, ohne auf professionelle Unterstützung zurückzugreifen? Bereits diese erste Annäherung verdeutlicht, dass wir es mit einem mehr als unübersichtlichen Gelände zu tun haben.

Sozialpolitisch im engeren Sinne besonders relevant sind dann beispielsweise solche Äußerungen:

»Mit eindringlichen Worten hat die Freie Wohlfahrtspflege in NRW Reformen bei der Pflege angemahnt. „Es wird einen gesellschaftlichen Knall geben», warnte der Vorsitzende der Freien Wohlfahrtspflege, Ludger Jutkeit, am Dienstag in Düsseldorf. Bis 2030 werde die Zahl der Pflegebedürftigen im bevölkerungsreichsten Bundesland nach offiziellen Behörden-Schätzungen auf 700.000 ansteigen, bis 2050 sogar auf 930.000. Unter dem Motto „Wir für Sie“ haben die Mitgliedsverbände am Dienstag eine landesweite „Initiative für eine gute Pflege heute und in Zukunft“ gestartet.
Dringend nötig sei eine Aufwertung des Pflegeberufs, forderte Jutkeit. Mehr wohnortnahe Pflegeangebote seien ebenso notwendig wie eine stärkere Einbindung von Ehrenamtlichen. „Sonst werden wir das nicht schaffen“, betonte der Vorsitzende der Freien Wohlfahrtspflege. Bereits jetzt werden knapp 580.000 kranke und alte Menschen in NRW gepflegt. Knapp ein Drittel lebt nicht mehr zu Hause, sondern in Heimen.«

Dabei ist das noch eine sehr zurückhaltend formulierte Stellungnahme mit kritischen Tönen. Aus den Reihen der Pflege selbst kommen da ganz andere Stimmen und auch die Medienberichte als gesellschaftliches (Problem-)Beobachtungssystem zeichnen überwiegend ein düsteres Bild von der Pflege. Hier nur einige Beispiele aus der aktuellen Fernseh-Berichterstattung:

Kontraste: Streit um abgelegene Dörfer für Demenzkranke (07.05.2015)
Zur Betreuung und Pflege von Demenzkranken gibt es in Deutschland erste „Demenzdörfer“. In diesen Einrichtungen soll den Erkrankten in einem Maße Sicherheit und Bewegungsfreiheit ermöglicht werden, was sie in konventionellen Heimen nicht finden. „Demenzdörfer“ liegen meist abseits, dort, wo bauen preiswert ist. Die Betreiber werden hart kritisiert: Inklusion sei da nicht möglich, die Kranken würden einfach abgeschoben. Obwohl gerade die dort alles finden, was sie brauchen.

Zu wenig Pfleger für zu viele Heimbewohner – bereits jetzt ist zu spüren, was angesichts immer älter werdender Generationen auf uns zukommt. Das Problem: Es entscheiden sich viel zu wenige Menschen für einen Job als Pflegekraft. die story stellt die Frage: Was macht diesen Job so unattraktiv? Djamila Benkhelouf und Philipp Kafsack begleiten zwei erfahrene Pflegekräfte bei ihrer Arbeit in einem Haus für demenziell erkrankte Menschen und bekommen einen intensiven Einblick in diesen emotional und körperlich extrem herausfordernden Beruf. Gleichzeitig überprüft die story die groß angekündigte Pflegereform der Bundesregierung auf deren Praxistauglichkeit und trifft eine Frau, die Deutschland verlassen hat, weil sie die miserablen Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte hier nicht mehr ertragen hat. die story will wissen: Sind die Pfleger Opfer eines völlig veralteten und falsch organisierten Pflegesystems? Und was bringt die Pflegereform tatsächlich?
Alte Menschen, die krank oder dement sind, brauchen Pflege. In Deutschland sind das zweieinhalb Millionen. Doch die Rente reicht oft nicht aus, um die Kosten zu decken, etwa eine Unterbringung im Heim. Deshalb sind heute schon 40 Prozent der Pflegebedürftigen auf das Sozialamt angewiesen. Und es werden immer mehr. Die Autoren Hauke Wendler und Carsten Rau haben gefragt: Was läuft bei der Pflege falsch? Was sollten Betroffene und ihre Angehörigen wissen?

Report Mainz: Riskante Nächte im Pflegeheim (14.04.2015)
In vielen Pflegeheimen arbeiten viel zu wenig Nachtwachen, teilweise ist eine Pflegekraft für 90 Bewohner verantwortlich. Die bayerische Pflegeministerin will das jetzt ändern.

WDR tag 7: Pflege macht arm (07.04.2015)
Sieben Jahre lang hat sie ihre schwerkranke Mutter gepflegt, rund um die Uhr. Jetzt aber, nach dem Tod der Mutter, nimmt Renate Lonn die Fäden ihres Lebens wieder auf. Sie will raus aus Hagen. Die Realität aber treibt sie ins Jobcenter, sie muss Hartz IV anmelden.

Wir sind noch gar nicht auf Betriebstemperatur beim Verlinken der aktuellen Beiträge, stoppen aber an dieser Stelle in Anbetracht des wahrscheinlichen Einwands des einen oder der anderen, dass das eben eine sehr verzerrte Wahrnehmung dessen sei, was Pflege ist, denn Medien neigen bekanntlich dazu, oft oder ausschließlich einen eher skandalisierenden, zumindest einen nur problem- bzw. defizitfokussierten Zugang zum Thema zu wählen.
Aber auch die eher wissenschaftlich fundierte Literatur ist da nur graduell – nicht aber von der Richtung – anders, natürlich mit einem höheren Differenzierungsgrad versehen. Aus der Vielzahl an Studien zu den sehr unterschiedlichen Bereichen seien hier nur neuere Arbeiten zu einem Teil des Pflegesystems exemplarisch herausgegriffen, der immer im Schatten der Pflegedebatte steht: Die zahlreichen osteuropäischen Pflegekräfte und Haushaltshilfen, die in vielen deutschen Familien dafür sorgen, dass Pflegebedürftige zu Hause versorgt werden können und (noch) nicht ins Heim müssen.
Patrycja Kniejska thematisiert in ihrer im Mai 2015 veröffentlichten Expertise die All-inclusive-Pflege aus Polen in der Schattenzone. Ergebnisse von Interviews mit polnischen Pflegekräften, die in deutschen Privathaushalten beschäftigt sind. In diesem Kontext sei auch auf die im Juli 2014 publizierte Expertise Haushaltsnahe Dienstleistungen durch Migrantinnen in Familien mit Pflegebedürftigkeit. 24 Stunden verfügbar – Private Pflege in Deutschland von Andrea von der Malsburg und Michael Isfort hingewiesen. Man muss sich an dieser Stelle darüber im Klaren werden, dass die meisten dieser Menschen in halb-legalen bzw. illegalen Verhältnissen arbeiten (müssen), die seit Jahren beklagt werden und die es mit sich bringen, dass die Betroffenen hier bei uns eigentlich – wenn es denn jemand kontrollieren würde – ständig mit einem Bein im Gefängnis stehen.

Die Politik ist seit vielen Jahren über diesen Tatbestand informiert, vergleiche dazu beispielsweise meine Ausführungen in dem bereits 2010 erschienenen Paper Abschied von einer „Lebenslüge“ der deutschen Pflegepolitik. Plädoyer für eine „personenbezogene Sonderregelung“ und für eine aktive Gestaltung der Beschäftigung von ausländischen Betreuungs- und Pflegekräften in Privathaushalten). Faktisch nutzen wir in erheblichem Umfang das immer noch enorme Wohlstandsgefälle zwischen Osteuropa und uns in Form der Beschäftigung von osteuropäischen Pflegekräften und Haushaltshilfen zu unseren Gunsten aus, aber die politischen Entscheidungsträger agieren weiterhin im Grunde nach dem Vogel-Strauß-Prinzip.  Gleichzeitig sind die betroffenen Menschen aus Osteuropa in der unguten Situation, dass sie im Regelfall alleine auf sich gestellt in Privathaushalten arbeiten, ohne dass es eine systematische Einbettung und Begleitung durch Außenstehende gibt, was selbstverständlich Ausbeutungssituationen befördert. Hinzu kommt die Tatsache, dass die Frauen in ihren Herkunftsländern erhebliche Lücken reißen, den viele von Ihnen haben kleine Kinder, die sie oft monatelang zurücklassen müssen. Außerdem fehlen viele von ihnen in den Pflegesystem ihrer Länder. Das teilen Sie dann mit den vielen Ärzten aus Osteuropa, die mittlerweile in deutschen Krankenhäusern den Zusammenbruch des medizinischen Versorgungssystems gerade in den ländlichen Regionen bei uns verhindern. 

An dieser Stelle soll ein Blick auf die mehr als heterogenen Pflegewelt geworfen – und mit einem besonderen Fokus auf die Menschen, die in der Pflege arbeiten – die Frage gestellt werden, was denn die zentrale Baustellen in der Pflegelandschaft sind. Nicht wirklich überraschend landen wir da bei einigen wenigen zentralen Entwicklungen, die wir auch aus anderen Handlungsfeldern der Sozialpolitik kennen, die aber in der Pflege – sowohl in den Krankenhäusern wie auch in der Altenpflege – massive Schneisen geschlagen haben, mit der Folge einer erheblichen Druckzunahme im Kessel.

Wenn man es auf den Punkt bringen muss, dann lässt sich sagen, dass in den beiden großen Bereichen der Pflege in den vergangenen Jahren Prozesse stattgefunden haben, die dazu führen, dass nicht nur generell davon gesprochen werden muss, dass zu wenig Pflegepersonal vorhanden ist, sondern dieses dann auch noch ständig unter Volllast-Bedingungen arbeiten muss. Man kann sich das sowohl mit Blick auf die Krankenhäuser wie auch auf die Altenheime ganz einfach verdeutlichen:
  • Anfang des Jahrtausends wurde die Finanzierung der Krankenhäuser in Deutschland fundamental umgestellt, von der bis dahin dominierenden Finanzierung über tagesgleiche Pflegesätze in zu einem Fallpauschalensystem auf DRG-Basis. Die Absicht, die mit diesem Systemwechsel damals verbunden war, wurde keineswegs verschwiegen: Es ging um eine bewusste Ökonomisierung der Krankenhäuser dergestalt, dass die Kosten der Krankenhausbehandlung dadurch gesenkt werden sollten, dass die Patienten immer kürzer zu behandeln sind und gleichzeitig auf die Kliniken ein enormer Spezialisierungsdruck ausgeübt wurde. Beide Effekte sind eingetreten – allerdings mit der für das Pflegepersonal durchaus als fatal zu bezeichnenden Folge, dass die – wie gesagt beabsichtigte – deutliche Erhöhung der Umschlagsgeschwindigkeit der Patienten dazu geführt hat, dass man in den Krankenhäusern nur noch mit pflegeintensiven Fällen konfrontiert ist und der in früheren Zeiten immer vorhandene Puffer an Patienten, die letztendlich in den letzten Tagen ihres Aufenthalts lediglich Hotellerie-Leistungen in Anspruch genommen haben, nicht mehr vorhanden ist. In der Konsequenz für das natürlich dazu, dass das Pflegepersonal permanent unter Druck arbeiten muss, weil es eine Konzentration im Sinne einer deutlichen Zunahme der Pflegeintensität gegeben hat.
  • Einen durchaus vergleichbaren Prozess haben die Altenheime in Deutschland in den vergangenen zwanzig Jahren durchgemacht. wenn man früher ein Altenheim betreten hat, dann wurde man mit einer typischen Drittel-Mischung der Bewohner konfrontiert. Ein Drittel der Menschen waren noch so fit, dass sie im wesentlichen nur auf Hotellerie-Leistungen angewiesen waren  Und in unterschiedlicher Art und Weise durchaus am gesellschaftlichen Leben innerhalb des Heims teilnehmen konnten. Ein weiteres Drittel der Bewohner war normal und das andere schwer pflegebedürftig. Wenn man heute in ein Pflegeheim in Deutschland kommt, dann wird man mit einer ganz anderen Konstellation konfrontiert: Das durchschnittliche Heimeintrittsalter liegt bei über 85 Jahren und die meisten Bewohner sind in der Pflegestufe zwei oder drei und der Anteil der Demenz Kranken beläuft sich oft auf über 60 %. Wir sehen etwas, was der Heimkritiker Klaus Dörner als „Konzentration der Unerträglichkeit“ für beide Seiten im Pflegeprozess, also für die Bewohner wie auch für die Pflegekräfte, bezeichnet hat. Eine – wohl gemerkt aus Sicht der Institutionen und der dort arbeitenden Menschen – „gesunde“ Mischung der Bewohnerschaft ist heute nicht mehr gegeben. Auch hier haben die Pflegeintensität und die damit verbundenen Belastungsprofile ganz enorm zugenommen. 
Insofern kann man – summa summarum – die an vielen Stellen von den Pflegekräften vorgetragenen Klagen über eine dauerhafte Überlastung absolut nachvollziehen. Angesichts der deutlichen Verschiebung der Grundgesamtheit ihrer „Kunden“ in Richtung auf schwerere Fälle bringt es mit sich, dass immer mehr Pflegekräfte im wahrsten Sinne des Wortes „auf dem Zahnfleisch gehen“.
Was wäre die eigentliche Konsequenz, die man aus einer solchen Situation beziehen müsste? Natürlich, die Gewerkschaften als Vertreter der Arbeitnehmer müssten versuchen, die Arbeitsbedingungen des Personals (wieder) zu verbessern. Aber die in diesem Bereich zuständige Gewerkschaft Verdi bewegt sich eben nicht auf einem normalen Markt, sondern die Finanzierung der Krankenhäuser wie auch der Pflegeheime wird im wesentlichen determiniert über administriere Preise, die vom Staat bzw. den Sozialversicherungen – wenn auch formal in Verhandlungen – diktiert werden. Und wie soll beispielsweise ein Pflegeheim, dessen Gesamtkosten anteilig zu 70 % oder mehr aus Personalkosten besteht, die Vergütungen der Pflegekräfte deutlich anheben, wie es vielleicht bzw. sicher angebracht wäre, wenn die so genannten „Kostenträger“ über harte Budgetregeln eine solche Maßnahme aufgrund der begrenzten Refinanzierung gar nicht zulassen.

Gerade in solchen Systemen zeigt sich die besondere Bedeutung und Sinnhaftigkeit von – idealerweise auf fachwissenschaftlicher Basis kalkulierter – Standards, beispielsweise einer konkreten Verpflichtung, bestimmte Personalschlüssel zu realisieren. Gerade im Krankenhausbereich wird darüber seit vielen Jahren erbittert diskutiert und gestritten. Und natürlich versucht die Krankenhaus-Seite jeden Vorstoß in diese Richtung abzublocken und zu verhindern.
Aber wir sehen erste zarte Pflänzchen des Widerstands gegen die ständige Verweigerungshaltung hinsichtlich der angesprochenen Standards der Personalausstattung. Vgl. dazu mit Blick auf die Krankenhäuser den Diskussionsbeitrag Personalbesetzungsstandards für den Pflegedienst der Krankenhäuser: Zum Stand der Diskussion und möglichen Ansätzen für eine staatliche Regulierung von Michael Simon aus dem vergangenen Jahr oder auch die Studie Instrumente zur Personalbemessung und ‐finanzierung in der Krankenhauspflege in Deutschland von Dominik Thomas, Antonius Reifferscheid, Natalie Pomorin und Jürgen Wasem.
Auch die Beschäftigten selbst haben in jüngster Zeit die Initiative in diesem Bereich ergriffen und das, was beispielsweise an der Charité in Berlin abgelaufen ist, kann gar nicht hoch genug bewertet werden: »Die Krankenschwestern und -pfleger gehen auf die Barrikaden: Sie wollen kommende Woche streiken. Es geht ihnen nicht um mehr Geld, sondern um mehr Personal auf den Stationen«, so  Jörn Boewe und Johannes Schulten in ihrem Artikel Diagnose: Heilung kaum mehr möglich. Da wurde im Vorfeld über den damals noch geplanten Streik der Pflegekräfte an der Charité berichtet. Und die Forderung hinter der damaligen Streikandrohung geht so:

»Es ist ein ungewöhnlicher Ausstand. Denn es geht dabei nicht um mehr Geld, sondern um mehr Personal auf den Stationen. Eine Pflegekraft soll auf einer Normalstation nicht mehr als fünf Patienten betreuen, auf Intensivstationen zwei, fordert die Gewerkschaft Verdi. Nachts soll niemand mehr allein auf einer Station eingesetzt werden. Derzeit betreut eine Pflegekraft an der Charité im Schnitt zwölf Patienten.«

Und die Pflegekräfte haben durchaus konsequent ihr Anliegen vorangetrieben: „Gravierender Warnstreik“ an der Charité – 400 Operationen fallen aus, so eine der vielen Schlagzeilen. »Der Charité-Ausstand ist im Kern ein politischer Streik – er fordert nicht nur die Universitätsklinik, sondern das Gesundheitswesen heraus. Zu Recht«, so die Kommentierung von Hannes Heine unter der Überschrift Ein krankes System:

»Manchmal macht eine Handvoll engagierter Männer und Frauen einen Unterschied, der bald Hunderttausende, mittelbar gar Millionen betreffen wird. Als am Montag der Streik an der Charité begann, könnte das so ein Moment gewesen sein: Die Schwestern und Pfleger der Universitätsklinik legten die Arbeit nicht etwa nieder, weil sie mehr Lohn wollten – obwohl viele von ihnen auch damit einverstanden wären. Die Streikenden fordern hingegen mehr Kollegen auf den Stationen. Sie wollen nachts nicht mit 25 Patienten allein sein, sie wollen mit Schwerkranken reden, ohne gleich zum nächsten Patienten hetzen zu müssen, sie wollen Überstunden abbauen, statt anzuhäufen. Kurz: Sie wollen ein anderes Gesundheitssystem.«

Und er fügt an: »Bislang ist es nur den Ärzten gelungen, aus den gedeckelten Töpfen mehr zu erkämpfen. Die Pflegekräfte aber werden kaum irgendwo in der westlichen Welt so verheizt wie in Deutschland. Selbst in den USA gehen Kliniken pfleglicher mit ihrem Personal um.«
Und auch in der Altenpflege geht es immer wieder und immer stärker um dieses eine Thema: mehr Personal ist erforderlich.

Warum aber tut sich dann so wenig? Neben vielen anderen Aspekten muss man schlichtweg zur Kenntnis nehmen, dass das Arbeitsfeld, in dem sich die Pflegekräfte bewegen, eben nicht vergleichbar ist mit einer Automobilfabrik bei Daimler oder VW, die man durchaus lahmlegen kann durch eine Streikaktion, ohne dass deshalb die Republik zum Stillstand kommt oder neben den Schäden für die Arbeitgeber irgendwelche weiteren Auswirkungen auf die Bürger zu beobachten sind. Denn, seien wir ehrlich: Ein Streik in einem Pflegeheim ist erst einmal eine apokalyptische Vorstellung für die Betroffenen, die ja 24 Stunden am Tag den Pflegekräften im positiven wie negativen Sinne ausgeliefert sind. Und auch viele Pflegekräfte äußern genau an dieser Stelle ihre Vorbehalte bzw. ihrer Ablehnung von „klassischen“ Streikaktionen.
Vor diesem Hintergrund werden viele Pflegekräfte überaus aufmerksam den derzeit laufenden und mittlerweile unbefristeten Streik der Erzieher/innen in den kommunalen Kindertageseinrichtungen beobachten und verfolgen. Denn die sind mit den gleichen Problemen konfrontiert, die wir auch in der Pflege antreffen. Sollte es den Gewerkschaften Verdi und GEW gewinnen, die streikenden Erzieherinnen zu einem halbwegs akzeptablen Tarifergebnis zu führen, dann wird sich über kurz oder lang auch und gerade bei den Pflegekräften, die in teilweise noch desaströseren  Arbeitsbedingungen fest hängen, ein großer Arbeitskampf entwickeln, um anzuschließen an die neuere Entwicklung bestimmter Berufe oder Branchen, denen es nicht nur, aber auch aufgrund ihrer Streikfähigkeit gelungen ist, der Gegenseite zu signalisieren, dass man eben nicht mehr alles mit ihnen machen kann.
Der Pflege bzw. korrekter: den Menschen, die pflegen,  wäre genau das wirklich zu wünschen.

Teilkasko-Dilemmata: Die Pflege zwischen steigenden Heimkosten und Eltern, die ihre Kinder brauchen bzw. die von den Sozialämtern gebraucht werden

Bewohner von Pflegeheimen müssen immer mehr selbst zahlen, so Timot Szent-Ivanyi in seinem Artikel Kosten für Pflegeheime steigen deutlich. Dabei sind die Leistungen aus der Pflegeversicherung doch erst zum 1. Januar 2015 angehoben worden. Aber die Heimbewohner  müssen mehr aus der eigenen Tasche bezahlen als vor dem Inkrafttreten der Reform. Das zumindest zeigen Berechnungen des Verbandes der privaten Krankenversicherung (PKV). Die Zahlen aus der PKV-Pflegedatenbank gelten für alle Versicherten, da die private und die gesetzliche Pflegeversicherung die gleichen Leistungen haben. Szent-Ivanyi berichtet über die Situation am Beispiel der rund 380 Pflegeheime, wobei die Daten auch zeigen, dass die durchschnittlichen Heimkosten in der Hauptstadt über dem bundesdeutschen Durchschnitt liegen. Die Ursache für die steigenden Eigenbeträge der Pflegebedürftigen ist einfach: Die Kosten für einen Heimplatz steigen stärker als die Leistungen aus der Pflegeversicherung. »Die wachsenden Eigenanteile bestätigen einen längerfristigen Trend: Die Leistungen der Pflegeversicherung werden schleichend entwertet, weil die Kosten stärker steigen als die Zuweisungen aus der Pflegeversicherung. Berechnungen haben ergeben, dass die Leistungen seit Einführung der Pflegeversicherung im Jahre 1995 mehr als 25 Prozent an Wert verloren haben. Auch die zum 1. Januar diesen Jahres erfolgte Erhöhung der Zahlungen um vier Prozent hat den Wertverfall nicht stoppen können«, bilanziert Timot Szent-Ivanyi.

Man kann das angesprochene Auseinanderlaufen von Heimkosten und Leistungen aus der Pflegeversicherung am Beispiel von Berlin verdeutlichen:

»Zum 1. Januar 2015 wurden mit der Pflegereform die Zuweisungen für einen Heimplatz je nach Pflegestufe zwischen 41 und 62 Euro angehoben. In der höchsten Pflegestufe III werden derzeit beispielsweise 1.612 Euro gezahlt. Die durchschnittlichen Heimkosten kletterten jedoch stärker, und zwar abhängig vom Pflegebedarf zwischen 56 und 77 Euro. Wer die Pflege nach der Stufe I benötigt, muss derzeit in Berlin für einen Heimplatz im Schnitt 2.756 Euro zahlen. In Stufe II sind 3.336 Euro fällig, in Stufe III 3.750 Euro. Im Bundes-Schnitt sind die Heime jeweils rund 300 Euro billiger.
Damit steigen die Anteile, die die Hilfebedürftigen in Berlin selbst aufbringen müssen, trotz verbesserter Pflegeleistungen an. Der Eigenanteil in Pflegestufe I wächst um rund 15 Euro auf 1.692 Euro, in der Stufe II um 18 Euro auf 2.006 Euro und um 15 Euro auf 2.138 Euro in der Stufe III.«

Das sind erhebliche Beträge, die natürlich bei vielen Menschen weit über dem liegen, was sie an Renten haben. Kann ein Pflegebedürftiger diese Beträge nicht aus seinen Alterseinkünften und/oder seinem Vermögen zahlen, ist er auf Sozialhilfe angewiesen. Die Sozialämter können sich das Geld bei den Kindern zurückholen, womit wir schon bei der nächsten großen Baustelle wären.

Kathrin Gotthold greift dieses in den vor uns liegenden Jahren mit Sicherheit an individueller Betroffenheit und gesellschaftlicher Brisanz gewinnende Thema in ihrem – etwas reißerisch überschriebenen – Artikel So riskieren Eltern die Existenz ihrer Kinder ausführlich auf.

»2,63 Millionen pflegebedürftige Mitmenschen gab es bereits Ende 2013 in Deutschland. Das sind 125.000 mehr als 2011 – ein Anstieg um fünf Prozent. Im Jahr 1999 zählte Deutschland noch rund zwei Millionen Pflegebedürftige. Prognosen zufolge steigt ihre Zahl bis 2050 um weitere rund zwei Millionen.«

Gotthold bezieht sich dabei auf die aktuellsten Daten der Pflegestatistik 2013, deren Deutschlandergebnisse vom Statistischen Bundesamt vor kurzem veröffentlicht worden sind. Für das Thema hier besonders relevant: 764.000 Pflegebedürftige, das sind 29% aller Pflegebedürftigen, wurden vollstationär in 13.000 Pflegeheimen mit 675.000 Beschäftigten betreut.

Können Eltern im Alter die Kosten für die Pflege oder die Heimunterbringung nicht mehr aufbringen, wendet sich das Sozialamt an die Kinder. Und dann merken erst viele, dass es nicht nur eine Unterhaltsverpflichtung der Eltern gegenüber ihren Kindern gab, sondern es gibt auch den umgekehrten Weg, den „Elternunterhalt“ nach § 1601 BGB – und immer mehr Sozialämter gehen konsequent diesen Weg, um sich ein Teil der steigenden Ausgaben für die Hilfe zur Pflege von den Kindern wieder zurückzuholen und diese an der Finanzierung vor allem der teuren Heimkosten zu beteiligen. Dabei kann nicht nur auf das Einkommen der Kinder zurückgegriffen werden, sondern abzüglich bestimmter Schonwerte auch auf deren Vermögen. So kann das Sozialamt verlangen, dass Kinder ein Ferienhaus oder auch ein unbebautes Grundstück verkaufen. Sicher geschützt ist hingegen das selbst genutzte Familienheim. Unterhaltspflichtig sind nur die Kinder des Berechtigten. Schwiegerkinder sind davon nicht betroffen (BGH, Urteil vom 14.01.2004, Az. XII ZR 69/01). Aber das ist dem Grunde nach nicht begrenzt auf die eigenen Eltern: Grundsätzlich besteht nach dem Gesetz auch eine Unterhaltspflicht der Enkel gegenüber ihren Großeltern. Weil die näheren Verwandten gemäß § 1606 Abs. 2 BGB vor den entfernteren Verwandten haften, müssen Enkelkinder für den Unterhalt der Großeltern aber nur dann zahlen, wenn deren Kinder selbst nicht verpflichtet sind, weil ihr Einkommen und Vermögen zu gering sind.

»Ein im Pflegeheim untergebrachter Elternteil hat Anspruch auf Unterhalt in Höhe der notwendigen Heimkosten zuzüglich eines Barbetrags für die Bedürfnisse des täglichen Lebens (BGH, Urteil vom 19.02.2003, Az. XII ZR 67/00). Letzterer beläuft sich nach § 27b Abs. 2 S. 2 SGB XII derzeit auf mindestens 107,73 Euro im Monat. Die Summe soll die Aufwendungen für Körper- und Kleiderpflege, Zeitschriften, Schreibmaterial und den sonstigen Bedarf des täglichen Lebens decken. Häufig geht der Sozialhilfeträger zunächst in Vorleistung und holt sich das Geld dann von den Kindern zurück. Die zuständige kommunale Behörde macht laut § 94 SGB XII den Anspruch des Heimbewohners seinen Kindern gegenüber geltend und hat auch das Recht, von diesen Auskunft über ihre Einkommens- und Vermögensverhältnisse zu verlangen«, so Britta Beate Schön in ihrem Beitrag Unterhalt von Kindern für ihre Eltern. In einem ersten Schritt wird das bereinigte Nettoeinkommen der Kinder berechnet und davon dann der Selbstbehalt abgezogen nach Maßgabe der Düsseldorfer Tabelle. »Dem Unterhaltspflichtigen steht seit dem 1. Januar 2015 ein Selbstbehalt von 1.800 Euro und für den Ehepartner von 1.440 Euro pro Monat zu. Der Familienselbstbehalt beläuft sich damit derzeit monatlich auf 3.240 Euro. Hinzu kommen Freibeträge für eigene Kinder, die sich ebenfalls nach der Düsseldorfer Tabelle richten.« Und dann kommt die entscheidende Vorschrift: »Tatsächlich an Unterhalt zahlen müssen Kinder von diesem bereinigten und um den Selbstbehalt verminderten Nettoeinkommen die Hälfte.« Beispiel: »Bei einem bereinigten Nettoeinkommen von 2.000 Euro und einem Selbstbehalt von 1.800 Euro ergibt sich ein Unterhaltsanspruch in Höhe von 50 Prozent von 200 Euro, also 100 Euro im Monat.«

Kathrin Gotthold befürchtet in ihrem Artikel eine „Welle von Pflegeverweigerern“ auf die deutschen Gerichte zurollen. Dabei ist eine grundsätzliche Verweigerung des Elternunterhalts nach der bereits vorliegenden Rechtsprechung nur auf wenige, sehr eng abgegrenzte Fallkonstellationen beschränkt. Dazu Britta Beate Schön in ihrem Beitrag: »Elternunterhalt kann nur durch schwere Verfehlungen gegen das Kind nach § 1611 BGB verwirkt werden. Das ist jedoch auf Ausnahmefälle beschränkt (BGH, Urteil vom 15.09.2010, Az. XII ZR 148/09). Eine schwere Verfehlung liegt selbst dann nicht vor, wenn der Vater den Kontakt zu seinem Kind seit 40 Jahren abgebrochen hat und ihn durch Testament bis auf den gesetzlichen Pflichtteil enterbt hat (BGH, Urteil vom 12.02.2014, Az. XII ZB 607/12). Das Kind musste trotzdem zahlen.«

Wenn man sich vor Augen führt, in welchem Ausmaß in den vor uns liegenden Jahren die Zahl der Pflegebedürftigen ansteigen wird und wie viele Menschen darunter sein werden, bei denen die Lücke zwischen dem, was sie aus der eigenen Rente, geringem bis gar nicht vorhandenen Vermögen und den Leistungen aus der Pflegeversicherung zur Abdeckung der Pflegekosten beitragen könnten, und den erwartbar weiter stark ansteigenden Pflegekosten erheblich sein wird, dann muss man keine Studie machen, um zu erkennen, dass die Inanspruchnahme der Kinder über den Elternunterhalt erheblich an Bedeutung gewinnen wird. Und damit zwangsläufig auch die Konfliktintensität, die hier grundsätzlich begründet liegt. Wenn es auch – wie bereits dargelegt – nur sehr wenige Möglichkeiten gibt, sich dem Elternunterhalt zu entziehen, werden dennoch die Gerichtsverfahren deutlich zunehmen, da die Betroffenen mit den Sozialämtern über die konkrete Festlegung der Unterhaltsverpflichtung streiten werden. Dafür werden alleine die vielen Rechtsanwälte sorgen, die sich auf dieses Themenfeld bereit spezialisiert haben bzw. das tun werden. Allerdings gibt es auch Möglichkeiten, wenn man denn zahlen muss, den Staat an den dann zu übernehmenden Pflegekosten zu beteiligen, in dem man diese steuerlich geltend macht (vgl. hierzu den Beitrag So beteiligen Sie den Staat an den Pflegekosten von Barbara Brandstetter).

Darüber hinaus ist das Thema von einer grundsätzlichen sozialpolitischen Bedeutung, zeigt sich an dieser Stelle doch erneut, was es bedeutet, dass die Pflegeversicherung eine Teilkaskoversicherung ist, also eben gerade nicht die gesamten Kosten der Pflegebedürftigkeit, sondern diese nur anteilig abdeckt.

Die scheinbar einfachste Möglichkeit des Umgangs mit dem erwartbar ansteigenden Problemdruck wäre eine Dynamisierung der Leistungen aus der beitragsfinanzierten Pflegeversicherung an die Entwicklung der Pflegekosten, vor allem der Heimkosten. Eine solche Regelung ist nicht nur aus Gründen der Budgetbegrenzung relativ unwahrscheinlich. Sie würde auch zu nicht-trivialen Verteilungseffekten führen, denn von einer Anhebung der Leistungen der Pflegeversicherung würden eben auch und gerade diejenigen profitieren, die über höhere Einkommen und Vermögen verfügen, die sie dann nicht mehr zur Gegenfinanzierung der Pflegekosten einbringen müssten.
Wieder einmal zeigt sich an diesem Beispiel die gleichsam doppelte Bedeutung der Kinder: Zum einen stellen sie die Beitragszahler in der umlagefinanzierten Pflegeversicherung und sorgen damit auch für die Aufbringung der Mittel für die Kinderlosen. Und dann werden sie im Bedarfsfall und bei Erfüllung der Voraussetzungen auch noch ergänzend zum Unterhalt der eigenen Eltern in Anspruch genommen.

Abbildung: Verband der Privaten Krankenversicherung (PKV): Lücken der Pflegepflichtversicherung (25.04.2015)

Pflege-TÜV: Die Pflegenoten werden abgeschafft. Gut. Und jetzt?

Es war tatsächlich kein Aprilscherz, als der Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung, Staatssekretär Karl-Josef Laumann, am 1. April mitteilen ließ: »Die Pflegenoten werden durch eine gesetzliche Regelung zum 1. Januar 2016 ausgesetzt, da sie keinen echten Qualitätsvergleich zwischen Einrichtungen ermöglichen.« Weg damit. Angesichts der Tatsache, dass die bundesdeutsche Durchschnittsnote über alle Einrichtungen mit hervorragenden 1,3 ausgewiesen wird, bekommt dieses Vorhaben den Charakter einer konsequenten Entscheidung, denn was sagt denn so etwas noch wirklich aus? Haben wir wirklich paradiesische Qualitätszustände in den Pflegeeinrichtungen, was diese Bewertung nahelegt? Was ist dann mit den unzähligen Berichten über teilweise eklatante Pflegemissstände? Alles nur Ausnahmen? Wohl kaum.

Vor diesem Hintergrund wurde die Ankündigung von vielen begrüßt: Notensystem ist am Ende, so ist ein Bericht dazu in der Ärzte Zeitung überschrieben. Zugleich findet man da aber auch den Hinweis: »Das umstrittene Notensystem soll nächstes Jahr abgeschafft werden, ein neues Bewertungssystem kommt aber nicht vor 2018.« Als „Übergangslösung“ wird eine gesetzliche Regelung in Aussicht gestellt, nach der Kassen und Pflegeeinrichtungen die Prüfergebnisse des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherungen in der bisherigen Form weiterhin veröffentlichen sollen, allerdings ohne die viel kritisierte Durchschnittsnote. Man kann an dieser Stelle schon die Frage aufwerfen, warum das Notensystem erst zum 1. Januar 2016 eingestellt und nicht sofort suspendiert wird.

2009 wurde das Notensystem eingeführt. Und steht seitdem in der Kritik. »Das System ermöglicht  selbst Heimen mit erheblichen Mängeln, eine gute Gesamtnote zu erzielen. Denn die Dutzenden Kriterien zur Notenvergabe sind untereinander nicht gewichtet«, so Berit Uhlmann in ihrem Artikel Pflegenoten werden wieder abgeschafft. Es geht immerhin um 77 Einzelwerte, die in einen Topf geworfen werden. »Die Spitzennoten kommen zustande, weil pflegerische Mängel zum Beispiel durch gute Küche und Freizeitangebote ausgeglichen werden können. Erst im Februar war in Bonn ein Pflegeheim wegen unhaltbarer Pflegemängel geschlossen worden, das mit einer Einser-Note für sich werben konnte«, so Anno Fricke in seinem Artikel. Ein anderes Bild: »Es wirkt so, als hätte der Bundestag vor mehr als 50 Jahren die Stiftung Warentest mit der Vorgabe aus der Taufe gehoben, nie ein Produkt schlechter als gut zu bewerten«, verdeutlicht Anno Fricke in dem Artikel Eine Ad hoc-Reform überfordert das System.
Aber was soll an die Stelle dessen gesetzt werden, was bislang über den Pflege-TÜV mit Notensystem erreicht werden sollte?

Eine der Lebensweisheitsempfehlungen lautet: Wenn man nicht mehr weiter weiß, dann gründet man einen Arbeitskreis. Offenbar will man diesem Motto auch diesmal eine Bühne geben:

»Zum 1. Januar 2016 soll ein „Pflegequalitätsausschuss“ gegründet werden, der Kriterien für künftige Heim-Prüfungen erarbeitet. In diesem Ausschuss sollen auch die Verbände der Pflegebedürftigen und der Pflegeberufe gleichberechtigt vertreten sein … Das Gremium wird bei seiner Arbeit durch ein neu zu gründendes „Pflegequalitätsinstitut“ mit unabhängigen Wissenschaftlern unterstützt. Bis Ende 2017 soll der Ausschuss seine Vorschläge vorlegen«, so Uhlmann in ihrem Artikel.

Zu dem angekündigten neuen „Pflegequalitätsinstitut“ kann man beim Pflegebevollmächtigten der Bundesregierung lesen: »Das Institut muss schlank sein und aus bereits vorhandenen Mitteln finanziert werden.«

Der Pflegebeauftragte skizziert den zu gründenden Arbeitskreis so: »Zum 1. Januar 2016 wollen wir deshalb einen Pflegequalitätsausschuss errichten, der ein neues Qualitätsprüfungs- und Veröffentlichungssystem für Pflegeeinrichtungen berät und als Richtlinie beschließt. In diesem Ausschuss müssen neben den Einrichtungs- und Kostenträgern künftig auch die Verbände der Pflegebedürftigen und der Pflegeberufe gleichberechtigt mit Stimmrecht vertreten sein.« Es geht also primär um eine institutionelle Veränderung, inhaltliche Fragen sollen an das zu schaffende Gremium delegiert werden. Aber die kurze Beschreibung offenbart natürlich auch schon eine erwartbare und aus der Vergangenheit bekannte Schwachstelle dieses Ansatzes, denn es sind vorrangig Interessenvertreter, die in dem Gremium platziert werden und dort natürlich versuchen müssen, ihre eigenen Interessen zu vertreten. Wozu das bereits in der Vergangenheit geführt hat, wird an dem folgenden Zitat erkennbar, entnommen dem Beitrag „Ungenügend“ von Udo Ludwig et al. aus der Print-Ausgabe des SPIEGEL (Heft 15/2015, S. 46):

»Der CDU-Sozialexperte Willi Zylajew plädiert dafür, beide Seiten, Kassen wie Heime, aus der Überprüfung herauszuhalten. Die Politik solle über ein neues Bewertungssystem bestimmen, „die Selbstverwaltung ist gescheitert“. Zylajew, früher in der Caritas zuständig für mehrere Pflegeheime, hatte im Jahr 2008 für die Union den Pflege-TÜV mit ausgehandelt. Vernünftige Vorschläge seien damals untergegangen, etwa die Forderung nach unangekündigten Kontrollen abends und an den Wochenenden.«

Steht so etwas wieder vor der Tür? Überraschend wäre das nicht. Ein Teil der Akteure beginnt sich bereits zu positionieren: »Der GKV-Spitzenverband will die Entwicklung eines neuen Pflege-TÜVs dominieren«, meldet die Ärzte Zeitung in einem Artikel. Ganz unbescheiden plädiert man dafür, dass »dem GKV-Spitzenverband … im Rahmen einer Richtlinienkompetenz der Auftrag erteilt werden (sollte), für die Pflegetransparenz die Kriterien der Veröffentlichung einschließlich der Bewertungssystematik zu entwickeln.« Gegen dieses Dominanzstreben regt sich natürlich sofort der Widerstand der Anbieter von Pflegeleistungen, die aus ihrer Sicht verständlich an der Entwicklung und gesetzgeberischen Definition von messbaren Qualitätskriterien beteiligt werden wollen.
Insofern überraschen solche Frontstellungen nicht, von denen der SPIEGEL berichtet:

»Interessenvertreter haben ihre Wünsche bereits formuliert. Die Pflegekassen wollen, dass der Einfluss der Heimträger beschnitten wird: Es gebe keine objektiven Noten, wenn die Kontrollierten mitentscheiden dürfen, wie und was kontrolliert wird. Die Vertreter der Pflegeheime dagegen möchten die Macht der Kassen beschneiden: Die Prüfer des Medizinischen Dienstes der Pflegekassen seien schon mächtig genug – und denen gehe es nicht um Qualität, sondern um Kostensenkung.«

Bereits im Jahr 2008 wurde der Wissenschaftler Klaus Wingenfeld von der Universität Bielefeld beauftragt, ein alternatives Bewertungsmodell zu entwerfen. 250 Pflegeheime in Deutschland wenden es heute an. »„Wir beurteilen nicht die Dokumentationsarbeit der Mitarbeiter, sondern das Ergeb- nis der Pflege, indem wir uns alle sechs Monate die Akten der Pflegeheimbewohner ansehen“, sagt Wingenfeld. Auch die Statistiken jeder Einrichtung würden ausgewertet, etwa über Stürze und Druckgeschwüre, ganz wichtig sei zudem, wie sich die Mobilität der Bewohner entwickelt habe. Am Ende stehe eine von drei Bewertungen: unterdurchschnittlich, durchschnittlich, überdurchschnittlich.« Er könne sich vorstellen, »dieses System durch Sterne zu ersetzen, wie bei Hotels. In den USA habe sich ein Fünfsternesystem bewährt.«

Wie dem auch sei und was immer als neues System auf die Welt gebracht wird – man muss sich wohl eingestehen, dass eine wirkliche Qualitätssicherung nur von innen durch eine Internalisierung bem Personal und in der Unternehmenskultur sowie zugleich durch permanente Begleitung von außen, also vor allem durch Angehörige und durch kommunale „Kümmerer“, erreicht werden kann.