Placebo-Politik im Gesundheitswesen – dafür braucht man nun wirklich keine Große Koalition

Zumindest im Wahlkampf konnte man in Spurenelementen noch so etwas wie die Systemfrage in der Gesundheitspolitik erahnen: Während die mittlerweile atomisierte FDP in Treue fest zum dualen Krankenversicherungssystem stand und auch die Interessen ihrer (vermeintlichen) Stammwähler unter den Ärzten im Blick hatte, hielten die damaligen Oppositionsparteien SPD und Grüne die Fahne der „Bürgerversicherung“ hoch – also wenigstens formal, wenn auch mit dem Gegenteil von Verve und eher nach dem Motto, das haben wir mal gefordert und dann müssen wir das jetzt auch perpetuieren, wenngleich keiner mehr an eine wie auch immer geartete Realisierung zu glauben wagte.

Nun könnte man es auf der anderen Seite durchaus als Ausweis eines realistischen Pragmatismus verstehen, dass man von der Illusion einer Systemreform des Gesundheitswesens Abschied genommen hat. Zugegebenermaßen bewegt man sich im Bereich der Gesundheitspolitik im wahrsten Sinne des Wortes im bekannten Haifischbecken hoch aggressiver Akteure des Systems. Zugleich kann man es drehen und wenden wie man will – der Reformbedarf in vielen Teilbereichen des Gesundheitwesens hat ein erhebliches Ausmaß angenommen und man kann vor den anstehenden strukturellen Korrekturen und Weiterentwicklungen nicht auf Dauer davonlaufen.

Stellvertretend sei an dieser Stelle an die dringend notwendige Reform nicht nur der Krankenhausfinanzierung erinnert, sondern auch an die Beantwortung der Grundsatzfrage, ob die Vergütungssysteme zwischen dem stationären und ambulanten Bereich nicht endlich angeglichen werden müssten. Des Weiteren ist der Innovationsbedarf in Bereichen wie der Pflege sowie der flächendeckenden medizinischen Versorgung auch durch andere Gesundheitsberufe, also eine sukzessive Abkehr von der Dominanz des ärztlichen Berufsbildes im deutschen Gesundheitswesens, mit den Händen zu greifen.

Was nunmehr aber als erste Ergebnisse aus dem gesundheitspolitischen Teil der Koalitionsverhandlungen nach außen gedrungen ist, das lässt einen schon mehr als verzweifelt zurück. „Patienten sollen schneller Facharzttermin bekommen„, so meldete es beispielsweise Spiegel Online. Union und SPD wollen gesetzlich Versicherten einen Termin beim Facharzt garantieren: Innerhalb von vier Wochen soll der Besuch möglich werden. Dies beschlossen die Mitglieder der AG Gesundheit während der Koalitionsverhandlungen. Endlich wird einmal etwas für die benachteiligten Patienten der gesetzlichen Krankenversicherung getan, so kommt diese Botschafter daher und so ist sie auch gemeint. Als Botschaft. Als ein sehr billiges Ergebnis für die politisch Verantwortlichen, denn zum einen handelt es sich hierbei nur um eine Botschaft, zum anderen würde die Umsetzung  Kosten verursachen, die von Dritten zu tragen wären.

»Damit die Terminvergabe gelingt, sollen eigens Servicestellen eingerichtet werden, die die Organisation übernehmen. Wenn innerhalb der vier Wochen kein niedergelassener Facharzt gefunden ist, könne der Versicherte einen Mediziner in einer Klinik aufsuchen, … Eingerichtet werden sollen die Stellen durch die Kassenärztlichen Vereinigungen in den Ländern, gemeinsam mit den Krankenkassen. Auch die Finanzierung soll durch diese beiden Parteien erfolgen.«

Das muss man sich mal einen Moment lang vor dem inneren Auge verdeutlichen: Es gibt zigtausende Praxen von niedergelassenen Ärzten und Psychotherapeuten, die im System der kassenärztlichen Versorgung arbeiten, immer noch überwiegend als Einzelpraxis. In diesen Praxen arbeiten medizinische Fachangestellte, früher als Arzthelferinnen bezeichnet, deren Aufgabe es u.a. ist, Termine zu vereinbaren mit den Patienten, die sich direkt an ihre Praxis wenden. Und normalerweise klappt das auch. Nun müssen – wenn die Eingebung der AG Gesundheit Wirklichkeit werden sollte, was leider angesichts der offensichtlichen Vorteile für die beteiligten Politiker überaus plausibel ist – neue Servicestellen von den Kassenärztlichen Vereinigungen (KVen) und den Krankenkassen eingerichtet (und von diesen hälftig finanziert) werden, deren Aufgabe darin bestehen wird, bei den Praxen anzurufen und über die Terminvergabe zu verhandeln. Wenn in einem konkreten Fall dann keine Terminrealisierung innerhalb von vier Wochen möglich ist, dann müsste die Servicestelle andere niedergelassene Fachärzte abklappern, um herauszufinden, ob dort ein Termin frei wäre – im schlimmsten Fall ist einer frei, aber der Patient will partout zu diesem Arzt nun nicht. Dann – so der Vorschlag der Bald-Koalitionäre – können die Patienten zu einem Krankenhaus gehen und sich dort fachärztlich behandeln lassen. Wenn sie denn dort einen Termin bekommen.

Auch Peter Mücke hat in seinem Kommentar „Leider nur ein Placebo“ auf ein vergleichbares Szenraion hingewiesen bei grundsätzlicher Sympathie für den Vorstoß:

»Wie soll ein Patient beispielsweise nachweisen, dass er in der Vierwochenfrist keinen Termin bekommen hat? Muss er erst alle Fachärzte im Umkreis abtelefoniert haben? Und wäre es zumutbar, für einen schnellen Termin erst eine längere Reise, etwa in die nächste Kreisstadt, auf sich zu nehmen? Im Übrigen sind auch die Wartezeiten in den Krankenhäusern unter Umständen sehr lang.«

In dem Artikel „Kassenärzte sehen Vier-Wochen-Frist skeptisch“ wird darauf hingewiesen, dass dies auch mit budgetären Folgen für die Kassenärzte verbunden sein soll: »Eingerichtet werden sollen die Stellen durch die Kassenärztlichen Vereinigungen in den Ländern, gemeinsam mit den Krankenkassen. Ermöglicht die jeweilige Kassenärztliche Vereinigung die Terminvergabe nicht, sollen die Betroffenen stattdessen in ein Krankenhaus gehen können. Die Klinikbehandlungen müssten dann aus dem Budget der Praxisärzte bezahlt werden.«

Fazit an dieser Stelle: Wenn das so kommt, wie es hier skizziert wird, dann schafft die Große Koalition neue Arbeitsplätze – allerdings wären das genau solche Arbeitsplätze, die wir gerade nicht brauchen. Eine neue bürokratische Schicht wird aufgetragen und die Finanzierung zulasten Dritter, also aus den gedeckelten Budgets der Kassenärzte und der Krankenkassen bedeutet natürlich, dass diese Mittel abgezogen werden müssen aus dem eigentlichen Versorgungsbereich.

Unabhängig davon werden sich die Krankenhäuser grosso modo für dieses Danaergeschenk bedanken, auch wenn die Funktionäre der Kliniken in ersten Reaktionszuckungen den Vorstoß der zukünftigen Koalitionäre positiv bewerten. Sie tun das aus einer ganz bestimmten verengten Perspektive, weil sie schon immer gegen die starre Trennung der ambulanten und stationären Versorgung waren und sind und sich über diese Hintertür eine weitere Öffnung der Krankenhäuser erhoffen, die über die bereits erfolgten partiellen Durchbrüche beispielsweise bei der hoch spezialisierten ärztlichen Versorgung hinausgehen. Das ist auch grundsätzlich richtig, worauf Kritiker der ausgeprägten Spaltung in ambulant und stationär im deutschen Gesundheitswesen seit gefühlt 50 Jahren immer wieder hinweisen – allerdings, um es in aller Deutlichkeit zu sagen, wird das nur funktionieren und Sinn machen, wenn man ein Projekt herkulischen Ausmaßes anzugehen bereit wäre, nämlich die Angleichung der völlig unterschiedlichen Vergütungssysteme zwischen dem ambulanten und stationären Sektor. Davon hat man bislang aber nichts gehört aus den Verhandlungen der nächsten Bundesregierung.

In praxi würde das also bedeuten, dass die Patienten, die dann fachärztliche Behandlung in den vielerorts völlig überlasteten Krankenhäusern in Anspruch nehmen (wollen), für die Kliniken ein schlechtes Geschäft werden, denn grundsätzlich sollen sie zwar eine Vergütung bekommen, die aber aus dem Pott für die niedergelassenen Fachärzte herausgenommen und umverteilt werden muss. Diese Vergütung (Stichwort: Punktesystem) ist aber gedeckelt und die Punktwerte folglich hinsichtlich der realen Euro-Beträge flexibel. Und seien wir doch an dieser Stelle ehrlich: Bereits heute haben wir zunehmend das Problem, dass viele Patienten direkt, also ohne Umweg die Ambulanzen der Kliniken zu jeder Tages- und Nachtzeit aufsuchen, obgleich nicht wenige keinesfalls in den Klinikbereich gehören, dort aber erhebliche Ressourcen binden.

Und auch die Frage, ob es überhaupt ein nennenswertes Problem in der Versorgung gibt, sei an dieser Stelle mit einem dicken Fragezeichen versehen. So liegen z.B. aktuelle Ergebnisse der „Versichertenbefragung der Kassenärztlichen Bundesvereinigung 2013. Ergebnisse einer repräsentativen Bevölkerungsumfrage April/Mai 2013“ vor, die zumindest den Zweifel fundieren, ob wir es hier mit einem ausgemachten Problem zu tun haben – wenn auch sogleich die Einschränkung gemacht werden muss, dass es sich um die Befunde aus einer Befragung handelt, die die Kassenärzte haben durchführen lassen, also der Akteure, die erst einmal ein Interesse daran haben, alles schön zu malen. Die Kassenärzte weisen deshalb jetzt auf diese Umfrage hin, »wonach rund 80 Prozent der gesetzlich Versicherten keine Probleme mit der Wartezeit haben und Termine entweder sofort oder deutlich unterhalb von vier Wochen bekommen. Laut der im Sommer veröffentlichten Studie muss allerdings rund jeder zehnte Patient mehr als drei Wochen auf einen Termin warten. Besonders lange Wartezeiten gibt es demnach bei Kardiologen, Frauenärzten und Urologen.«

  • Eine genauere Analyse dieser Befunde würde eine differenzierte Sichtweise zwingend zur Folge haben müssen: Bei den Kardiologen haben wir wohl tatsächlich das Problem, dass es Wartezeiten gibt, weil die Nachfrage > Angebot, während bei Urologen sicher die Frage der zur Verfügung stehenden Ärzte eine gewichtige Rolle spielt. Bei den Frauenärzten kann man fast schon lehrbuchhaft nachvollziehen, was auf den Bereich der ambulanten ärztlichen Versorgung zukommen wird insgesamt, wenn das, was wir als „Feminisierung“ des Arztberufs bezeichnen, in die Versorgungsrealität eindringt: Immer mehr Frauen kommen in den niedergelassenen Bereich hinein (bei den Frauenärzten läuft das schon seit langem), sind aber eben nicht mehr bereit, wie ein „klassischer“ niedergelassener einzelkämpfender Arzt zu arbeiten, also 50 Stunden und mehr pro Woche, weil es bei ihnen eben auch um Vereinbarkeit von Beruf und Familie geht, man also nicht mehr zu diesen Arbeitseinsätzen bereit ist. Und wenn man in die Realität vieler moderner Praxen schaut, wo beispielsweise zwei oder drei Ärztinnen eine Gemeinschaftspraxis betreiben, dann haben oftmals zwar alle drei eine kassenärztliche Zulassung („Kassenarztsitz“), aber diese wird in praxi nur zu 70% oder weniger ausgefüllt, weil es anders nicht kompatibel ist mit den Zeitrastern, in denen sich die Medizinerinnen bewegen müssen. Insofern gilt dann eben die einfache Formel: Ein Kassenarzt ist nicht ein Kassenarzt, sondern kann auch ein Kassenarzt alt – x% bedeuten. Natürlich kann und muss das Auswirkungen haben auf die Kapazitäten der Patientenversorgung, wenn gleichzeitig aufgrund des Bedarfsplanungssystems die Kassensitze betreffend keine Anpassungen vorgenommen werden (können), man also unrealistischerweise von den alten Kapazitäten ausgeht.

Aber es bleibt nicht nur bei den hier äußerst kritisch bewerteten „Servicestellen“ als eine weitere zusätzliche bürokratische Schicht im Gesundheitswesen, die den Trend, immer mehr Ressourcen von den eigentlichen Kernaufgaben des Systems abzuziehen, im Ergebnis festigen und ausweiten wird.

Ein weiterer, durchaus ambivalenter Punkt der angeblichen Einigung in der Koalitionsarbeitsgruppe Gesundheit sei hier noch angesprochen:

»Um die Qualität der Gesundheitsversorgung in Zukunft besser kontrollieren zu können, soll ein neues Institut eingerichtet werden. Ähnlich dem Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) soll es ein unabhängiges Haus sein. Während das IQWiG den Nutzen und neuerdings auch die Kosten von Arzneimitteln im Blick hat, was ihm den Spitznamen „Arzneimittel-Tüv“ einbrachte, soll das neue Institut die Daten aller Krankenhäuser und Krankenkassen zusammenführen und auswerten. Mit diesen Analysen soll zum Beispiel schneller klar werden, wo ein Krankenhaus in Deutschland schlechter arbeitet, wo unnötig viele Operationen durchgeführt werden oder wo in einer Region eine bestimmte medizinische Leistung fehlt,« so der erste Spiegel Online-Artikel.

Fazit: Es wird neue Arbeit geben – vor allem für Betriebswirte und viele „eggheads“. Ob das auch sinnvoll ist, daran kann man durchaus begründet zweifeln.

Aber seien wir doch ehrlich: Das neue „Geschenk“, dass man hier den gesetzliche Versicherten scheinbar vor die Füße wirft, dient wohl eher dazu, dass die Sozialdemokraten – falls sie gefragt werden würden – auf die offensichtliche Abschreibung des Ziels einer „Bürgerversicherung“ reagieren können. Nicht einmal Schritte hin zu einer integrierten Versicherungslandschaft sind bislang an die Öffentlichkeit gedrungen. Dabei läuft gerade auch das System der Privaten Krankenversicherung (PKV) aus innersystematischen Gründen zunehmend heiß. Man wird nicht mehr lange davor weglaufen können, diese Systemfrage zu beantworten. Aber wenn der Preis für die scheinbare Macht ist, dass man weitere vier Jahre „muddling through“ betreiben will, dann wird man den wohl zahlen. Schade und versäumte Lebenszeit wird es dann trotzdem sein.

Die einen negieren ihn, die anderen spüren ihn: Ärztemangel in Deutschland zwischen Realität, Propaganda und notwendigen Fragen an die Bundesländer

Da kommt eine Menge zusammen bei der Frage „Ärztemangel“ ja oder nein – die demografische Entwicklung, die Angebotsrelationen aufgrund der Ausbildungskapazitäten an den Hochschulen, die Abwerbung ausländischer Mediziner aufgrund des Wohlstandsgefälles zwischen deren Heimatländern und Deutschland, die Abwanderung deutscher Ärzte ins Ausland, aber auch höchst diffizile Fragen der Proportionen zwischen den einzelnen Ärztegruppen (z.B. Haus- und Fachärzte), regionale Ungleichverteilungen oder die Versäulung der Tätigkeitsfelder in ambulant und stationär.

Hinzu kommt eine massive interessengeleitete Aufladung des Themenfeldes – denn der angebliche oder behauptete Ärztemangel eignet sich auf der einen Seite natürlich hervorragend, um bessere Verhandlungspositionen beispielsweise gegenüber den Krankenkassen als Kostenträger zu bekommen, so dass diese wiederum ein Interesse haben, in der öffentlichen Debatte den Eindruck zu vermeiden, es würden Mediziner in einer spürbaren Größenordnung fehlen, was sich zu einer möglichen Gefährdung der gesundheitlichen Versorgung auswachsen könnte. Denn – das wissen beide Seiten – das Thema ist in der Bevölkerung emotional stark aufgeladen mit vielen Ängsten und Bedrohungsgefühlen.

Dass die Nachfrage nach Ärzten offensichtlich größer ist als das vorhandene Angebot, scheint sich nach einem ersten Blick auf die Zahlen aufzudrängen: Die Zahl der in Deutschland berufstätigen ausländischen Ärzte ist 2012 nach Angaben der Bundesärztekammer um 15,1 Prozent auf 28.310 gestiegen. 2002 waren es noch 13.180 Ärzte. Die meisten dieser Mediziner arbeiten in Krankenhäusern.

„Es gibt inzwischen Krankenhäuser, in denen kaum noch ein Arzt richtig deutsch spricht“ – mit diesen Worten wird Samir Rabbata von der Bundesärztekammer zitiert in dem Artikel „Vermittlung von ausländischen Ärzten boomt„. Übrigens – die meisten ausländischen Ärzte kommen aus Rumänien. Ein einheitlicher Sprachtest soll bald in ganz Deutschland gelten.

Nach Angaben der Bundesärztekammer fehlt es in vielen Regionen an niedergelassenen Haus- und Fachärzten, aber auch in den Krankenhäusern sind bundesweit mehr als 6.000 Arztstellen unbesetzt. In dem Artikel wird als Beispiel Bremerhaven zitiert, wo nach Angaben eines dort ansässigen Gynäkologen  in den nächsten fünf bis zehn Jahren die Hälfte der Frauenärzte aus Altersgründen aufhören werden. Viele der von ihnen abzugebenden Praxen werden keine Nachfolger bekommen (können).

Dies verweist – neben den vielen anderen angedeuteten Ursachen für die Misere – auf einen Aspekt, auf den hier ein besonders Augenmerk geworfen werden soll: Der Nachwuchs an Mediziner/innen, der aus den Universitäten in die ärztliche Weiterbildung gelangt bzw. gelangen kann und der dann die ausscheidenden Mediziner ersetzen könnte, wenn die fachärztliche Weiterbildung erfolgreich absolviert wurde. Die Altersstruktur der praktizierenden Ärzte ist ja seit langem bekannt und man darf schon die Frage aufwerfen, ob man im Lichte dieses Wissens genügend eigenen Nachwuchs auf den Weg gebracht hat. Offensichtlich – wenn die Zahlen stimmen – nicht. Als Nadelöhr erweist sich bei der Frage nach dem „Warum“ für dieses Auseinanderfallen das Studium und die sich anschließende Weiterbildung. Die erste Abbildung zeigt die Entwicklung der Zahl der Studierenden im Studienfach Medizin an deutschen Universitäten in einer langen Zeitreihenbetrachtung seit 1975.

Man erkennt, dass es nach einer kräftigen Expansionspahse in der zweiten Hälfte der 1970er und langsam auslaufend  in den 1980er Jahre Anfang der 1990er Jahre sogar einen Rückgang gegeben hat und seit Mitte der 1990er Jahre oszilliert die Zahl der Medizinstudierenden immer um die 80.000 herum, am aktuelle Rand mit einer kleinen Steigerung. Eigentlich müssten die Studierenden-Zahlen seit einigen Jahren nach oben gehen, weiß man doch allein um die Ersatzbedarfe aufgrund der Altersstruktur der in Deutschland praktizierenden Ärzteschaft.

  • Und noch einen anderen interessanten Befund liefert uns die Abbildung, wenn man sich die Entwicklung des Geschlechterverhältnisses bei den Medizin-Studierenden anschaut. Bereits vor dem Ende der 1990er Jahre hat die Zahl der weiblichen Medizin-Studierenden die der männlichen übertroffen und seitdem geht die Schere immer weiter zugunsten der Frauen auseinander. Die erkennbare „Feminisierung“ des Arztberufs hat gewichtige Auswirkungen auf die hier relevante Bedarfsfrage, denn – ohne jede negative oder positive Bewertung – kann man sagen: Ein Arzt heute bringt aufgrund veränderter Vorstellungen beispielsweise hinsichtlich der Vereinbarkeit von Beruf und Familie nicht mehr das gleiche Arbeitsvolumen wie ein Arzt vor zehn oder zwanzig Jahren. Das kann und wird zu dem Phänomen führen, dass es bei einer gleichbleibenden oder gar steigenden Zahl an Ärzten (gemessen pro Kopf) weniger Ärztevolumen gibt.

Wer jetzt annimmt, dass aufgrund der ja bereits seit Jahren geführten Debatte über einen zumindest partiellen Ärztemangel seitens der Politik die Zahl der Studienplätze in Medizin erhöht wird, der muss grosso modo enttäuscht werden. Die Systeme reagieren nicht oder nur sehr langsam. Die zweite Abbildung zeigt die Entwicklung der Studienanfängerzahlen für Humanmedizin und der Block auf die ebenfalls dargestellten prozentualen Veränderungen gegenüber den jeweiligen Vorjahreswerten verdeutlicht zugleich, dass man tendenziell am aktuellen Rand sogar eine abnehmende Dynamik sehen muss.

Die Erklärung dafür ist relativ simpel und lässt sich zusammenfassend bilanzieren mit: „Am (fehlenden) Gelde hängt’s“. Soll heißen: Für die Hochschulsysteme sind (eigentlich) die Bundesländer alleine zuständig, damit auch für deren Finanzierung. Es ist allgemein bekannt und auch nur logisch, dass die Kosten eines Studienplatzes für Medizin ein Vielfaches der Kosten für einen anderen Studienplatz beispielsweise in den Wirtschafts- oder Geisteswissenschaften betragen. Wenn die Bundesländer sparen wollen/müssen, dann werden sie keine besonderen Anreize haben, gerade die teuren Studienplätze auch noch auszubauen. Und auch die milliardenschweren Hilfestellungen des Bundes für den Ausbau neuer Studienplätze in den Bundesländern – die so genannten „Hochschulpakte“ – setzen aufgrund ihrer Konstruktion bei der prioritären Zielsetzung, möglichst viele neue Studienplätze zu schaffen, eher einen Anreiz, diese neuen Studienangebote in den „billigen“ Studienfächern zu schaffen.

Fazit: Angesichts der jahrelangen und auch aktuell weiterhin zu beobachtenden Zurückhaltung beim Ausbau der Kapazitäten für den Mediziner-Nachwuchs wird sich das Angebotsproblem im Zusammenspiel mit den eingangs erwähnten Faktoren weiter verschärfen und das Angewiesensein auf einen Import ausländischer Mediziner perpetuieren und potenzieren – übrigens mit teilweise katastrophalen Folgen für die „Export-Länder“, denn man muss keine Studien machen, um sich vorzustellen, dass der Wegzug der Ärzte aus Osteuropa dort erhebliche Versorgungsprobleme in den dortigen Gesundheitssystemen auslöst.

Abschließend bleibt natürlich die Frage: Was tun? Hier können nur einige erste Stichworte mit Blick auf die notwendigen Weichenstellungen formuliert werden:

  • Die Kapazitäten für die Medizinerausbildung an den Hochschulen müssen erhöht werden – und das nicht nur rein quantitativ, sondern anzustreben wäre zugleich eine qualitative Weiterentwicklung der Ärzteausbildung im Zusammenspiel mit dem offensichtlichen Qualifizierungsbedarf in anderen, wichtiger werdenden Gesundheitsberufen wie der Pflege, den Physio- und Ergotherapeuten und Logopäden, um nur einige Beispiele zu nennen. Hier würde sich der konsequente Umbau in Richtung auf ein „Medical School“-Modell empfehlen, wo alle Gesundheitsberufe gemeinsam ausgebildet und für eine zusammenarbeitsorientierte Zukunft der Gesundheitsversorgung vorbereitet werden. Ganz offensichtlich damit im Zusammenhang steht die Infragestellung des bestehenden Systems der Hochschulfinanzierung und -steuerung. Die Bundesländer allein werden mit Blick auf ihre Haushaltslage und deren weitere Verengung im Kontext der „Schuldenbremse“ definitiv nicht in der Lage sein, nur den quantitativen Ausbau zu stemmen, geschweige denn den eigentlich notwendigen Umbau in Richtung auf „Medical School“-Modelle. Auch hier zeigt sich erneut die beklagenswerte Unlogik des „Kooperationsverbots zwischen Bund und Ländern, das dringend beseitigt werden muss. Allerdings sollte eine regelhafte Bundesbeteiligung an der Hochschulfinanzierung auch qualitativ mit Leben gefüllt werden, beispielsweise durch die angedeutete Ausrichtung auf neue Ausbildungskonzepte.
  • Das insgesamt immer noch erheblich pyramidal ausgerichtete Versorgungssystem mit der Fokussierung auf den Arzt muss aufgeweicht und umgebaut werden durch eine Stärkung anderer Gesundheitsberufe – das ergibt sich allein schon aufgrund der Sicherstellunsgprobleme im Gefolge des demografischen Wandels.
  • Die seit gefühlt Jahrhunderten beklagte Versäulung in ambulant und stationär muss endlich konsequent aufgebrochen werden, die Grenzen zwischen ambulanter und stationärer ärztlicher Tätigkeit müssen aufgebrochen werden. Dafür muss auch darüber nachgedacht werden, das Finanzierungssystem für die Krankenhäuser nicht nur singulär weiterzuentwickeln, sondern ein sektorübergreifendes Finanzierungssystem in den Fokus zu nehmen.

Kurzum: Es gibt viel zu tun in der neuen Legislaturperiode.