Hebammen allein gelassen. Zwischen Versicherungslosigkeit ante portas und dem Lösungsansatz einer Sozialisierung nicht-mehr-normal-versicherbarer Risiken

Man ist ja einiges gewohnt in der Gesundheitspolitik – aber die Situation der Hebammen ist ein bemerkenswertes Beispiel für eine höchst gefährliche Entwicklung, einen ganzen Berufsstand fundamental zu beschädigen. Es muss schon einiges schief laufen, wenn sogar die BILD-Zeitung mit den für sie typischen großen Buchstaben die Frage in den Raum wirft: Droht vielen Hebammen jetzt das Aus?. Es wird vor einem Zusammenbruch der freiberuflichen Geburtshilfe gewarnt und ein rasches Eingreifen der Politik gefordert. Schaut man auf die Seite des Deutschen Hebammenverbandes (DHV), dann springt einem diese Meldung entgegen: Versicherungsmarkt für Hebammen bricht zusammen!. Und der Bund freiberuflicher Hebammen Deutschlands (BfHD) titelt: Versicherungsmarkt für Hebammen bricht zusammen – Berufsstand bedroht. Hebammenverbände fordern gemeinsam: endlich politische Lösung der Haftpflichtproblematik. Was ist hier los? Gab es nicht erst Ende des vergangenen Jahres positive Nachrichten zu vernehmen? So konnte man beispielsweise Ende Dezember 2013 lesen Krankenkassen übernehmen steigende Versicherungskosten für Hebammen. »Die gesetzliche Krankenversicherung (GKV) wird die Prämienerhöhung bei den Berufshaftpflichtversicherungen für Hebammen übernehmen. Einen entsprechenden Vertrag hat der GKV-Spitzenverband jetzt mit den Verbänden der Hebammen unterzeichnet.« Und jetzt die apokalyptisch daherkommenden Nachrichten aus der Welt der Hebammen. Wie passt das zusammen?

mehr

Von Werkverträgen in der S-Klasse-Welt, einem „Unschuldslamm“ aus dem Ländle und dem SWR-Intendanten, der für eine Reportage 250.000 Euro zahlen soll, ersatzweise Ordnungshaft

Hin und wieder brauchen wir neue Kategorien: Wie wäre es mit „Unschuldslamm aus dem Ländle“? Für die Besetzung dieser Rolle hat sich kein geringerer als Herr Zetsche, Generalbevollmächtigter des Weltkonzerns Daimler, selbst ins Spiel gebracht. Aber der Reihe nach: Es heißt ja oftmals, die Mühlen der Bürokratie mahlen langsam, wenn das stimmt, dann muss es bei Daimler sehr viel Bürokratie geben. Denn konkret geht es um die im Mai 2013 in der ARD ausgestrahlte Reportage „Hungerlohn am Fließband: Wie Tarife ausgehebelt werden“, das Ergebnis einer monatelangen Recherche des SWR-Journalisten Jürgen Rose. Dort wurde berichtet, wie Werkvertragsarbeitnehmer im Untertürkheimer Mercedes-Werk eingesetzt werden. Hinsichtlich der Art und Weise der konkreten Tätigkeit gab es zahlreiche Indizien, dass es sich eigentlich um unerlaubte Arbeitnehmerüberlassung handelt. Der Beitrag und die am Tag der Ausstrahlung unmittelbar sich anschließende Thematisierung in der Sendung „Hart aber fair“ mit Frank Plasberg hatte Daimler kalt erwischt, die standen gerade kurz vor der Präsentation ihrer – sagen wir mal nicht gerade kostengünstigen – neuen S-Klasse. Schlagzeilen, dass es in den Daimler-Werken nicht nur unterschiedliche Klassen von Arbeitnehmern gibt, sondern dass dort teilweise so wenig verdient wird, dass aufstockender Hartz IV-Anspruch bestand, musste eine mehr als irritierende Wirkung entfalten. Die angesprochenen Indizien entstammen Aufnahmen mit versteckter Kamera, die der Autor der Reportage über zwei Wochen lang in dem Mercedes-Werk in Untertürkheim gemacht hat. Wie dem auch sei, der Konzern hat einige Zeit gebraucht, um in die Gänge zu kommen. Denn heute meldet die Stuttgarter Zeitung: „Daimler verklagt den SWR. Streit um Undercover-Reportage„.

Dabei schien zwischenzeitlich alles in eine andere Richtung zu gehen: In dem Artikel von Andreas Müller in der Online-Ausgabe der Stuttgarter Zeitung finden wir den folgenden Passus:

»Mit seiner Erwiderung, es habe schon alles seine Richtigkeit, drang der Konzern nur schwer durch. Später schlug er nachdenklichere Töne an: Bei den Werkverträgen dürfe man nicht „blind vertrauen“, bekannte der Personalvorstand Wilfried Porth im StZ-Interview; im Einzelfall laufe manches „nicht so, wie es vertraglich vereinbart war“. Ende 2013 kündigte der Daimler-Betriebsrat dann an, 1400 Entwickler und IT-Kräfte am Standort Sindelfingen, die bisher per Werkvertrag beschäftigt waren, würden zu Leiharbeitern aufgewertet.«

Bereits Anfang 2014 konnte man dem Artikel unter der bezeichnenden Überschrift „Weniger Werkverträge bei der Daimler AG“ von Hermann G. Abmayr entnehmen:

»“Ohne den ARD-Film ‚Hungerlohn am Fließband‘ wären wir heute bei Daimler längst nicht so weit“, sagt Christa Hourani. Die Stuttgarter Betriebsrätin war selbst einmal über einen Werkvertrag für den Autobauer tätig und setzt sich seit Jahren für Leih- und Werkvertragsbeschäftigte ein. Mit wenig Erfolg. „Doch seit Mai standen Geschäftsleitung und Betriebsrat unter Handlungsdruck“, sagt die gelernte Programmiererin. Auch der Besuch von Fahndern der „Finanzkontrolle Schwarzarbeit und illegale Beschäftigung“ habe Wirkung gezeigt, ergänzt der Techniker Georg Rapp, der früher mit einem Werkvertrag in der Entwicklung gearbeitet hat und jetzt ebenso fest angestellt ist. Nach den Publikationen in Folge der ARD-Enthüllung trauten sich betroffen Leiharbeiter und Leihingenieure ihr Rechte einzufordern oder vor dem Arbeitsgericht auf Festanstellung zu klagen. In zwei Stuttgarter Fällen klagte der Betriebsrat wegen illegaler Werkverträge. Und in den Daimler-Werken in Bremen, Sindelfingen und Wörth am Rhein kam es wegen drohender Fremdvergabe über Werkverträge zu kurzfristigen Arbeitsniederlegungen.«

Kurzum, der Beitrag hat eine Menge bewegt, nicht nur skandalisiert, sondern auch positive Entwicklungen eingeleitet. Und die allgemeine Anerkennung für die Reportage war groß: Jürgen Rose wurde für seine „herausragende journalistische Arbeit“ wurde mit dem Willi-Bleicher-Preis der IG Metall gewürdigt. Ein Branchenblatt mit hochkarätiger Jury wählte Rose unter die „Wirtschaftsjournalisten des Jahres“.

Und seien wir ehrlich – die Zeit geht heute sehr schnell über viele Themen hinweg und eigentlich spricht doch schon gar keiner mehr von dieser Angelegenheit.

Aber jetzt geht es wieder in eine andere Richtung. Was berichtet die Stuttgarter Zeitung nun genauer über die Klage von Daimler, die so oder so das alles wieder an die Oberfläche holen wird?

»Eine Viertelmillion Euro soll der SWR als Ordnungsgeld zahlen, wenn er die von Rose gedrehten Bilder noch einmal zeigt. Ersatzweise sei Ordnungshaft zu verhängen, „zu vollziehen an dem Intendanten“, also Peter Boudgoust. So fordert es der Autokonzern, vertreten durch den Vorstandschef Dieter Zetsche, in einer beim Landgericht Stuttgart eingereichten Klageschrift.«

Der Artikel beschreibt dann weiter, worum es im Detail geht.

Als Verfasser dieses Beitrags bin ich insofern befangen, da ich selbst in der Reportage mit mehreren arbeitsmarktlichen Einordnungen auftauche. Gerade zu der Frage, die wohl, so der Artikel der Stuttgarter Zeitung, im Mittelpunkt des Verfahrens stehen wird:

»Vor Gericht dürfte es vor allem um die Frage gehen, ob die Reportage überhaupt Missstände aufgedeckt hat und welche Qualität diese hatten. Heimlich gedrehte Aufnahmen dürften nur dann verwendet werden, wenn sie rechtswidriges Verhalten belegten, argumentiert der Daimler-Anwalt; das sei aber nicht der Fall. Doch dieser Punkt ist noch keineswegs abschließend geklärt. Anhaltspunkte für „verbotene Arbeitnehmerüberlassung“ sah nicht nur der in der Sendung zitierte Arbeitsmarktforscher Stefan Sell aus Remagen; auch Daimler-Betriebsräte äußerten sich in diesem Sinne. Eine entsprechende Anzeige ging zudem bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart ein, die aufgrund des Film bereits von sich aus tätig geworden war. Bis heute – neun Monate danach – prüft die Behörde laut einer Sprecherin den Vorgang, förmliche Ermittlungen seien aber noch nicht eingeleitet worden«, so Andreas Müller in seinem Artikel „Daimler verklagt den SWR“.

Man darf gespannt sein, wie das ausgeht. Auf alle Fälle hat sich politisch zwischenzeitlich einiges getan, das Thema Werkverträge hinsichtlich seiner missbräuchlichen Inanspruchnahme wie aber auch die bei durchaus legaler Verwendung immer wieder anzutreffenden Variante der Tarifflucht ist ganz oben auf der Agenda angekommen und Handlungsbedarf wird nicht nur von irgendwelchen Außenseitern gesehen, sondern hat es bis in den Koalitionsvertrag zwischen SPD und den Unionsparteien geschafft. Das ist doch schon mal was.

Übrigens: Man kann die Reportage „Hungerlohn am Fließband. Wie Tarife ausgehebelt werden“ auf YouTube anschauen. Noch.

Die „Rentenreform“ schafft Arbeitsplätze. Bei Werbeagenturen. Ansonsten ist das noch eine große Baustelle

Eines kann man der Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles (SPD) mit Sicherheit nicht vorwerfen: dass sie sich zu viel Zeit lässt bei der Bearbeitung (bestimmter) sozialpolitischer Themen. Ganz im Gegenteil konnte man, nachdem die Große Koalition endlich die Arbeit aufgenommen hat, den Eindruck bekommen, hier werden in einem bislang nicht gekannten Tempo große „Reformprojekte“ auf den Weg gebracht. Neben dem Mindestlohn geht es dabei vor allem um die rentenpolitischen Vorhaben, also die „Rente mit 63“ sowie die „Mütterrente“. Angesichts der Komplexität der mit den angestrebten Veränderungen verbundenen Eingriffen in das Rentenrecht fast schon überfallartig wurden wir mit einem ersten Referentenentwurf konfrontiert. Nun ist es der normale Gang der Dinge, dass der Referentenentwurf der Bundesregierung in den Bundestag eingebracht wird, um dort von den Parlamentariern debattiert und verhandelt zu werden.  Es gibt ja bekanntlich den schönen Ausspruch, dass noch kein Gesetz den Bundestag so verlassen hat, wie es eingebracht worden ist. Sollte es anders sein, dann könnte man sich ja die Prozedur im Bundestag sparen.

Aber obgleich der parlamentarische Prozess noch gar nicht richtig begonnen hat, beschleunigte die Bundesarbeitsministerin gleichsam auf Überschallgeschwindigkeit und überraschte die Öffentlichkeit mit einer veritablen Werbekampagne für „Das Rentenpaket“.

Die – angeblich – frohe Botschaft, die mit dem (wohlgemerkt derzeit erst im Geburtskanal befindlichen) Rentenpaket der neuen Bundesregierung verbunden sein soll, wird bereits jetzt mit einem erheblichen Aufwand unters Volk gebracht. Dieser Aufwand lässt sich monetär sehr genau beziffern: 1,15 Millionen Euro lässt sich die Bundesregierung diese Image-Kampagne kosten. Die Kampagne ist bereits am 29. Januar, mit dem Kabinettsbeschluss zu dem ersten Referentenentwurf, gestartet worden. Und es sage keiner, die Große Koalition schaffe keine Arbeitsplätze. Für die Werbe-Agenturen gilt das mit Sicherheit nicht: »“Zum goldenen Hirschen“ kümmerte sich um die klassische Werbung, „Pixelpark“ ist für die Internetumsetzung verantwortlich und die PR-Arbeiten hat „Neues Handeln“ übernommen«, erfahren wir von Thorsten Denkler in seinem Artikel „1,15 Millionen Euro für die Rentenwerbung„. Allein für Print-, Außen und Onlinewerbung gibt das BMAS im Rahmen der Rentenkampagne fast 980.000 Euro aus. Es kann nicht überraschen, dass das nicht ohne Kritik geblieben ist.

Insofern überrascht die folgende Artikel-Überschrift nicht wirklich: „Rechnungshof prüft Nahles‘ Rentenkampagne„. Danach hat der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages einstimmig beschlossen, den Rechnungshof zu beauftragen, die hohen Ausgaben für diese Kampagne zu überprüfen.

Aber werfen wir einen Blick auf die tatsächliche Baustelle, als die man die rentenpolitischen Änderungen, die vorgenommen werden sollen, bezeichnen muss (für eine gute Übersicht über die „Rente mit 63“ und die „Mütterente“ vgl. auch die Fragen und Antworten zum Entwurf des RV-Leistungsverbesserungsgesetzes seitens der Deutschen Rentenversicherung).

Markus Wehner hat seinen Artikel zu den geplanten Rentenreformen überschrieben mit „Ente mit 63„. Er erinnert an die Entfremdung zwischen Sozialdemokratie und Gewerkschaften vor allem aufgrund der Einführung der Rente mit 67, damals vorangetrieben von Müntefering in der letzten Großen Koalition 2005 bis 2009. Er argumentiert, dass die ebenfalls geplante Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns für eine Gewerkschaft wie Verdi wichtig sei, dies aber für die großen Industriegewerkschaften wie die IG Metall und die IG BCE nicht gilt, deren Beschäftigte alle weit oberhalb des vorgesehenen Mindestlohns verdienen. Diese Gewerkschaften organisieren gut verdienende Facharbeiter und dienen kann man vor allem durch eine Absenkung des Renteneintrittsalters entgegenkommen. Die Kritik seitens der Wirtschaftsfunktionäre wie auch von vielen Wirtschaftswissenschaftlern aus dem Mainstream fokussiert auf die „Rente mit 63“. das ist natürlich nicht überraschend, denn die Anhebung des Renteneintrittsalters gehört zu den Kernkomponenten der Politik der letzten Jahre, die nunmehr – zumindestens vorübergehend – infrage gestellt wird. Interessanterweise ist die „Mütterrente“ nur am Rande oder gar nicht Gegenstand der vielen kritischen Kommentare aus dieser Ecke. Darüber wird gleich noch zu sprechen sein.
Wie viele Personen aber haben Anspruch auf die Rente mit 63? Das Arbeitsministerium gibt in seinem Gesetzentwurf die Antwort: 200.000 Personen je Jahr.  Aber ist das wirklich so?

Das Politikmagazin „Kontraste“ kommt in einem Beitrag in der Sendung am 6. Februar dieses Jahres zu einem anderen Ergebnis. Unter dem Titel „Schwarz-rote Mogelpackung: Wer profitiert von der „Rente mit 63“?“ wird die Behauptung aufgestellt, »von der vermeintlichen Wohltat profitieren gerade mal 12.000 Arbeitnehmer im Jahr, und sie gilt auch gerade mal für vier Jahrgänge.« wie kommen die zu einer solchen Zahl?

»So waren von den 829.450 Neurentnern im Jahr 2012 gerade einmal 10.555 Männer und 1.751 Frauen mindestens 45 Jahre versichert. Dennoch behauptet die Ministerin unverdrossen, gut 200.000 Arbeitnehmern würde es zukünftig besser gehen.« Unabhängig davon weist der Beitrag auf einen ganz wichtigen Aspekten, der in der bisherigen Diskussion kaum Berücksichtigung gefunden hat:

»Von der reinen „abschlagsfreien Rente mit 63“ profitieren ab Juli gerade mal vier Geburtsjahrgänge und zwar nur die von 1949 bis 52. Danach erhöht sich das Renteneintrittsalter mit jedem Jahrgang um zwei Monate. Bereits für den Jahrgang 58 müsste es deshalb „Rente mit 64“ heißen. Und für alle, die nach 1963 geboren sind, gibt es die abschlagsfreie Rente erst ab 65. Doch in diesem Alter geht das heute schon nach 45 Beitragsjahren.«

Während dieser Aspekt in der Diskussion in den vergangenen Tagen völlig untergegangen ist, dominierte eine Debatte, in der auf die Gefahren einer möglichen neuen „Frühverrentungswelle“ abgestellt wurde.  Hierbei geht es um den Tatbestand, dass auch Zeiten der Arbeitslosigkeit als Beitrags Jahre angerechnet werden sollen. Da das Arbeitslosengeld I für die Beitragsjahre zählen wird, könnten Arbeitnehmer mit 61 Jahren noch zwei Jahre ALG I beziehen, um danach die abschlagsfreie Rente mit 63 zu beziehen. Unabhängig von den Tatbestand, dass sich zwischenzeitlich eine heftige Diskussion entwickelt hat, wie man mit Zeiten umgehen soll, in denen das Arbeitslosengeld II bzw. vorher Arbeitslosenhilfe, also steuerfinanzierte Leistungen, kann hinsichtlich der grundsätzlichen Anrechnungsfähigkeit von Arbeitslosigkeit aus den Reihen der Union der Vorschlag, eine Stichtagsregelung einzuführen. „Deshalb schlägt die Union den Stichtag zum 1. Juli 2014 vor, nach dem Zeiten der Arbeitslosigkeit nicht mehr angerechnet werden“, so wird Karl Schiewerling von der CDU in dem Artikel von Wehner zitiert. Allerdings wird in diesem Artikel sogleich große Skepsis geäußert, ob das eine zulässige Variante darstellt:

»Denn durch die geplante Stichtagsregelung würden Personen aus ein und demselben Geburtsjahrgang unterschiedlich behandelt – je nachdem, ob ihre Arbeitslosigkeit vor oder nach dem Stichtag liegt. Eine solche Ungleichbehandlung wäre „ein absolutes Novum“ in der Sozialgesetzgebung, heißt es unter Bundestagsexperten. Und sie wäre mit dem Gleichbehandlungsgrundsatz des Grundgesetzes schwer vereinbar.«

Auch der DGB hat sich zwischenzeitlich zu Wort gemeldet und sieht die vorgeschlagene Stichtagsregelung äußerst kritisch: »Auch in Zukunft müssten Zeiten der Arbeitslosigkeit bei der Berechnung der notwendigen 45 Beitragsjahre voll berücksichtigt werden, zumal die Erwerbsbiografien der Jüngeren heute ohnehin viel brüchiger seien als früher«, so wird Annelie Buntenbach vom DGB-Bundesvorstand in dem Artikel „DGB gegen Stichtagsregelung bei Rente mit 63“ zitiert. Und weiter erfahren wir, was der DGB als Alternative vorschlägt:

„Wenn die Koalition tatsächlich ernsthaft in Sorge ist, dass die Rente mit 63 von den Arbeitgebern zur Frühverrentung missbraucht wird, kann sie solchen Strategien ganz einfach einen Riegel vorschieben, indem sie die Erstattungspflicht bei Entlassungen Älterer wieder einführt“, sagte Buntenbach. Unternehmen müssten dann die Sozialkosten für die zwischen dem 61. und 63. Lebensjahr in die Arbeitslosigkeit entlassenen Mitarbeiter selbst tragen. Eine solche Regelung war 2006 abgeschafft worden. Buntenbach: „Eine andere Variante wäre die Verbesserung des Kündigungsschutzes für Ältere.“

Ebenfalls konnte man in den vergangenen Wochen in der Diskussion über die geplanten Änderungen im Rentenrecht erleben, dass immer wieder die Grundsatzfrage aufgeworfen wurde, ob die Rente mit 63 wie auch die Mütterrente ein Geschenk an die ältere Generation auf Kosten der Jüngeren sei, die letztendlich die Zeche zu zahlen haben, da einerseits die zusätzlichen – erheblichen – Leistungen aus der Rentenversicherung selbst, also aus Beitragsmitteln finanziert werden sollen, andererseits aber die Jüngeren keinen Zugang zu diesen Leistungen haben werden. Ebenfalls wurde argumentiert, dass es sich gerade bei der Rente mit 63 um ein Privileg für die Männer handele, denn die meisten Frauen würden die Voraussetzungen schlichtweg nicht erfüllen können, um in den Genuss des vorzeitigen Ruhestands zu kommen.

In diesem Zusammenhang interessant ist ein Beitrag, den Ursula Engel-Kefer, bis 2006 stellvertretende Vorsitzende des DGB und bis 2009 Mitglied im SPD-Bundesvorstand, in der taz veröffentlicht hat: „Finanzbranche will Renten„, so ist der Beitrag überschrieben. Sie behauptet, dass gegenwärtig Konflikte geschürt werden zwischen Alt und Jung, Männern und Frauen, besser und schlechter Verdienenden sowie zwischen Erwerbstätigen und Erwerbslosen. »Überdeckt wird damit der Verteilungskampf zwischen Wirtschaft und Finanzbranche einerseits sowie andererseits den Arbeitnehmern und Rentnern. Die Wirtschaft will die Arbeitskosten senken, Banken und Versicherungen wollen ein größeres Stück vom Kuchen der beitragsfinanzierten gesetzlichen Altersrente für ihre Kapitalanlagen«, so Engeln-Kefer. Unabhängig von diesem Frontlinien legt Engelen-Kefer den Finger in die Wunde sowohl der „Rente mit 63“ wie auch der so genannten „Mütterrente“:

»Der jetzige Koalitionskompromiss zur Rentenreform – Mütterrente für die Wähler der CDU/CSU und 63er-Regelung für diejenigen der SPD – ist ein rentenpolitischer „Flickenteppich“, der zu Recht von allen Seiten unter Beschuss genommen wird. Und die Bundesarbeitsministerin muss sich den Vorwurf der Klientelpolitik gefallen lassen … Verlierer dieser Rentenreform sind wieder einmal die Frauen. So bringt die Mütterrente zwar ein Stück ausgleichende Gerechtigkeit. Allerdings geht diese mit neuen Ungerechtigkeiten einher: So fehlt die Anrechnung eines dritten Rentenpunktes, wie er für die nach 1992 geborenen Kinder gilt. Finanzieren müssen die Kosten von etwa 6,7 Milliarden Euro im Jahr vor allem die Beitragszahler. Erst ab 2019 sollen pro Jahr mit 2 Milliarden Euro aus Steuermitteln noch nicht einmal ein Drittel der Ausgaben beigesteuert werden. Die Verschiebemanöver zwischen der gesetzlichen Altersversicherung und dem Bundeshaushalt werden damit fortgesetzt.«

In die gleiche Richtung geht auch die Kritik der Deutschen Rentenversicherung: Sie kritisiert, dass die Mütterrente allein zu Lasten der Beitragszahler geht – und fordert deren Finanzierung aus Steuermitteln.

»Der Vorstand sieht mit Sorge, dass die geplante Mütterrente mit einem Finanzierungsvolumen bis 2030 von rund 105 Milliarden Euro nahezu ausschließlich auf Kosten der Rentenversicherung bezahlt werden soll. Damit müssten vor allem die Beitragszahler zur Rentenversicherung die Finanzierungslasten der geplanten Mütterrente tragen.
Die Anerkennung von Kindererziehungsleistungen ist aber eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die daher von allen Steuerzahlern zu finanzieren ist. Es gibt aus Sicht des Vorstands keinen Grund, weshalb die Beitragszahler auch Mütterrenten für diejenigen finanzieren sollen, die nie selbst in die Rentenversicherung eingezahlt haben (z. B. Selbständige, Ärzte, Anwälte, Apotheker, Architekten)«, heißt es in einer Stellungnahme des Vorstandes der Rentenversicherung.

Die Rentenversicherung weist aus ihrer Sicht zu Recht darauf hin, dass die Gewährung von Entgeltpunkten für die Kindererziehung nur dann zulässig sei, wenn der Bund die Kosten durch entsprechende Steuermittel trägt, war bislang auch Auffassung des Gesetzgebers. In der Begründung des bereits 1986 in Kraft getretenen „Hinterbliebenenrenten- und Erziehungszeiten-Gesetzes“ (HEZG) hieß es ausdrücklich, dass es sich bei der Anerkennung von Erziehungszeiten um eine Leistung des Familienlastenausgleichs handele, deren Finanzierung Aufgabe des Bundes sei.
Auch Ursula Engelen-Kefer kritisiert die von Bundesarbeitsministerin Nahles geplante „Rente mit 63“:

»Profitieren können von der Möglichkeit, mit 63 nach 45 Beitragsjahren ohne Abschläge in die Altersrente zu gehen, vor allem die besser verdienenden Männer mit durchgängigen Erwerbsbiografien. Allerdings müssen alle sozialversicherungspflichtigen Frauen zur Finanzierung dieser 63er-Regelung beitragen.«

Aber was schlägt sie als Alternative vor?

»Wenn es wirklich um soziale Gerechtigkeit gehen soll, muss die Rente mit 67 für alle ausgesetzt werden – zumindest so lange, bis quantitativ und qualitativ ausreichende Arbeitsplätze zur Verfügung stehen und die Betroffenen auch gesundheitlich zur Weiterarbeit in der Lage sind. Dies ist nachweislich nicht der Fall.«

Gerade die „Rente mit 63“ erhitzt die Gemüter – in die eine oder andere Richtung. Ein gutes Beispiel für die konträren Sichtweisen auf das Thema bietet die Pro-und-Contra-Thematisierung in der Süddeutschen Zeitung: »Mit ihrer Rentenreform anerkennt Arbeitsministerin Nahles die Leistung von Menschen, die sehr lange gearbeitet haben, findet Heribert Prantl. Aber sie passt nicht zu unserer alternden und schrumpfenden Gesellschaft, meint Marc Beise zur Rente mit 63.«

Das kostet (immer mehr) – aber wen? Die Pflegekosten und ihre Deckung

Das Statistische Bundesamt versorgt die Medien täglich mit vielen Zahlen. Interessanten und weniger interessanten. Darunter sind auch Daten, die es in die morgige Tageszeitung schaffen werden, als kleine Meldung, vielleicht noch garniert mit einer zielgruppengerechten Headline. „Gut“ sind dabei vor allem irgendwelche Zahlen, die ein Problem anleuchten. Wer interessiert sich schon für die Zahl der glücklich geborenen Kinder. Dann gibt es Daten, die zwar ein Problem andeuten, aber viele erkennen nicht die eigentlich Brisanz, die in ihnen verborgen ist oder diese wird unter einer auf den Augenblicksschock ausgerichteten reißerisch daherkommenden Berichterstattung eher verschüttet. Und zu dieser Kategorie gehört das, was uns die Bundesstatistiker in den ihnen eigenen staubtrockenen Worten vermitteln, wenn sie verlautbaren: »Im Jahr 2012 erhielten in Deutschland rund 439.000 Menschen Hilfe zur Pflege. Gegenüber 2011 stieg die Zahl der Empfängerinnen und Empfänger um 3,8 % … die Träger der Sozialhilfe (gaben) 2012 netto rund 3,2 Milliarden Euro für diese Leistungen aus, 4,5 % mehr als im Vorjahr.«

Die Online-Ausgabe des Focus macht daraus diese bemerkenswerte Überschrift: „440.000 Deutsche können sich keine Pflege leisten„. Und wer es noch härter braucht, der findet was beim Paritätischen Wohlfahrtsverband: „Paritätischer erklärt Pflegeversicherung für gescheitert: Fast jeder zweite Heimbewohner auf Sozialhilfe angewiesen„. Das hört sich doch alles sehr beunruhigend an. Angesichts der nun mittlerweile wirklich jedem halbwegs klar denkenden Menschen bewusst gewordene sozialpolitische Bedeutung des Themas Pflege und der nicht nur heute schon vorhandenen Probleme einer menschenwürdigen Pflege, sondern angesichts des sicheren erheblichen Anstiegs der Zahl der pflegebedürftigen Menschen lohnt ein genauerer Blick auf die Daten und die eigentliche Brisanz, die mit ihnen verbunden ist.

Beginnen wir mit einer Textkritik: Die Botschaft „440.000 Deutsche können sich keine Pflege leisten“ ist natürlich Unsinn, denn die Betroffenen haben sehr wohl eine pflegerische Versorgung bekommen. Allerdings musste eben ein Teil der dafür erforderlichen Finanzmittel aus Mitteln der Sozialhilfe gedeckt werden, weil offensichtlich die Mittel aus der Pflegeversicherung sowie die Eigenanteile der Betroffenen nicht ausgereicht haben, um die Gesamtkosten finanzieren zu können.
  • Übrigens ist auch die Zahl „440.000“ mit Vorsicht zu genießen, denn die Statistiker schreiben in ihrer Pressemitteilung selbst: »Die Angaben beziehen sich auf die Empfängerzahlen im Berichtsjahr. Nachgewiesen werden alle Personen, die während des jeweiligen Berichtsjahrs mindestens einmal Hilfe zur Pflege nach dem 7. Kapitel des SGB XII erhalten haben. Mehrfachzählungen sind möglich, wenn derselbe Hilfeempfänger nach einer Unterbrechung von mehr als acht Wochen wiederum eine Leistung erhält und folglich erneut erfasst wird.« Und weiter kann man den methodischen Anmerkungen entnehmen: »In der Statistik werden auch Angaben zum 31.12. des Berichtsjahres erhoben. Die Stichtagszahlen sind kleiner als die auf das gesamte Kalenderjahr bezogenen Daten. Am 31.12.2012 bezogen in Deutschland 339.392 Personen Hilfe zur Pflege.«

Aber das soll hier gar nicht der Punkt sein. Primär geht es um die Frage, wer die Pflegekosten zu tragen hat (und dann wie viel). Im Wesentlichen speist sich die Finanzierung aus drei Quellen: Mittel aus der (sozialen oder privaten) Pflegeversicherung, Eigenmittel der Betroffenen (also ihre Renten bzw. sonstige Einkommen und ggfs. ihr Vermögen) sowie – bei Bedürftigkeit – eben die Mittel aus der Sozialhilfe. Mit den beiden letztgenannten Quellen in einem unmittelbaren Zusammenhang sind die Finanzierungsanteile zu sehen, die von den Kindern der Pflegebedürftigen zu leisten sind, also der umgekehrte Elternunterhalt. Das können erhebliche Beträge sein, die da von den Kindern geholt werden, bevor überhaupt Leistungen aus der steuerfinanzierten Sozialhilfe fließen bzw. um bereits geleistete „Hilfe zur Pflege“-Leistungen aus der Sozialhilfe wieder zurückzuholen.


Schaut man sich die Entwicklung der Empfängerzahlen bei der Hilfe zur Pflege in einer langen Zeitreihe an, dann kann man erkennen, dass es seit den 1960er Jahren einen kontinuierlichen Anstieg der Fallzahlen gegeben hat – und damit eine entsprechende Steigerung der Ausgaben, die auf der kommunalen Ebene anfallen. Dies war ja auch eines der wesentlichen Gründe für die Diskussion und Einführung einer Pflegeversicherung. Die Kommunen sollten entlastet werden. Und die Zeitreihe verdeutlicht, dass das ja auch nach der Implementierung der Pflegeversicherung gelungen ist. Am Anfang zumindest, denn seit Ende der 1990er Jahre steigen die Zahlen der Inanspruchnahme von Hilfe zur Pflege-Leistungen wieder an. Jahr für Jahr. Die Ursachen für diese Entwicklung lassen sich schnell identifizieren: Vor allem die stationäre Pflegeinanspruchnahme erweist sich als „Kostentreiber“ für die Sozialhilfe.

Es handelt sich überwiegend bei den Sozialhilfeaufwendungen um Fälle, die mit der Heimpflege verbunden sind: »71 % der Leistungsbezieher nahmen 2012 die Hilfe zur Pflege ausschließlich in Einrichtungen in Anspruch.« Was passiert hier?
  • Zum einen könnte (und hat) das zu tun mit mehr alten Menschen, die selbst über zu niedrige Einkommen verfügen, um den notwendigen Eigenanteil bei der Deckung der Pflegekosten aufbringen zu können und bei deren Kindern nichts zu holen ist oder die keine haben. Diese Gruppe wird in Zukunft leider, aber mit Sicherheit parallel zur sich wieder ausbreitenden Altersarmut zunehmen.
  • Zum anderen erklärt sich diese Entwicklung aus der Konstruktionslogik der bestehenden Pflegeversicherung, die eine „Teilkaskoversicherung“ ist und eben nicht die Gesamtkosten der Pflege abdecken soll und kann. Erschwerend kommt ein Systemproblem dergestalt hinzu, dass die anteiligen Leistungen aus der Pflegeversicherung real seit Inkrafttreten der Pflegeversicherung an Wert verloren haben, denn es gab keine bzw. nur eine punktuelle, aber eben nicht ausreichende Dynamisierung der Leistungen.

Im „Pflegereport 2013“ der BARMER GEK kann man auf der Seite 122 die folgende Erläuterung finden: »Die Leistungen der Pflegeversicherung sind dabei deutlich geringer als die durchschnittlichen Pflegesätze. Da zudem die Hotelkosten und die gesondert in Rechnung gestellten Investitionskosten vom Pflegebedürftigen getragen werden müssen, decken die Pflegeversicherungsleistungen deutlich weniger als die Hälfte des Gesamtheimentgelts ab.« Die Verfasser des „Pflegereports 2013“ haben berechnet, wie sich im Laufe der Jahre der von den betroffenen Pflegebedürftigen aufzubringende Eigenanteil entwickelt hat.

Quelle: Heinz Rothgang, Rolf Müller, Rainer Unger: BARMER
GEK Pflegereport 2013, Siegburg 2013, S. 122
Im „Pflegereport 2013“ wird zum einen ebenfalls auf die unzureichende Dynamisierung der Leistungen aus der Pflegeversicherung hingewiesen, die eine Erklärung für die steigenden Eigenanteile der Betroffenen darstellt. Es wird allerdings auch auf strukturelle Probleme der Pflegeversicherung sowohl auf der Ausgaben- wie auch auf der Einnahmeseite hingewiesen:
»Zunächst ist die Zahl der Leistungsempfänger stark gestiegen – was weit überwiegend auf die demografischen Veränderungen zurückgeführt werden kann … Hierdurch ist es aber zu entsprechenden Ausgabeneffekten gekommen, die durch den Trend zur – für die Pflegeversicherung ausgabenintensiveren – professionellen Pflege noch verstärkt wurden« (S. 131).

Hinzu kommt: »Gleichzeitig leidet die Pflegeversicherung … unter einer anhaltenden strukturellen Einnahmeschwäche, die sich in dem geringen Wachstum der Gesamtsumme der Beitragspflichtigen Einnahmen (Grundlohnsumme) zeigt. So ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 1993 bis 2011 um insgesamt 51,5 % gestiegen, die Grundlohnsumme hingegen nur um 31,2 Prozent. Dies entspricht jährlichen durchschnittlichen … Wachstumsraten von 2,3 % (BIP) bzw. 1,5 % (Grundlohnsumme)« (S. 131). Wie die sozialpolitischen Systeme miteinander verwoben sind, kann man hier lehrbuchhaft studieren, denn Maßnahmen in anderen Systemen wie der Arbeitslosenversicherung oder der Rentenversicherung bzw. der Förderung der privaten Altersvorsorge haben teilweise erhebliche Auswirkungen auf die Einnahmeseite der Pflegeversicherung:

»Dazu kommen sozialpolitische Eingriffe, mit denen der Gesetzgeber selbst die Einnahmebasis der Pflegeversicherung geschwächt hat. So beruht das Defizit des Jahres 2000 vor allem auf einer gesetzlichen Absenkung der Beitragszahlung für Arbeitslose, die zu Mindereinnahmen der Pflegeversicherung von rund 200 Mio. € geführt hat. Ohne diesen Eingriff des Gesetzgebers hätte die Pflegeversicherung demnach 2000 mit einem positiven Saldo abgeschlossen. Ebenso ist in Zukunft damit zu rechnen, dass der Pflegeversicherung durch eine steigende Inanspruchnahme der Möglichkeit von Gehaltsumwandlungen weitere Beiträge entzogen werden« (S. 131).

Hat der Paritätische Wohlfahrtsverband also die richtige Schlussfolgerung gezogen, wenn er die Pressemitteilung zu den neuen Zahlen überschreibt mit „Paritätischer erklärt Pflegeversicherung für gescheitert„?

»Der Paritätische fordert die Einsetzung eines Runden Tisches von Politik, Pflegekassen und Wohlfahrtsverbänden, um die Pflegeleistungen neu zu organisieren. „Wir brauchen einen kompletten Neuanfang und müssen das System vom Kopf auf die Füße stellen. Wir können nicht an einem System festhalten, das nachweislich nicht funktioniert und Menschen massenhaft in Armut stürzen lässt, sobald sie pflegebedürftig werden.«

Da fühlt man sich an die jahrzehntelangen Diskussionen im Vorfeld der Installierung des letzten und jüngsten Zweigs der Sozialversicherung erinnert, denn damals hat man sich vor allem darüber gestritten, ob man ein steuerfinanziertes Leistungsgesetz oder eine letztendlich dann realisierte Sozialversicherungslösung in die Welt setzen soll. Aber was heißt heute „das System vom Kopf auf die Füße“ zu stellen? Es gibt durchaus gute Gründe, die nunmehr bestehende Finanzierung der Pflegeversicherung (nur) aus Beitragsmitteln zu kritisieren und die Frage aufzuwerfen, ob es nicht besser wäre, hier eine Steuerfinanzierung zu installieren. Aber Armut vermeiden bei der Höhe der Pflegekosten? Das würde bedeuten, das man die öffentlichen Leistungen erheblich ausweiten müsste – absolut und relativ. Der Anteil der öffentlichen Ausgaben an der Deckung der Pflegekosten liegt gegenwärtig bei 62%. Wenn man denn – der Paritätische deutet ja nur an, etwas am System verändern zu wollen – den Anteil der öffentlichen Ausgaben zu erhöhen, um die Betroffenen vor der Armut zu schützen, dann wären dafür nicht nur erhebliche Mittel erforderlich, sondern dann muss ein Systemwechsel hin zu einer (stärkeren) Steuerfinanzierung nicht nur, aber auch mit Blick auf die Lastenverteilung organisiert werden. Aber wenn man sich anschaut, wie viele Jahre nun schon die im Vergleich dazu „überschaubare“ Mehrbelastung im Gefolge der Umsetzung eines dringend erforderlichen neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs von der Politik auf die lange Bank geschoben wurde, dann darf man sich jenseits allen Wünschenswerten nicht viele Hoffnungen machen.

Fazit: Ungeachtet der seit längerem beobachtbaren „Ich stell mich mal tot“-Haltung in der Politik wird die Frage der Finanzierung der Pflegekosten immer mehr an gesellschaftspolitischer Brisanz gewinnen, denn neben einer steigenden Inanspruchnahme kommunaler Sozialhilfemittel werden wir unter status quo-Bedingungen einen deutlichen Anstieg des Rückgriffs auf die Kinder sehen, die über Einkommen und Vermögen verfügen. Neben der notwendigen Debatte, wie weit die Leistungspflicht der öffentlichen Hand gehen soll und kann (und wie stark die Einkommen und Vermögen geschont werden oder nicht) muss klar sein, dass wir in den vor uns liegenden Jahren erheblich mehr Finanzmittel in die Pflege geben müssen. Um eine halbwegs menschenwürdige Pflege organisieren zu können. Wir reden hier über „halbwegs“, nicht über mehr. Und schon das wird schwer genug werden.

Diesseits der Schweizer Berge: Ein Bundespräsident trifft auf die „wirkliche Wirklichkeit“. In Mannheim. Und wir werden uns warm anziehen müssen. Vor der Europa-Wahl

Natürlich sind die Medien voll von Berichten über den Ausgang der Volksabstimmung in der Schweiz über die Begrenzung der Zuwanderung. Die Initiative „Gegen Masseneinwanderung“ der Schweizerischen Volkspartei (SVP) ist mit 50,3 Prozent Ja-Stimmen knapp angenommen worden.  Die Differenz zwischen Gegnern und Befürwortern beträgt lediglich rund 19.500 Stimmen. Dafür wird es jetzt eine Menge Ärger geben mit der EU. Seit dem Inkrafttreten des Personenfreizügigkeitsabkommens im Jahr 2002 haben sich jährlich 80.000 EU-Bürger in der Schweiz niedergelassen. „Schweizer stimmen für Abschottung„, so lautet eine der vielen aktuellen Schlagzeilen. Interessant ist auch diese Variante „Schweizer schockieren ihre Wirtschaftsbosse„: »Vor allem exportorientierte Branchen wie der Maschinenbau oder die Elektro- und die Metallindustrie befürchten jetzt Nachteile im Handel mit der EU.« Und viele Deutsche sind davon betroffen: »Von einer Neuregelung sind vor allem auch Deutsche betroffen, die mit rund 300.000 Einwohnern einen Großteil der ausländischen Bevölkerung in der Schweiz stellen, auch wenn sich der Zuzug in den vergangenen Jahren abgeschwächt hat.« Wenn die nun knapp erfolgreiche Initiative umgesetzt wird, dann müssten sie damit rechnen, dass ihr Arbeitsverhältnis vor einer Vertragsverlängerung von den Schweizer Behörden überprüft wird.

Aber der Blick soll hier auf die Lage in unserem Land gerichtet werden, die Schweizer müssen sich erst einmal sortieren. Was gewiss ist: Von den Ergebnis der Abstimmung in der Schweiz wird mit Sicherheit ein starker Impuls für die vielen rechtspopulistischen Parteien ausgehen, die mit einer teilweise extremen Ablehnung der EU in den Europawahlkampf ziehen. Auch in Deutschland wird das Schweizer Ergebnis das Lager der Euro- und der EU-Gegner beflügeln. Im Zusammenspiel mit Entscheidungen nationaler Sozialgerichte, den Hartz-IV-Bezug für Zuwanderer betreffend, sowie der Inszenierung einer Debatte über „Sozialtourismus“ bzw. „Armutszuwanderung“ wird sich das Klima in den wenigen Wochen bis zur Europawahl im Mai sicher erheblich aufheizen. 


Unabhängig von der durchaus plausiblen Vermutung, dass eine vergleichbare Abstimmung in Deutschland wahrscheinlich ähnlich ausgefallen wäre, wird auch in unserem Land auf der einen Seite vorsätzlich (oder fahrlässig?) mit dem Feuer gespielt, andererseits dürfen reale Folgeprobleme, die aus der Zuwanderung in bestimmte Städte resultieren, nicht einfach von denen ausgeblendet werden, die als Entscheidungsträger persönlich mit diesen Folgen in aller Regel überhaupt nicht konfrontiert sind.

Der Hinweis auf das mit dem Feuer spielen bezieht sich beispielsweise auf die Ankündigung der CDU, die Zuwanderung „ins deutsche Sozialsystem“ zum Thema im Europawahlkampf zu machen. »Man müsse die Anreize für die allein durch Sozialleistungen motivierte Zuwanderung senken, heißt es im Entwurf ihres Wahlprogramms, das am Wochenende verabschiedet wurde.«  Zum einen kann so ein Schuss durchaus nach hinten losgehen, denn der eine oder der andere Wähler wird sich fragen, warum er die kleine Kopie wählen soll, wenn er stattdessen das Original haben könnte, beispielsweise die AfD. Unabhängig davon müssen diejenigen, die derzeit und bereits seit längerem an der Regierung sind, doch zur Kenntnis nehmen, dass die Rechtslage eben komplizierter ist, als man es in einem Wahlkampf  polarisierend verkaufen kann: »Grundsätzlich gelte, dass man in den ersten drei Monaten des Lebens in Deutschland keinen Anspruch auf Hartz IV habe. Es sei denn, jemand habe Arbeit oder sei selbstständig – und sei es auch nur für einen Tag«, so heißt es richtig in dem Artikel von Miguel Sanches.  Und ebenfalls nicht falsch ist die Feststellung des – immerhin Bundesinnenministers: „Das ist auch ein weites Feld für Missbrauch“. Das mag so sein, aber welche Konsequenzen hat die Feststellung, dass die derzeitige Rechtslage in dem einen oder anderen Fall von den Betroffenen dazu benutzt wird, beispielsweise über die Ausübung einer geringfügigen Beschäftigung einen Leistungsanspruch im Grundsicherungssystem zu erwerben (was nach Auffassung des Dortmunder Sozialgerichts zur Folge hat, dass ein Rechtsanspruch auf Hartz-IV-Leistungen ausgelöst wird, obgleich diese Frage seitens des Bundessozialgerichts vor kurzem erst an den europäischen Gerichtshof weitergereicht worden ist). »In ihrem Wahlprogramm fordert die CDU Maßnahmen gegen diesen Missbrauch und Schlepperbanden.« Das hört sich auf der einen Seite vielversprechend an für diejenigen, die von der Politik erwarten, dass irgendetwas gegen die vermeintliche oder tatsächliche Zuwanderung und ihren Folgen getan wird. Auf der anderen Seite  muss den Verantwortlichen doch klar sein, dass sie eine substantielle Änderung der bestehenden Rechtslage europarechtskonform nicht werden umsetzen können.
Auf der anderen Seite muss man aber auch zur Kenntnis nehmen, das vor allem die räumlich konzentrierte Zuwanderung in bestimmte Großstädte nicht ohne erhebliche Auswirkungen stattfinden kann. Darauf wurde nun der Bundespräsident Gauck aufmerksam gemacht, als er die Stadt Mannheim besuchte. Joachim Gauck war in die Mannheimer Neckarstadt gereist, um, so hat er das selbst gesagt, „der wirklichen Wirklichkeit zu begegnen“. Eine auf den ersten Blick skurrile Formulierung: „wirkliche Wirklichkeit“. Das sagt aber eine Menge. Also über „die“ Wirklichkeit. Über den Besuch des Bundespräsidenten in einer der Frontstädte der so genannten „Armutszuwanderung“ berichtet Roman Deiniger in seinem Artikel „Manchmal können nicht mal die Eltern lesen„. Mannheim steht in einer Reihe mit Dortmund und Duisburg. »Etwa 7.000 Bulgaren und Rumänen leben derzeit in der 300.000-Einwohner-Stadt, allein 2013 gab es 1.900 Neuanmeldungen.« Die nun wirklich nicht wohlhabende Stadt Mannheim versucht eine Menge, um mit den Realitäten klar zu kommen: »Es gibt „Integrationslotsen“ für erwachsene Einwanderer, es gibt die Vorbereitungsklassen und Schulsozialarbeiter für ihre Kinder.«

Der Weg in eine reguläre Klasse und eine hoffnungsvollen Schullaufbahn ist weit, das hat auch Gauck bei seiner Visite festgestellt. Dem Bundespräsidenten entfuhr der für seine Verhältnisse recht schlichte Satz: „Oh, dafür brauchen wir viele Lehrer.“ Den sollte man in Stein meißeln. Genau so ist es und je früher, desto besser. Das kann eine einzelne Stadt niemals leisten, das hätte schon längst Gegenstand eines nationalen Programms sein müssen. Man kann auch zu lange warten.
Das Problem ist doch: In vielen, den meisten Gegenden des Landes wurde noch nie bewusst ein Rumäne oder Bulgare wahrgenommen. Aber in manchen Städten ist das eben anders. Nehmen wir Duisburg als ein weiteres Beispiel für die Zuwanderung von Rumänen und Bulgaren: 
»In Duisburg leben mittlerweile rund 11.000 Bürger aus beiden Nationen, rund 600 Neuankömmlinge zählt die Stadt jeden Monat.«
Wir werden in den kommenden Wochen nicht mit der Realität der Nicht-Rumänen oder der Nicht-Bulgaren in Brandenburg oder Schleswig-Holstein konfrontiert werden, sondern die Ballung der Probleme in einigen wenigen Städten bietet hervorragendes Bildmaterial, um an viele Ängste und Abwehrneigungen appellieren zu können. Aber auch wenn man sich dieser Instrumentalisierung zu entziehen vermag, wird man nicht darum herum kommen, endlich auf ein konzertiertes Vorgehen der drei föderalen Ebenen zu drängen. 
Begreifen die Verantwortlichen eigentlich, was sich da unter und neben ihnen zusammenbraut, auch weil sie fast ausschließlich um ihre eigene Wirklichkeit kreisen und die „wirkliche Wirklichkeit“ nur hin und wieder in Form einer Stippvisite beehren?