Ein Baustein des „Rentenpakets“ der Bundesregierung ist die „Rente mit 63“. Über dieses Vorhaben wurde in den vergangenen Monaten und Wochen erbittert gestritten. Neben der Frage, ob es sich hierbei nicht lediglich um einen gut dotiertes Wahlgeschenk für die Mitglieder der Industrie-Gewerkschaften handelt, ging und geht es immer wieder auch um die Frage, ob durch die Ermöglichung des abschlagsfreien Renteneintritts ab dem vollendeten 63. Lebensjahr möglicherweise eine Frühverrentungswelle ab dem 61. Lebensjahr droht. Aber auch wenn man eine solche wie die meisten Experten nicht am Horizont aufziehen sieht, stellen sich zahlreiche „Gerechtigkeitsfragen“, die mit den Voraussetzungen der Inanspruchnahme der geplanten vorzeitigen Renteneintrittsregelung verbunden sind. Aber all die damit verbundenen komplexen Fragen scheinen sich zu erübrigen, wenn man die neuesten Vorschläge, wie sie die mittlerweile außerparlamentarische FDP vorgelegt hat, betrachtet. Es wird viele Beobachter im ersten Moment überrascht haben, dass diese Partei sogar eine „Rente mit 60“ in die Debatte geworfen hat. FDP will Rente mit 60 ermöglichen, so die Schlagzeile in der FAZ oder Liberale propagieren den Ruhestand ab 60, wie Dorothea Siems ihren Artikel in der WELT überschrieben hat. Was ist hier los? Geriert sich die APO-FDP noch fortschrittlicher als irgendwelche Sozialromantiker? Sehen wir jetzt endlich die Konkretisierung dessen, was der im Jahr 2011 agierende FDP-Generealsekretär und mittlerweile zum FDP-Parteivorsitzenden aufgestiegene Christian Linder als „mitfühlenden Liberalismus“ bezeichnet hat? Müssen sich die Oppositionsparteien jetzt warm anziehen angesichts einer anstehenden Sozialoffensive der FDP-Restpartei?
Schauen wir zuerst einmal auf das, was in den Medien über die neuen Vorschläge der FDP berichtet wird:
»Die Liberalen wollen die starre Altersgrenze in der Rente abschaffen. Jeder Beschäftigte, der das 60. Lebensjahr erreicht hat, sollte frei wählen können, wann er in den Ruhestand geht. Im Gegensatz zu der von der Regierung geplanten Rente mit 63 sollen aber nicht die Sozialkassen die Kosten eines frühzeitigen Ausscheidens tragen, sondern jeder Versicherte die Bezüge erhalten, die er sich mit seinen Beiträgen erworben hat. Wer früher aus dem Berufsleben ausscheidet, bekommt somit weniger Geld, wer später aufhört zu arbeiten, erhält nach diesem Konzept eine höhere Rente … Anders als bei der abschlagsfreien Rente mit 63, die es nur für diejenigen geben soll, die 45 Beitragsjahre vorweisen können, sieht das FDP-Modell keine Mindestanzahl von Jahren vor … Einzige Voraussetzung für die Rente mit 60 ist, dass das Einkommen aus gesetzlicher Rente plus betrieblicher und privater Altersvorsorge oberhalb des Grundsicherungsniveaus liegt.«, so Dorothea Siems in ihrem Artikel.
Das hört sich doch prima facie mehr als vernünftig an. Schon seit Jahren wird von ganz unterschiedlichen Seiten immer wieder eine Flexibilisierung des Renteneintrittsalters gefordert. In der Lebensrealität sind wir mit einer Vielzahl von ganz unterschiedlichen Fallkonstellationen konfrontiert, die es durchaus nahe legen, dass man die Frage der Entscheidung, zu welchem Zeitpunkt man in den Ruhestand übertritt, nicht mehr an starre Zeitgrenzen bindet. Und ja – dass die Definition von Zugangskriterien zu der geplanten „Rente mit 63“, wie beispielsweise der Erfüllung von 45 Beitragsjahren, in der Lebenswirklichkeit zu höchst problematischen Abgrenzungsfragen führen wird, liegt auf der Hand und ist systematisch nicht zu vermeiden. Aber wie immer im Leben sollten wir einen Blick in das Kleingedruckte werfen, um den Vorschlag der FDP richtig einordnen zu können. Denn dieser wird an zwei weitere Bedingungen geknüpft:
1.) Zum einen soll die Höhe der Rente anhand der durchschnittlichen Lebenserwartung der jeweiligen Generation berechnet werden. Die FDP plädiert also für einen „jahrgangsindividuellen Faktor“ bei der konkreten Bestimmung der Rentenhöhe. Die Zielsetzung, die mit diesem Vorschlag verbunden ist, liegt auf der Hand: Wenn die Lebenserwartung wie in den zurückliegenden Jahren weiter ansteigt, dann muss in diesem hier vorgeschlagenen System die Rentenhöhe absinken. Es kann und darf an dieser Stelle nur darauf hingewiesen werden, dass die Bestimmung der zukünftigen Lebenserwartung keine triviale Aufgabe ist. In dem Vorschlag der FDP wird so getan, als könne man die zukünftige Lebenserwartung einzelner Jahrgänge genau vorhersagen. Darüber werden Statistiker – wenn überhaupt – irritiert bis belustigt sein.
2.) Der entscheidende Punkt ist hier verborgen: »Um das Arbeiten im Alter zu fördern, will die FDP zudem die Hinzuverdienstmöglichkeiten für Rentner vollständig flexibilisieren … Die FDP will die Hinzuverdienstgrenzen komplett abschaffen. Für erwerbstätige Rentner sollen sowohl die Arbeitnehmer- als auch die Arbeitgeberbeiträge zur Arbeitslosenversicherung wegfallen. „Versicherte können so ab dem 60. Lebensjahr ihre Arbeitszeit reduzieren und den Verdienstausfall durch Bezug einer Teilrente teilweise kompensieren oder – wenn sie möchten – länger arbeiten“, wirbt die FDP für eine neue Rentnerfreiheit.«
Also das hört sich doch jetzt wirklich gut an – eine neue „Rentnerfreiheit“. Und grundsätzlich ist die Forderung nach Teilrenten-Modellen eine richtige. Das Problem, was sich an dieser Stelle auftut, ist allerdings keineswegs trivial: Wenn die Arbeitgeber die Möglichkeit haben, „junge“ Rentner nicht nur weiter zu beschäftigen, sondern diese auch zu günstigeren Konditionen arbeiten lassen zu können, dann werden sie das auch tun, allerdings muss man sich dann darüber bewusst sein, dass die vorgeschlagene Regelung zu einer Verzerrung dahingehend führen wird, dass die Beschäftigung eines älteren Mitarbeiters, der sich schon im Rentenbezug befindet, günstiger sein wird hinsichtlich der anfallenden Arbeitskosten, als die Beschäftigung eines „Normal“-Arbeitnehmers. Und wieder würde ein Anreiz geschaffen werden, eine bestimmte Personengruppe auf dem Arbeitsmarkt zu bevorzugen. Dies muss dann auch im Zusammenhang gesehen werden mit der Tatsache, dass zahlreiche ältere Menschen aufgrund der niedrigen Renten-Höhe gezwungen sein werden, einer weiteren Erwerbstätigkeit nachgehen zu müssen. Insofern muss man an dieser Stelle „anerkennt“ anmerken, dass bei einer Realisierung des vorgeschlagenen Konzepts mehrere Fliegen mit einer Klappe geschlagen werden, unter anderem die immer wieder diskutierte Problematik einer ansteigenden Altersarmut aufgrund zu niedriger Renten, denn nunmehr kann man ja den Betroffenen den „Ausweg“ einer weiteren und sogar noch geförderten Beschäftigung nahe legen. Und die Arbeitgeber werden sich über diesen Vorschlag freuen, denn vor dem Hintergrund des demografischen Wandels werden sie ein großes Interesse daran haben, einen Teil der älteren Arbeitnehmer und sei es Teil zeitlich weiter beschäftigen zu können.
Die Diskussion über eine Öffnung des Arbeitsmarktes an dieser Stelle ist nicht neu – sie wird auch unter dem Stichwort „Flexi-Rente“ geführt. So schreibt Wolfgang Prosinger in seinem Artikel Endlich geht es dem Problem an die Wurzel:
»Ist die weithin starre Regelung des Eintrittsalters in die Rente noch zeitgemäß? Gibt es nicht ein Heer von rüstigen, körperlich und geistig gesunden Rentnern, für die es geradezu absurd zu sein scheint, mit 65 respektive 67 in die Untätigkeit abgeschoben, zum alten Eisen verdammt zu werden? Dieses Heer zählt nach Millionen, nach vielen Millionen. Jetzt endlich wird darüber geredet, Stimmen werden laut, die Arbeitsmöglichkeiten über das Stichdatum hinaus fordern, und ein Wort dafür ist auch schon gefunden: Flexi-Rente. Also ein Einstieg in den Ruhestand je nach Wünschen und Können der Betroffenen.«
Um welche Größenordnung es hier geht bzw. gehen könnte? Arbeitende Rentner sollen Fachkräftemangel lindern, so ist ein Artikel der FAZ überschrieben, der sich auf Berechnungen des DIW bezieht: Das DIW sieht ein Potential von zusätzlich bis zu 250.000 Rentnern, die arbeiten wollten – wenn die Politik dafür Anreize setzt. Derzeit sind gut 150.000 Menschen im Rentenalter sozialversicherungspflichtig beschäftigt. Diesem Beitrag kann man entnehmen, dass die Überlegungen innerhalb der CDU sogar noch weiter gehen als die der FDP (zumindest in der Form, wie sie derzeit dargestellt werden in den Medienberichten), denn die FDP plädiert angeblich und „nur“ für einen Wegfall der Arbeitgeberbeiträge zur Arbeitslosenversicherung, wenn Unternehmen Rentner weiter beschäftigen. Der Vorsitzende der CDU/CSU-Mittelstandsvereinigung Carsten Linnemann hingegen wird und dem FAZ-Artikel so zitiert: »Nach seiner Überzeugung sollten die Arbeitgeber von der Zahlung von Sozialbeiträgen für Rentner befreit werden. Außerdem sollte der Abschluss befristeter Arbeitsverträge möglich werden.« Ganz offensichtlich geht es bei diesem Vorschlag nicht nur um eine Entlastung der Arbeitgeber auf der Seite der Sozialversicherungsbeiträge, sondern auch um die Eröffnung der Möglichkeit, die älteren Mitarbeiter befristet zu beschäftigen, was natürlich auch bedeuten würde, dass man sich entsprechend problemlos wieder von ihnen trennen kann. Summa summarum wäre das dann die Schaffung eines Alters-Arbeitsmarktes mit eigenen, d.h. abweichenden Regeln vom „Normal-Arbeitsmarkt“.
Nach Angaben des DIW soll es schon seit Jahren etwa 100.000 Personen im Alter von 65 bis 74 Jahren geben, die nicht arbeiten, dies aber gern täten. Wie aber kommen die nun auf 250.000 potenzielle Rentner-Arbeitnehmer? »Nehme man eine Quote von 10 Prozent zum Ziel – und damit heutige Rentner-Erwerbsquoten in der Schweiz oder Dänemark – ergebe sich ein Zuwachs von 250.000 Beschäftigte.
Während Linnemann mit den Worten zitiert wird, dass die Beitragsausfälle in der Sozialversicherung in seinem Modell überkompensiert werden durch die von den weiter erwerbstätigen Rentnern zu zahlenden Steuern (wobei hier unterstrichen werden sollte, dass es die „Rentner“ sind, die die Steuern dann bezahlen müssen), kommt das Bundesarbeitsministerium »zu der Einschätzung, dass eine flexiblere Gestaltung des Renteneintritts die Sozialversicherung mit hohen Beitragsausfällen belasten würde. Sollten Arbeitgeber, die Rentner weiterbeschäftigen, dafür von der Beitragspflicht befreit werden, würde das die gesetzliche Rentenversicherung knapp eine Milliarde Euro im Jahr kosten. Das geht aus einer Antwort des SPD-geführten Ministeriums auf eine Anfrage der Grünen im Bundestag hervor.«
Es ist schon mehr als offensichtlich, worum es hier eigentlich geht: Würden die Vorschläge umgesetzt werden, dann gibt es einen ganz klaren Gewinner und das wären die Arbeitgeber, die auf der Seite der Sozialbeiträge im Fall von weiterbeschäftigten „Rentnern“ massiv entlastet werden würden. Und die angekündigte „Rentnerfreiheit“ würde sich im wesentlichen darauf beschränken, dass die Rentner mit geringen Renten die „Freiheit“ haben, sich auf dem für sie etwas geöffneten Arbeitsmarkt um ein Zusatzeinkommen zu bewerben, um den eigenen Lebensunterhalt sicherstellen zu können. Gleichzeitig wäre es ganz elegant möglich, die Verantwortung für Armutsprobleme im Alter auf die Betroffenen zu verlagern, denn sie haben ja die Möglichkeit, sich selbst zu helfen, indem sie sich auf dem Arbeitsmarkt engagieren.
Diese einseitige Instrumentalisierung einer anderen, flexibleren Ausgestaltung des Renteneintritts ist abzulehnen aufgrund der dadurch – ob bewusst oder unbewusst – ausgelösten Verzerrungen auf dem Arbeitsmarkt.
Die Kritik an den derzeit vorliegenden Modellen bzw. Vorschläge für eine „flexible-Rente“ ist aber keineswegs so zu verstehen, dass die bestehende Systematik beibehalten werden sollte. Eine der großen Aufgaben einer sachorientierten Rentenpolitik in den vor uns liegenden Jahren wird darin bestehen, eine an den Menschen orientierte Flexibilisierung des Renteneintritts in das bestehende System einzubauen bzw. dieses nach diesem Kriterium zu erweitern.