Auch das war sehr ungleich verteilt: Die COVID-19-Übersterblichkeit

Es geht wohl vielen so, dass man sich fast schon unangenehm berührt fühlt, wenn diese bereits im Erinnerungsdunkel verschwundenen bzw. geparkten Jahre erneut aufgerufen werden: die Zeit der Corona- bzw. COVID-19-Pandemie. Damit möchte man eigentlich nichts mehr zu tun haben und eine systematische und vom Blick auf mögliche Zukunftsszenarien geleitete Aufarbeitung dieser Zeit hat es auch nicht gegeben, statt dessen blocken die einen eine solche aus durchsichtigen parteipolitischen Motiven ab, die anderen wollen hingegen gar keine lernende Aufarbeitung, sondern vielmehr ein Tribunal, eine Abrechnung mit den „Verantwortlichen“ für eine aus ihrer Sicht zu verurteilende Politik der Panemiebekämpfung bzw. des Umgangs mit der pandemischen Herausforderung.

Und auch viele Wissenschaftler haben sich zwischenzeitlich aus dem Themenfeld fluchtartig zurückgezogen, denn da gibt es nichts mehr zu gewinnen und auch keine Drittmittel. Die vielen Virologen sind im Stand-by-Modus, bis sie vielleicht wieder als Fernsehexperten gebraucht werden. Die Flut an Veröffentlichungen beispielsweise zur Digitalisierung der Hochschullehre ist abrupt zum Stillstand gekommen und in der Praxis ist man vielerorts wieder zum Ausgangspunkt vor der Pandemie zurückgekehrt und hat den Ausflug in die Zoom-Welt als eine Art Betriebsunfall der Geschichte abgebucht.

Und dennoch arbeitet eine deutlich kleiner gewordene Gruppe an Wissenschaftlern an der Aufarbeitung dessen, was in den beiden Pandemie-Jahren 2020 und 2021 (nicht) passiert ist. Und das ist wichtig. Beispielsweise hinsichtlich der vieldiskutierten pandemiebedingten „Übersterblichkeit“ – und deren Vermessung, denn die ist bzw. wäre ein wichtiger Indikator, um die Auswirkungen von Pandemien unabhängig von den jeweiligen Test- oder Meldesystemen zu erfassen. Auch in diesem Blog wurde vor allem im ersten Pandemiejahr 2020 über die Diskussion eine pandemiebedingte „Übersterblichkeit“ betreffend berichtet.*

*) Vgl. dazu die Beiträge Gibt es eine „Übersterblichkeit“ aufgrund der Corona-Pandemie? Aktuelle Daten zur Entwicklung der Mortalität als Indikator für tödliche Folgen des Virus vom 31. Mai 2020, Ein Update zur Frage: Gibt es eine coronabedingte „Übersterblichkeit“ in Deutschland? vom 5. Juni 2020, Coronabedingte „Übersterblichkeit“ in Deutschland? Ein Update zur Entwicklung bis in den Juni 2020 vom 9. Juli 2020 sowie Keine Zahlenspielerei. Covid-19 und die Statistiken. Von Todesfällen im Zusammenhang mit Corona, Neuinfizierten und der Frage nach einer „Übersterblichkeit“ vom 30. Dezember 2020.

Wie war das mit der Verteilung der pandemiebedingten Übersterblichkeit?

»Während der COVID-19-Pandemie hat uns tagtäglich die Bekanntgabe der Neuinfektionen begleitet. Doch wie viele Menschen mehr gestorben sind, als es der Fall gewesen wäre, wenn die Pandemie – hypothetisch – nicht gewesen wäre, ist nicht einfach zu berechnen.« So beginnt der Beitrag COVID-19-Übersterblichkeit sehr ungleich verteilt, der im Heft 1/2025 der Zeitschrift „Demografische Forschung aus erster Hand“ veröffentlicht wurde (S. 4).

Dahinter steht zum einen die grundsätzliche Debatte, ob überhaupt und wenn ja, in welchem Ausmaß eine Übersterblichkeit durch Corona gegeben war. Und die Grundsatzfrage, ob es das überhaupt gegeben hat, wurde nicht nur von den „Corona-Leugnern“ oder von manchen abfällig als „Covidioten“ bezeichneten Menschen auf den damaligen Demonstrationen gestellt, auch in der wissenschaftlichen Community gab es immer wieder Minderheitenvoten für eine Antwort, die da lautet: Nein, es gab gar keine „Übersterblichkeit“ durch die Pandemie. Gemeint sind hier einige methodenkritische Analysen (z. B. von Ökonomen oder Statistikern wie Krämer oder Benassi et al.), die vor allem argumentiert haben, dass die zugrundeliegenden Referenzjahre möglicherweise zu niedrig angesetzt seien, dass ein Teil der „Übersterblichkeit“ durch demografischen Wandel (Alterung) erklärbar sei oder COVID-Maßnahmen selbst zur Sterblichkeit beigetragen haben könnten (z. B. durch psychische Belastungen, verspätete Behandlungen). Einzelne Arbeiten vermuteten auch eine „Vorzieheffekt“-Sterblichkeit (also dass Menschen ohnehin bald gestorben wären).

Aber mit Blick auf die Gesamtheit der Studien kann man eindeutig bilanzieren, dass eine Zurückweisung der These von einer Übersterblichkeit in der Minderheit geblieben sind. Die große Mehrheit der Studien kam zu dem Ergebnis, dass es eine Übersterblichkeit (nicht nur) in Deutschland in den Jahren 2020 und 2021 gegeben hat. Und die war vor allem durch COVID-19 und dessen direkte wie indirekte Effekte bedingt.

Aber auch wenn man die Existenz einer pandemiebedingten Übersterblichkeit der Mehrheitsmeinung entsprechend akzeptiert, stellt sich rückblickend hinsichtlich der Frage, wie viele Menschen mehr gestorben sind, als es der Fall gewesen wäre, wenn die Pandemie – hypothetisch – nicht über uns gekommen wäre, eine methodische Herausforderung: Bislang war es schwierig, die Übersterblichkeit international, zwischen Regionen und Ländern, zu vergleichen, da für die Berechnung unterschiedliche methodische Ansätze und Indikatoren zum Einsatz kamen.

Ein Forschungsteam um Pavel Grigoriev vom Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung (BiB) hat nun diese Übersterblichkeit, die sogenannten Verluste an Lebenserwartung, für 569 Regionen in 25 Ländern Europas berechnet.

Wie haben die das gemacht? Zuerst einmal wurde auf Basis zurückliegender Entwicklungen geschätzt, wie sich die durchschnittliche Lebenserwartung bei Geburt ohne Pandemie in den Jahren 2020 und 2021 entwickelt hätte. Diese Werte wurden dann mit der tatsächlich gemessenen Lebenserwartung verglichen.

Mit teilweise überraschenden Ergebnissen:

»Während es in einigen Regionen zu einer starken Übersterblichkeit kam, blieb die Sterblichkeit in manchen Gebieten nahezu unverändert. Im ersten Pandemiejahr registrierten die Forschenden eine hohe Übersterblichkeit hauptsächlich in Norditalien, der Südschweiz, Zentralspanien und Polen. Gerade am Beispiel Italiens belegt die Studie, wie stark regionale Unterschiede in manchen Ländern waren: So hatten Regionen wie Bergamo und Cremona 2020 bei der Lebenserwartung eine Übersterblichkeit von knapp über vier Jahren. In einigen süditalienischen Provinzen war hingegen keine erhöhte Sterblichkeit messbar. In Teilen Nord- und Westdeutschlands, Dänemarks, West- und Südfrankreichs, Norwegens und Schwedens war 2020 sogar eine Untersterblichkeit zu verzeichnen. Es starben dort also weniger Menschen, als es ohne Pandemie prognostiziert wurde.

Im Laufe der Zeit änderten sich die Muster der Übersterblichkeit. Während im ersten Pandemiejahr 362 Regionen eine signifikante Übersterblichkeit verzeichneten, waren es im Folgejahr sogar 440. Aus regionaler Sicht verlagerte sich die Übersterblichkeit 2021 stark nach Osteuropa und betraf Männer stärker als Frauen. In der Slowakei, Litauen, Lettland, Ungarn sowie in Teilen Polens und Tschechiens lag die Lebenserwartung um mehr als 2,5 Jahre unter dem erwarteten Wert. Im Vergleich zu Osteuropa zeigten viele westeuropäische Regionen im Jahr 2021 eine geringere Übersterblichkeit, wenngleich diese auch dort überwiegend höher war als noch im Vorjahr. Auch innerhalb Deutschlands war 2021 ein beträchtliches Ost-West-Gefälle sichtbar. So betrug die Übersterblichkeit in Thüringen, im Süden und Osten von Sachsen sowie im Süden von Sachsen-Anhalt und Brandenburg 1,5 bis 2 Jahre. Im früheren Bundesgebiet lag sie – mit Ausnahme einiger bayerischer Gebiete – unter einem Jahr. Die Untersuchung zeigte zudem, dass die Pandemie zunächst städtische Gebiete mit hoher internationaler Vernetzung betroffen hat. Von dort breitete sie sich dann in weniger vernetzte und peripherere Gebiete aus.«

Die Befunde wurden in dieser Abbildung visualisiert:

Die Studie im Original ist in der Fachzeitschrift Nature Communications veröffentlicht worden und kann hier abgerufen werden:

➔ Florian Bonnet et al. (2024): Spatial disparities in the mortality burden of the covid-19 pandemic across 569 European regions (2020-2021), in: Nature Communications, (2024) 15: 4246; Published online: 18 May 2024.