Coronabedingte „Übersterblichkeit“ in Deutschland? Ein Update zur Entwicklung bis in den Juni 2020

Die tatsächlichen Sterbefälle sind ein „harter Indikator“ für die tödlichen Folgewirkungen einer Pandemie (aber natürlich nicht für andere mögliche Folgen, wie beispielsweise lebenslange Schäden, die auch nach einer „Genesung“ als Folgeschäden eintreten könnten). In diesem Zusammenhang wird dann immer wieder auf die sogenannte „Übersterblichkeit“ hingewiesen: Die Übersterblichkeit (“excess mortality“) ist ein Indikator für die Schwere eines Infektionsgeschehens. Sie bezeichnet die Anzahl an Todesfällen, die über einem historischen Mittel liegen. Über mehrere vergangene Jahre hinweg werden die durchschnittlichen Todesfälle pro Tag errechnet. Sterben beispielsweise durch eine heftige Grippesaison in diesem Zeitraum besonders viele Menschen, lässt sich das dort ablesen.

In diesem Blog wurde bereits über die Entwicklung der Sterbefallzahlen des Jahres 2020 berichtet: Am 31. Mai 2020 in dem Beitrag Gibt es eine „Übersterblichkeit“ aufgrund der Corona-Pandemie? Aktuelle Daten zur Entwicklung der Mortalität als Indikator für tödliche Folgen des Virus sowie am 5. Juni 2020 unter der Überschrift Ein Update zur Frage: Gibt es eine coronabedingte „Übersterblichkeit“ in Deutschland? Wie sieht die Entwicklung bis in den Juni 2020 aus?

Die in der Abbildung visualisierten Daten basieren zum einen auf einer Sonderauswertung des Statistischen Bundesamtes zu den Sterbefallzahlen des laufenden Jahres, die Zahlen zu den Covid-19-Todesfällen werden ergänzend vom Robert Koch Institut (RKI) bereitgestellt.

Wie groß sind die direkten und indirekten Auswirkungen der Pandemie auf die Gesamtzahlen der Sterbefälle in Deutschland?

Das Statistische Bundesamt stellt vorläufige Auszählungen von Sterbefallmeldungen der Standesämter tagesgenau als Sonderauswertung zur Verfügung, bevor die regulären Ergebnisse der amtlichen Sterbefallstatistik vorliegen. Aktuell ist eine solche Auszählung bis zum 7. Juni 2020 darstellbar (also einschließlich der 23. Kalenderwoche).

Das Statistische Bundesamt weist auf eine jahreszeitliche Besonderheit hin: »Bei der Betrachtung des Jahresverlaufes in der Sterbefallstatistik sind die typischen Schwankungen während der Grippezeit von ungefähr Mitte Dezember bis Mitte April zu beachten. Dies wird beim Blick auf die Zahlen aus den Vorjahren deutlich: Im März 2019 starben beispielsweise etwa 86.500 Menschen. Im März 2018, also in einem Jahr, als die Grippewelle besonders heftig ausfiel, waren es 107.100. Auch ohne Corona-Pandemie können die Sterbefallzahlen demnach in der typischen Grippezeit stark schwanken. Von diesen Schwankungen sind insbesondere die Sterbefallzahlen in der Altersgruppe ab 65 Jahren betroffen.«

In der Abbildung am Anfang dieses Beitrags erkennt man für den Durchschnitt der Jahre 2016 bis 2019 (blaue Linie) eine deutliche Abweichung der Sterbefallzahlen im Vergleich zu 2020 nach oben – aber die ist ausschließlich bedingt durch das Jahr 2018, wie die folgende Abbildung verdeutlicht:

Zurück zu der Frage, ob man eine „coronabedingte Übersterblichkeit“ in den Daten erkennen kann. »Die Auswirkungen der Grippewelle im Jahr 2020 waren den vorläufigen Sterbefallzahlen zufolge im Vergleich zu den Vorjahren sehr gering ausgeprägt. Im Januar 2020 starben nach der vorläufigen Auszählung knapp 85.300 Menschen. Im Februar 2020 waren es etwa 79.800 Personen. Auch im März 2020 mit insgesamt etwa 87.100 Sterbefällen ist bei einer monatsweisen Betrachtung kein auffälliger Anstieg der Sterbefallzahlen im Vergleich zu den Vorjahren erkennbar.«

Dann aber: »Im April lag die Zahl der Gestorbenen allerdings mit derzeit etwa 83.300 gemeldeten Fällen deutlich über dem Durchschnitt der Vorjahre (+9 %). Die Zahlen im Mai liegen im Bereich des Durchschnitts der Vorjahre.«

Und noch etwas genauer auf der Ebene der Kalenderwochen:

»Betrachtet man die Entwicklung nach Kalenderwochen, so zeigen sich von der 13. bis zur 18. Kalenderwoche (23. März bis 3. Mai) erhöhte Sterbefallzahlen im Vergleich zum Durchschnitt der Jahre 2016 bis 2019. In der 15. Kalenderwoche (6. bis 12. April) war die Abweichung mit 14 % über dem vierjährigen Durchschnitt am größten. Auch die Zahl der COVID-19-Todesfälle, die beim Robert Koch-Institut (RKI) gemeldet werden, erreichte in dieser Woche ihren Höchststand. Ab der 19. Kalenderwoche (4. bis 10. Mai) lagen die Sterbefallzahlen nach der vorläufigen Auszählung bis einschließlich der aktuellen Daten für die 23. Kalenderwoche (1. bis 7. Juni) wieder im Bereich des Durchschnitts der Vorjahre oder etwas darunter. Allerdings wird sich die Zahl der Sterbefälle durch Nachmeldungen noch leicht erhöhen, so dass der Durchschnitt in diesen Fällen noch erreicht oder überschritten werden kann.« (Hervorhebungen nicht im Original).

Und auch aus Österreich gibt es Daten zu der Frage nach einer coronabedingten Übersterblichkeit

Auch aus Österreich wurden Daten veröffentlicht, die sich mit der Entwicklung der Sterblichkeit dort befassen: Rund 4% der Sterbefälle im März und April 2020 aufgrund von COVID-19, so ist die Pressemitteilung vom 09.07.2020 überschrieben. In den beiden Monaten März und April 2020 starben in Österreich laut Statistik Austria 588 Personen an COVID-19. Statistik-Austria-Generaldirektor Tobias Thomas wird mit diesen Worten zitiert: „Mit Ausbruch der COVID-19-Krise Mitte März ist die Sterblichkeit in Österreich spürbar angestiegen. Der Höhepunkt wurde in der ersten April-Hälfte erreicht mit rund 16% mehr Sterbefällen als im Durchschnitt der letzten fünf Jahre. Danach ist die Sterblichkeit wieder auf das Niveau der Vorjahre zurückgegangen. Insgesamt lag sie in den Monaten März und April somit nur um 1% höher als in den Jahren zuvor. Betroffen waren zumeist ältere Personen mit Begleiterkrankungen wie Bluthochdruck, Diabetes, Herz- oder Nierenerkrankungen. Männer starben fast doppelt so häufig an COVID-19 wie Frauen.“ Zwischen dem 1. März und 30. April 2020 verstarben in Österreich 15.107 Personen. Bei 588 Sterbefällen wurde COVID-19 als zugrundeliegende Todesursache angegeben, das waren 3,9% aller Todesfälle in diesem Zeitraum.

Und dann ein auf den ersten Blick ähnlicher Befund wie in Deutschland:

➔ »Zum Höhepunkt des COVID-19-Ausbruchs in der ersten April-Hälfte 2020 lag die Anzahl der Sterbefälle um rund 16% höher als im Durchschnitt der Jahre 2015 bis 2019, ging dann aber bis Ende April wieder weitgehend auf das Niveau der Vorjahre zurück.«

Die österreichischen Statistiker haben allerdings auch eine weitere Information, die wichtig ist vor dem Hintergrund, dass immer wieder kritisiert wird an den Jahresvergleichen, dass dabei nicht einen eventuell unterschiedliche Altersverteilung berücksichtigt wird:

»Berücksichtigt man die unterschiedliche Anzahl älterer Menschen in der Bevölkerung der einzelnen Jahre, zeigt sich, dass die Sterblichkeit insgesamt – d. h., die altersstandardisierte Sterberate* … – im März/April 2020 nur um ein Prozent höher war als im Durchschnitt der Jahre 2015 bis 2019.«

*) Die Gesamtzahl der Sterbefälle in einem Jahr hängt von der Sterblichkeit sowie der Größe und Altersstruktur der Bevölkerung ab. Die Sterblichkeit wird üblicherweise mittels altersstandardisierter Sterberaten beschrieben. Die standardisierte Sterberate gibt an, wie viele Sterbefälle aufgrund der jeweils herrschenden Sterblichkeitsverhältnisse auf 100.000 Lebende entfallen wären, wenn der Altersaufbau der Bevölkerung in der betreffenden Berichtsperiode (hier: Jahresbeginn 2020, vorläufige Zahlen) dem einer Standardbevölkerung entsprochen hätte. Der vergleichsstörende Einfluss des jeweiligen Altersaufbaues ist dadurch ausgeschaltet, d. h. diese Maßzahl berücksichtigt sowohl die insgesamt wachsende Bevölkerung als auch ihre kontinuierliche Alterung und macht damit die unterschiedlichen Sterbebedingungen über die Zeit vergleichbar. Als Standardbevölkerung dient die von Eurostat publizierte Standardbevölkerung 2013. Diese Standardbevölkerung ist eine „künstliche Bevölkerung“ mit einer geschätzten Altersstruktur für die europäische Bevölkerung, die als einheitliche Basis zur Berechnung vergleichbarer altersstandardisierter Sterberaten verwendet wird.

Nachtrag am 12.07.2020:

In anderen Ländern sieht das ganz anders aus mit der Übersterblichkeit und den Hinweisen darauf, dass Covid-19 hier maßgeblich verantwortlich ist für eine beobachtbare Übersterblichkeit. »In der italienischen Ortschaft Nembro in der Provinz Bergamo sind beispielsweise im März dieses Jahres fast 11 Mal so viele Menschen gestorben wie im Durchschnitt des gleichen Monats in den Vorjahren. Jetzt liegen erste Zahlen aus den USA vor, dem Land mit den derzeit meisten Todesfällen«, berichtet das Deutsche Ärzteblatt unter der Überschrift USA: Übersterblichkeit übertrifft die Zahl der gemeldeten Todesfälle an COVID-19. Die wichtigsten Befunde aus den USA, die vom Ärzteblatt zusammenfassend berichtet werden (die Orginalarbeit findet man hier: Stephen H. Woolf et al. (2020): Excess Deaths From COVID-19 and Other Causes, March-April 2020, in: JAMA. Published online July 1, 2020):

»Wie Daniel Weinberger von der Yale Universität in New Haven/Connecticut und Mitarbeiter berichten, sind in den USA in den Monaten März bis Mai insgesamt 780.975 Todesfälle aufgetreten. Das sind 122.300 mehr als im gleichen Zeitraum in den Vorjahren. Der relative Anstieg der Todesfälle um 18,5 % unterschätzt die Auswirkungen jedoch, da die Epidemie in den ersten Monaten auf wenige Städte und Staaten beschränkt waren. In der Stadt New York, dem ersten Epizentrum in den USA, sind in den Monaten März bis Mai fast dreimal so viele Menschen gestorben wie im langjährigen Mittel (38.170 versus 13.000). Auch im Gesamtstaat New York sowie in New Jersey, Pennsylvania, Michigan und Massachusetts ist es zu einer deutlichen Übersterblichkeit gekommen.
Die Zunahme der Todesfälle liegt um 28 % über den gemeldeten Todesfällen an COVID-19 (95.235 bis Ende Mai). Damit stellt sich die Frage, ob nicht alle COVID-19-Todesfälle erkannt wurden oder ob einige Menschen an anderen Erkrankungen gestorben sind, weil sie nicht die notwendige Behandlung erhalten haben. Dies könnte an einer Überforderung des Gesundheitswesens liegen oder daran, dass die Patienten aus Angst vor einer Infektion den Gang zum Arzt oder ins Krankenhaus vermeiden. Auch die gesellschaftliche Folgen der Epidemie wie Arbeitslosigkeit oder soziale Isolierung könnten für Todesfälle etwa durch Suizide oder Substanzabhängigkeit verantwortlich sein, befürchtet Steven Woolf von der Virginia Commonwealth University School of Medicine in Richmond. Sein Team hat hierzu die Daten für den Zeitraum vom 1. März bis zum 25. April näher untersucht.
Tatsächlich ist es in dieser Zeit in den fünf am meisten betroffenen Bundesstaaten zu einem Anstieg der Todesfälle an Herzerkrankungen um 89 % und an Schlaganfällen um 35 % gekommen. In der Stadt New York betrug der Anstieg der Sterblichkeitsrate bei Herzer­krankungen sogar 398 %. Ein Diabetes wurde zu 356 % häufiger als Todesursache genannt.
Bei Herzerkrankungen und Schlaganfällen könnte die Übersterblichkeit teilweise auf Versorgungsdefizite und den Verzicht auf Behandlungen zurückzuführen sein. Gestiegen ist (um 64 % in den fünf Staaten) allerdings auch die Zahl der Menschen, die an Morbus Alzheimer gestorben sind. Hier liegt die Vermutung nahe, dass darunter viele Fälle von Menschen aus Pflegeheimen sind, die an COVID-19 gestorben sind, bei denen aber auf den Nachweis von SARS-CoV-2 verzichtet wurde.«