Erinnern wir uns an den 5. November 2019. Ein wichtiger Tag nicht nur für viele Betroffene, sondern auch für das Verfassungs- und Sozialrecht insgesamt. Denn an diesem Tag verkündete das Bundesverfassungsgericht eine seit Jahren erwartete Entscheidung zu der Frage, ob Sanktionen im Hartz IV-System verfassungsrechtlich zulässig sind oder eben nicht. Immerhin ging es hier um nichts anderes als um die Frage, ob man das Unterste, also das staatlich definierte Existenzminimum, unterschreiten kann – bis hin zum völligen Wegfall. Bekanntlich fiel die Antwort aus Karlsruhe zwiespältig aus, was man schon der Überschrift der Pressemitteilung des hohen Gerichts entnehmen konnte: Sanktionen zur Durchsetzung von Mitwirkungspflichten bei Bezug von Arbeitslosengeld II teilweise verfassungswidrig. Also ein großer Erfolg der Sanktionsgegner, so scheint es. Wenn da nicht dieses eingeschobene Wort „teilweise“ wäre. Und das hat im vorliegenden Fall eine ganz besondere Bedeutung.
Nach der Urteilsverkündung konnte man überall lesen, dass es in Zukunft keine Sanktionen mehr geben darf, die eine Absenkung des Existenzminimums um mehr als 30 Prozent überschreiten. Und dass die Betroffenen auch nicht mehr schematisch für drei Monate bestraft werden dürfen. Auch müssen die Jobcenter „Härtefälle“ berücksichtigen.
Und jetzt wird man mit solchen Meldungen konfrontiert: »Hartz-IV-Beziehern sollte nach Auffassung mehrerer Arbeitsminister der Union auch künftig die Unterstützung komplett entzogen werden können, wenn sie nicht kooperieren.«
„Wenn eine verweigerte Mitwirkung keine Folgen hat, läuft das System leer“, warnte NRW-Arbeitsminister Karl-Josef Laumann (CDU), kann man dieser Meldung der Nachrichtenagentur dpa entnehmen: Laumann für kompletten Hartz-IV Leistungsentzug. Aber das Bundesverfassungsgericht hat doch genau das untersagt, wird der eine oder andere einwenden und sich vor diesem Hintergrund erstaunt die Augen reiben: »Ein vollständiger Wegfall der Leistungen halte auch das Bundesverfassungsgericht im Extremfall für zulässig, betonten die Arbeitsminister aus NRW, Baden-Württemberg, Bayern und Mecklenburg-Vorpommern in einer gemeinsamen Mitteilung.«
Wie das? Kann das wirklich sein? Oder ist das nur eine dieser das Publikum auf eine falsche Fährte lockende Behauptung von Politikern, die sich einfach nicht dem Verbot eines vollständigen Entzugs des Existenzminimums beugen wollen? Und die angesichts der Tatsache, dass der Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) derzeit an einer nach dem BVerfG-Urteil notwendig gewordenen gesetzlichen Änderung des SGB II arbeitet, die Gelegenheit nutzen wollen, diesen Gesetzgebungsprozess in ihrem – repressiven – Sinne zu beeinflussen?
»Laumann (CDU) hat sich demnach mit seinen Ressortkollegen auf konkrete Grundlinien zur Sanktionierungspraxis verständigt. Die Leistungen könnten etwa komplett wegfallen, wenn ein Empfänger beharrlich eine zumutbare Arbeitsmöglichkeit ablehne, erklärte ein Sprecher des Ministeriums in Düsseldorf.«
Hat das Bundesverfassungsgericht – oder hat es nicht? Es hat nicht
In vielen Berichten konnte man immer wieder lesen oder hören, dass Sanktionen über eine Kürzung von 30 Prozent der Regelleistungen hinaus nicht mehr zulässig seien, nach der Entscheidung des Verfassungsgerichts.
Allerdings ist dem nicht so – und darauf wurde hier bereits am 6. November, also einen Tag nach der Urteilsverkündung hingewiesen, in dem Beitrag Ein Sowohl-als-auch-Urteil. Das Bundesverfassungsgericht, die Begrenzung der bislang möglichen Sanktionierung und eine 70prozentige minimale Existenz im Hartz IV-System. Man muss dabei wie so oft bei Urteilen wahrlich einzelne Wörter auf die Goldwaage legen. Schauen wir uns die hier relevante Argumentation des BVerfG einmal genauer an – zitiert wird aus BVerfG, Urteil vom 05. November 2019 – 1 BvL 7/16:
Vom „Überbau“ her gesehen sind zwei Begriffe von zentraler Bedeutung: Nachranggrundsatz und eine daraus abgeleitete Mitwirkungspflicht: Dazu das BVerfG:
»Die eigenständige Existenzsicherung des Menschen ist nicht Bedingung dafür, dass ihm Menschenwürde zukommt; die Voraussetzungen für ein eigenverantwortliches Leben zu schaffen, ist vielmehr Teil des Schutzauftrags des Staates aus Art. 1 Abs. 1 Satz 2 GG. Das Grundgesetz verwehrt dem Gesetzgeber jedoch nicht, die Inanspruchnahme sozialer Leistungen zur Sicherung der menschenwürdigen Existenz an den Nachranggrundsatz zu binden, solche Leistungen also nur dann zu gewähren, wenn Menschen ihre Existenz nicht selbst sichern können.«
Und aus dem Nachranggrundsatz wird dann eine Mitwirkungspflicht abgeleitet: »Der Nachranggrundsatz kann nicht nur eine Pflicht zum vorrangigen Einsatz aktuell verfügbarer Mittel aus Einkommen, Vermögen oder Zuwendungen Dritter enthalten. Das Grundgesetz steht auch der gesetzgeberischen Entscheidung nicht entgegen, von denjenigen, die staatliche Leistungen der sozialen Sicherung in Anspruch nehmen, zu verlangen, an der Überwindung ihrer Hilfebedürftigkeit selbst aktiv mitzuwirken oder die Bedürftigkeit gar nicht erst eintreten zu lassen.« Diese Mitwirkungspflichten müssen dann aber „geeignet, erforderlich und zumutbar sein“. Und der Gesetzgeber »kann für den Fall, dass Menschen eine ihnen klar bekannte und zumutbare Mitwirkungspflicht ohne wichtigen Grund nicht erfüllen, belastende Sanktionen vorsehen, um so ihre Pflicht zur Mitwirkung an der Überwindung der eigenen Hilfebedürftigkeit durchzusetzen.«
Vor diesem Hintergrund sei in gewissen Grenzen auch eine Sanktionierung zulässig sei, solange sie die „in diesem Bereich geltenden strengen Maßstab der Verhältnismäßigkeit“ einhalten, was dann wiederum die Verfassungswidrigkeit einer 60- oder gar 100-Prozent-Sanktionierung erklärt.
An dieser Stelle könnte man dem vorschnellen Schluss verfallen: Gut, zwar kein generelles Verbot von Sanktionen, aber eben nicht mehr als 30 Prozent. Lesen wir aber weiter, denn man sollte sehr genau die konkrete Formulierung des Verfassungsgerichts zur Kenntnis nehmen, wenn es um das Verbot einer über die 30prozentige Kürzung hinausgehenden Absenkung oder gar dem Wegfall der Leistungen geht:
»Die im Fall der ersten wiederholten Verletzung einer Mitwirkungspflicht nach § 31a Abs. 1 Satz 2 SGB II vorgegebene Minderung der Leistungen des maßgebenden Regelbedarfs in einer Höhe von 60 % ist nach den derzeit vorliegenden Erkenntnissen nicht mit dem Grundgesetz vereinbar.«
Das Gericht spricht hier bewusst von „nach den derzeit vorliegenden Erkenntnissen“ und meint damit: Sollten zu einem späteren Zeitpunkt eindeutige und andere Befunde hinsichtlich der Wirksamkeit von Sanktionen vorgelegt werden können, dann kann das auch durchaus dazu führen, dass man die nunmehr gesetzte Grenze von 30 Prozent maximal nach oben verschieben kann.
Und auch auf eine weitere Differenzierung in der Argumentation der Verfassungsrichter vor dem Hintergrund der nunmehr eigentlich doch verbotenen 100-Prozent-Sanktionierung sei hier hingewiesen: Das BVerfG kommt in einer Gesamtabwägung zu dem Schluss, »dass der völlige Wegfall aller Leistungen … nicht mit den hier strengen Anforderungen der Verhältnismäßigkeit vereinbar ist.« Alles klar. Oder doch nicht? Nein, denn dann wird dieser Passus nachgeschoben:
»Unabhängig davon hat der Gesetzgeber auch im Fall eines vollständigen Wegfalls des Arbeitslosengeldes II dafür Sorge zu tragen, dass die Chance realisierbar bleibt, existenzsichernde Leistungen zu erhalten, wenn zumutbare Mitwirkungspflichten erfüllt werden oder, falls das nicht möglich ist, die ernsthafte und nachhaltige Bereitschaft zur Mitwirkung tatsächlich vorliegt.«
Offensichtlich spricht das BVerfG hier explizit die Option eines vollständigen Wegfalls des Arbeitslosengeldes II an.
Den folgenden Passus sollte man in aller gebotenen Ruhe nachvollziehen, denn diese Ausführungen werden Laumann & Co. vor Augen gehabt haben:
»Anders liegt dies, wenn und solange Leistungsberechtigte es selbst in der Hand haben, durch Aufnahme einer ihnen angebotenen zumutbaren Arbeit ihre menschenwürdige Existenz tatsächlich und unmittelbar durch die Erzielung von Einkommen selbst zu sichern. Wird eine solche tatsächlich existenzsichernde und zumutbare Erwerbstätigkeit ohne wichtigen Grund verweigert, obwohl im Verfahren die Möglichkeit bestand, dazu auch etwaige Besonderheiten der persönlichen Situation vorzubringen, kann ein vollständiger Leistungsentzug zu rechtfertigen sein.« (Hervorhebung nicht im Original).
Fazit: Eine Exegese des Urteils des BVerfG vom 5. November 2019 eröffnet tatsächlich die grundsätzliche Option einer auch über die immer wieder zitierte „Grenze“ von 30 Prozent-Kürzungen hinausreichende Sanktionierung. Genau das versuchen die zitierten Arbeitsminister aus einigen Bundesländern nun wieder auf das Spielfeld zu schießen.
Fazit: Es wird am Ende eine politische Entscheidung sein, in welchem Ausmaß der Gesetzgeber die Sanktionen im SGB II begrenzt. Nicht helfen wird den Sanktionsgegnern wie dargelegt ein schlichter Verweis auf eine (angebliche) Verfassungswidrigkeit. Die kann man bei allen Restriktionen, die das Urteil dem Gesetzgeber als „Leitplanken“ mit auf den Weg gegeben hat, so nicht der Entscheidung entnehmen.
Man darf gespannt sein, was aus den Reihen der Bundesregierung zu diesem Vorstoß einiger Länderminister – denn mehr ist das erst einmal nicht -, kommen wird. Und man wird auch gespannt sein dürfen, wie sich beispielsweise die Grünen in dieser Frage positionieren, denn in Baden-Württemberg stellen sie bekanntlich sogar den Ministerpräsidenten. Die baden-württembergische Arbeitsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU) zählt neben Karl-Josef Laumann (NRW, CDU), Kerstin Schreyer (Bayern, CSU) und Harry Glawe (Mecklenburg-Vorpommern, CDU) zu denen, die ausdrücklich für die Forderung nach der gesetzgeberischen Normierung eines harten Sanktionsregimes plädieren. Und auf der offiziellen Website des baden-württembergischen Arbeitsministeriums findet man diese Pressemitteilung: Sanktionen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende weiterhin notwendig.
Und hier das ➔ Forderungspapier zur gesetzlichen Neuregelung der Sanktionen in der Grundsicherung für Arbeitsuchende, Berlin, 27.01.2020