Erhebliche Kaufkraftverluste für Menschen in der Grundsicherung und die Stromkosten bleiben auch im Bürgergeld ein Problem

Bezieher von Grundsicherung sind derzeit von erheblichen Kaufkraftverlusten betroffen: So hätte ein Paar mit zwei Kindern im Jahr 2022 rund 1.600 Euro mehr bekommen müssen, um die Kaufkraft der Grundsicherung zu erhalten. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie im Auftrag des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB):

➔ Irene Becker (2022): Ermittlung eines angemessenen Inflationsausgleichs 2021 und 2022 für Grundsicherungsbeziehende. Expertise im Auftrag des Deutschen Gewerkschaftsbundes, Bundesvorstand, Riedstadt, November 2022

Und auch die Empfänger von Bürgergeld, was zum Jahresbeginn das offizielle Licht der Welt erblickt hat, sind nicht vor hohen Teuerungsraten geschützt. Das Statistische Bundesamt hat die Inflation für das gesamte Jahr 2022 auf 7,9 Prozent taxiert – das ist der höchste Wert seit 1951. Aber die Bundesregierung hat doch eine Vielzahl an Entlastungsmaßnahmen für die Menschen auf den Weg gebracht?

Das ist im Prinzip auch richtig: »Um die Härten auszugleichen, stellte die Bundesregierung Entlastungspakete in Höhe von etwa 200 Milliarden Euro bereit. Manches davon, etwa Einmalzahlungen für Erwachsene und Kinder oder das von Juni bis Ende August gültige Neun-Euro-Ticket für den öffentlichen Nahverkehr, kam auch Hartz-IV-Empfängern zugute«, berichtet Benedikt Peters unter der Überschrift Trotz Hartz IV unter dem Existenzminimum. Insgesamt aber konnten die Entlastungen den Berechnungen von Irene Becker zufolge die Teuerung bei Weitem nicht ausgleichen: »Eine arbeitslose Alleinerziehende mit einem zehnjährigen Kind büßte demnach aufs Jahr gerechnet etwa 750 Euro ein, ein Alleinstehender 470 Euro, ein Paar mit zwei Kindern im Alter von 14 und 16 Jahren etwa 1.600 Euro. Bei Menschen, die ihre Rente oder ihren Lohn aufstockten, waren die Verluste etwas geringer, da sie zusätzlich Anspruch auf die Energiepauschale der Bundesregierung von 300 Euro hatten.«

»Die Einbußen dürften die Grundsicherungsempfänger empfindlich getroffen haben, da viele von ihnen über keinerlei finanzielle Rücklagen verfügen. Sie müssen einen Großteil ihres Geldes für Lebensmittel ausgeben, deren Preise stiegen besonders stark. Die Tafeln meldeten zuletzt Rekordzahlen, weil immer mehr Menschen mit den Hartz-IV-Sätzen nicht mehr auskamen.«

Mit der Einführung des Bürgergelds zum 1. Januar wird die Inflation nun ausgeglichen, der Regelsatz für eine alleinstehende Person steigt auf 502 Euro, also um 11,8 Prozent. Könnte man meinen, aber Irene Becker identifiziert eine erhebliche „systematische Unterdeckung“ des eigentlich sicherzustellenden soziokulturellen Existenzminimums. Nun könnte man an dieser Stelle argumentieren, dass doch mit dem neuen „Bürgergeld“ die in den vergangenen Jahren immer wieder kritisierte Fortschreibungsregelung der Regelleistungen im SGB II/XII dahingehend geändert wurde, dass nunmehr beispielsweise Inflationsentwicklungen, wie wir sie in den vergangenen Monaten haben erleben müssen, deutlich schneller berücksichtigt werden (was nach einem Urteil des BVerfG auch gemacht werden muss). Aber auch hier gießt Becker Wasser in den aufgetischten Wein:

»Die bisherige gesetzliche Regelbedarfsfortschreibung (§ 28a SGB XII) ist mit zwei Problemen verbunden, die systematisch zu erheblichen Unterdeckungen des soziokulturellen Existenzminimums führen können und – wie in der vorliegenden Studie detailliert nachgewiesen – in der jüngeren Vergangenheit geführt haben.« (Becker 2022:30). Zu den beiden genannten Punkten:

A) »Da die EVS nur im Abstand von fünf Jahren durchgeführt und Ergebnisse wegen zeitaufwändiger Datenaufbereitungen erst mit zeitlicher Verzögerung vorgelegt werden, müssen für dazwischen liegende Jahre ungefähre Fortschreibungen greifen. Diese können lediglich durchschnittliche Veränderungen von Preisen und Löhnen berücksichtigen, nicht aber strukturelle Verschiebungen in der Einkommensverteilung und dementsprechend bei den regelbedarfsrelevanten Konsumausgaben. Somit kann es zu gravierenden Abweichungen von Ergebnissen der Regelbedarfsfortschreibung gegenüber – erst nachträglich verfügbaren – EVS-Ergebnissen kommen. Gegebenenfalls gehen diese über Auswirkungen einer nachholenden Aktualisierung des Preis- und Einkommensniveaus hinaus und spiegeln insbesondere Effekte von Strukturwandel.«

B) »Zudem ist die Fortschreibung ausschließlich vergangenheitsorientiert, die potenzielle inflationäre Tendenzen am aktuellen Rand systematisch ausblendet. Daran ändert die neue Anpassungsformel grundsätzlich nichts. Denn auch die ergänzende Fortschreibung bezieht sich auf einen Zeitraum, der ein halbes Jahr vor dem Anpassungszeitpunkt endet. Letztlich führt das Zusammenwirken von Basis- und ergänzender Fortschreibung zu einer starken Übergewichtung des letzten Quartals des für die Basisfortschreibung maßgeblichen Zwölfmonatszeitraums – das Ergebnis ist hinsichtlich des aktuellen Preisniveaus eher zufällig mehr oder minder angemessen.«

Die Folgen der unter A) skizzierten Vernachlässigung struktureller Entwicklungen bei der bisherigen Regelbedarfsanpassung zwischen den EVS-Jahren waren im Zeitraum 2018 bis 2020 gravierend. Becker verdeutlicht das so: »In diesen Jahren erfolgte eine Fortschreibung von Ergebnissen der EVS 2013, weil die Daten der jüngsten EVS noch nicht vorlagen. Damit war aber – trotz geringer Preissteigerungen in dieser Zeit – eine erhebliche Unterdeckung von Bedarfen, die aus den Konsumausgaben der Referenzgruppen von 2018 abgeleitet wurden, verbunden. Dies hat sich nachträglich – mit Vorlage der Ergebnisse der EVS 2018 für das RBEG 2020 – gezeigt. Bei Kindern der ältesten sowie der jüngsten Gruppe (RBS 4 und 6) waren die Defizite mit -15% des 2018 faktischen Regelbedarfs besonders groß.«

Becker schlussfolgert: »Derartige Unterschiede zwischen Fortschreibungsergebnissen und Resultaten aus einer neuen EVS lassen sich selbstverständlich nicht vollständig vermeiden, weil Daten immer zeitverzögert vorgelegt werden. Es könnte aber eine Vorschrift zur rückwirkenden Korrektur von Fortschreibungsergebnissen in das RBEG aufgenommen werden.« Das ist nur eine nachlaufende Teil-Lösung, aber immerhin: »Die akuten Probleme durch aktuelle Bedarfsunterdeckungen im jeweiligen Jahr sind damit zwar nicht gelöst. Mit nachträglichen Auszahlungen durch die Leistungsträger können aber beispielsweise im Notfall aufgenommene kleine Darlehen zurückgezahlt oder aufgeschobene Ausgaben – Anschaffung oder Ersatzbeschaffung eines internetfähigen PC, einer Waschmaschine etc. – getätigt werden.«

2021 und insbesondere im laufenden Jahr waren bzw. sind die negativen Effekte der unter B) beschriebenen systematischen Ausblendung des aktuellen Rands der Preisentwicklung gravierend (in den Jahren 2018 bis 2020 hingegen spielte das keine Rolle aufgrund der damals sehr niedrigen Inflationsraten. Bis zum Jahresende 2022 muss damit gerechnet werden, so Becker, dass der hier relevanten regelbedarfsrelevante Preisindex um 17% bis 19% über dem Ausgangswert vom Dezember 2020 liegt. Diese Entwicklungen werden mit der gesetzlichen Fortschreibung ausgeblendet. In 2022 summieren sich die inflationsbedingten Verluste – selbst unter Berücksichtigung von Gegenmaßnahmen der Bundesregierung – bei Bedarfsgemeinschaften ohne Erwerbseinkommen und ohne Rente bzw. Pension, also ohne Anspruch auf die Energiepreispauschale (EEP), bei Alleinlebenden auf etwa -470 Euro, bei einer Paarfamilie mit zwei Kindern ungefähr auf -1.600 Euro.

Becker: »Vor dem Hintergrund der jüngsten Erfahrungen scheint eine Reform der Regelbedarfsfortschreibung dringend geboten. Sie müsste über das im Regierungsentwurf für das Bürgergeld vorgesehene Modell hinausgehen, denn Letzteres orientiert sich weiterhin an weit zurückliegenden Zeiträumen und gewährleistet somit keine systematische Berücksichtigung aktueller Preisentwicklungen.« Dazu macht sie Vorschläge (Becker 2022: 31).

Die Berücksichtigung aktueller Preisentwicklungen bei der Regelbedarfsstufenfortschreibung dürfte angesichts der Preisstatistik des Statistischen Bundesamtes unproblematisch sein. Etwas anders sieht das aus mit Blick auf die von ihr vorgeschlagene „rückwirkenden Korrektur von Fortschreibungsergebnissen“. Das sieht sie selbst durchaus als Problem: »So besteht die Gefahr, dass das Sozialrecht überfrachtet wird infolge marginaler Abweichungen zwischen regulär fortgeschriebenen Beträgen und nachträglich verfügbaren Ergebnissen einer neuen EVS.« Der gleiche Einwand würde gelten, wenn man eine monatliche Preisanpassung ins Auge fassen würde.

Und dann der teuere Strom

Immer wieder taucht in der Debatte über Hartz IV bzw. neuerdings „Bürgergeld“ die Behauptung auf, den Grundsicherungsempfängern werden ja die Kosten der Unterkunft und Heizung vollständig erstattet. Unabhängig davon, dass das so in dieser Form nicht stimmt, muss an dieser Stelle und in diesen Zeiten darauf hingewiesen werden, dass das nicht für den Strom gilt, denn der ist als einer der Deckungsposten im Regelsatz enthalten.

Hinsichtlich der Heizkosten kann man sagen, dass eigentlich, grundsätzlich die „tatsächlichen“ Aufwendungen übernommen werden (müssen). Wenn das gegen eine wie auch immer definierte Angemessenheitsgrenze verstößt, dann könnte man durch eine Anhebung dieser Grenze mögliche erhebliche Kostenanstiege kompensieren. 

Anders sieht es aus beim Strom, denn der ist Bestandteil der Regelbedarfe zur Sicherung des Lebensunterhalts. 2022 bekam ein alleinstehender Leistungsberechtigter monatlich 449 Euro. In diesem Betrag enthalten sind exakt 38,07 Euro pro Monat für „Wohnen, Energie, Wohninstandhaltung“. Die Stromkosten werden also nicht in tatsächlicher Höhe übernommen, sondern müssen aus der Pauschale gedeckt werden bzw. wenn die nicht reicht, müssen die Betroffenen an anderer Stelle bei den Leistungen für den Lebensunterhalt Abstriche machen, um das gegenfinanzieren zu können.

Bereits am 16. Februar 2022 wurde ein Brief an den Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) geschickt, der es in sich hat. „Auswirkungen der aktuellen Energiepreise für Haushalte im SGB II“, so ist das Schreiben betitelt.  Das Schreiben kommt nicht von irgendwelchen Sozialverbänden oder Selbsthilfegruppen der Betroffenen. Sondern aus den Jobcentern des Landes, konkret von der Landesarbeitsgemeinschaft Nordrhein-Westfalen der Jobcenter. Vgl. dazu ausführlicher den Beitrag Energiearmut: Wenn sogar Jobcenter in Berlin Alarm schlagen und dringenden Handlungsbedarf sehen vom 14. März 2022.

Beim Strom haben sich die Jobcenter-Vertreter schon im Februar des vergangenen Jahres richtig Sorgen gemacht. So heißt es in dem Schreiben an den Bundesarbeitsminister:

»Der in den aktuell geltenden Regelbedarf enthaltene Anteil für Strom bemisst sich nach den Energiepreisen aus der Einkommens – und Verbrauchsstichprobe 2018 und trägt in keiner Weise den Preisentwicklungen der jüngsten Vergangenheit Rechnung. In der Folge wird es den Leistungsbeziehenden selbst durch Vorname von Einsparungen bei anderen Bedarfen zunehmend nicht gelingen, die höheren Stromabschläge aus dem Regelbedarf zu decken. Erschwerend kommt hinzu, dass viele Leistungbeziehende wirtschaftlich nicht in der Lage sein werden, Stromnachzahlungen für die Vergangenheit aus eigenen Mitteln in einer Summe auszugleichen. Zur Abwendung von Stromsperrung werden daher noch zusätzlich Ratenzahlung an das Versorgungsunternehmen oder, nach der Gewährung eines diesbezüglichen Darlehens durch das Jobcenter, Rückzahlungen an den SGB II – Träger aus dem Regelbedarf zu leisten sein. Die wirtschaftliche Situation der SGB II – Haushalte wird sich in der Konsequenz immer mehr zuspitzen. Hierbei wird es sich auch um kein singuläres Problem handeln. Nach unserer Einschätzung wird von dieser drohenden Problematik die Mehrzahl der SGB II – Haushalte betroffen sein, so dass hier dringender Handlungsbedarf geboten ist.«

Die Jobcenter-Leitungen plädieren letztendlich für eine entsprechende Anhebung der Regelleistungen, denn daraus müssen ja die Kosten für den Haushaltsstrom gedeckt werden. Wohlgemerkt, das war im Februar 2022.

Und nun am Anfang des Jahres 2023 erreichen uns solche Meldungen: »Seit diesem Jahr erhalten Arbeitslose statt Hartz IV das neue Bürgergeld. Einer Analyse von Check24 zufolge reicht der für Energie vorgesehene Regelsatz aber nicht aus, die Stromrechnung zu bezahlen.« Das kann man diesem Artikel entnehmen: Bürgergeld deckt Stromkosten nicht. Schauen wir uns die dort präsentierten Zahlen einmal genauer an:

Im Posten für Wohnen und Energie – ohne Miete – sind im Bürgergeld-Regelsatz für Alleinstehende auf ein Jahr hochgerechnet knapp 511 Euro vorgesehen. Die durchschnittlichen Stromkosten für einen Ein-Personen-Haushalt mit einem Jahresverbrauch von 1.500 Kilowattstunden beliefen sich trotz Strompreisbremse jedoch auf 641 Euro. Damit liegen die Stromkosten 25 Prozent über der Pauschale im Regelsatz.

Über eine Reaktion auf solche Zahlen wird berichtet: „Die steigenden Heiz- und Stromkosten sind sehr herausfordernd“, sagte eine Sprecherin der Bundesagentur für Arbeit in Nürnberg. Heizkosten würden von den Jobcentern regelmäßig in der angemessenen Höhe übernommen. „Anders ist es bei den Stromkosten: Haushaltsstrom ist Teil des Regelbedarfes, wird vom Gesetzgeber festgelegt und jährlich angepasst. Die Jobcenter haben keinen Spielraum, den Regelbedarf anzupassen.“ Die Bundesagentur begrüße deshalb sehr, dass der Regelsatz zum 1. Januar so deutlich gestiegen sei. „Dennoch können steigende Stromkosten zu finanziellen Belastungen führen. Sollten Menschen in finanzielle Nöte kommen, können die Jobcenter zumindest ein Darlehen bewilligen.“

Ein Darlehen für eine offensichtliche Unterdeckung bei einem existenziellen Posten im Regelbedarf? Schulden machen, die dann aus den Leistungen wieder abgestottert werden, die nicht nur von Irene Becker dahingehend kritisiert werden, dass sie in ihrer Höhe schon seit Jahren durch eine erhebliche „systematische Unterdeckung“ des eigentlich sicherzustellenden soziokulturellen Existenzminimums charakterisiert sind – das erscheint nicht wirklich überzeugend, um das nett auszudrücken. Hier liegt der Ball ganz klar im Berliner Spielfeld, denn dort muss man den Regelbedarf entsprechend anpassen. Also sollte man. Oder wenn man das nicht will, sollte man das zumindest offen sagen, dass man das nicht will.