Das „Schattenmonster“ Long Covid bekommt Umrisse. Und die sind in den USA ziemlich groß

Über das Thema Long Covid wurde hier schon mehrfach berichtet, zuletzt am 7. Juli 2022 in dem Beitrag Long Covid und die dadurch verursachten Personalausfälle. Befunde aus dem Gesundheitsreport 2022 der Techniker Krankenkasse sowie hinsichtlich der grundsätzlichen Aspekte am 2. Juli 2022 unter der Überschrift Long Covid, Post-Covid – ein „Schattenmonster“ oder doch nur ein Sturm im Wasserglas?

Nun erreichen uns aus den USA besorgniserregende Zahlen: New data shows long Covid is keeping as many as 4 million people out of work berichtet Katie Bach – und aktualisiert damit frühere Berechnungsergebnisse: Im Januar 2022 veröffentlichte Brookings Metro einen Bericht, in dem die Auswirkungen von Long Covid auf den Arbeitsmarkt bewertet wurden. Da nur wenige Daten über die Verbreitung der Krankheit vorlagen, wurde in dem Bericht anhand verschiedener Studien eine vorsichtige Schätzung vorgenommen: 1,6 Millionen Vollzeitäquivalente könnten aufgrund von Long Covid arbeitsunfähig sein sein. Angesichts von 10,6 Millionen unbesetzten Stellen zum damaligen Zeitpunkt könnte Long Covid 15 Prozent des Arbeitskräftemangels ausmachen. Nun zeigt sich, dass die Zahlen wohl zu niedrig geschätzt wurden.

Im Juni dieses Jahres fügte das US-amerikanische Census Bureau seiner Haushaltsbefragung (Household Pulse Survey, HPS) endlich vier Fragen zu Long Covid hinzu, was den Forschern ein besseres Verständnis der Prävalenz dieses Leidens ermöglicht. Auf der Basis der neuen Daten ergibt sich das folgende Bild:

Etwa 16 Millionen Amerikaner im erwerbsfähigen Alter (18 bis 65 Jahre) leiden unter Long Covid. Von diesen sind 2 bis 4 Millionen aufgrund von langen Covid arbeitsunfähig. Die jährlichen Kosten allein für diese Lohnausfälle belaufen sich auf etwa 170 Milliarden Dollar pro Jahr (und können bis zu 230 Milliarden Dollar betragen).

➞ Eine aktuelle Studie von Ham (2022) bestätigt die Zahlen des HPS. Anhand einer Längsschnittuntersuchung wurde festgestellt, dass 24,1 Prozent der Personen, die sich mit COVID-19 angesteckt haben, drei Monate oder länger unter Symptomen litten, was von Ham unter Long Covid gebucht wird. Und nach Angaben der Centers for Disease Control and Prevention haben sich etwa 70 Prozent der Amerikaner mit COVID-19 angesteckt. Wenn 24,1 Prozent von ihnen Long Covid hatten, haben 34 Millionen Amerikaner im erwerbsfähigen Alter irgendwann Long Covid gehabt.
Der Ham-Studie kann man entnehmen, dass sich 50 % der Befragten von Long Covid erholt haben. Wenn man diese 50 Prozent ausschließt, verbleiben etwa 17 Millionen Menschen, die derzeit Long Covid haben könnten – das ist sehr nahe an der HPS-Schätzung von 16,3 Millionen Betroffenen.

Zunächst muss man wissen, wie viel Prozent der Menschen mit Long Covid aus dem Erwerbsleben ausgeschieden sind oder ihre Arbeitszeit reduziert haben. Die Schätzungen hierzu variieren:
➞ Die Studie von Ham (2022) ergab, dass 25,9 Prozent der Menschen mit Long Covid in ihrer Arbeit „beeinträchtigt“ wurden (d. h. sie sind entweder arbeitslos oder arbeiten weniger Stunden).
➞ Eine Umfrage des britischen Trades Union Congress (TUC) des Vereinigten Königreichs ergab, dass 20 Prozent der Menschen mit Long Covid nicht arbeiten und weitere 16 % eine reduzierte Arbeitszeit haben.
➞ Eine Studie von Davies et al. (2021) ergab, dass 22 Prozent der Menschen mit Long Covid aus gesundheitlichen Gründen nicht arbeiten konnten und weitere 45 Prozent ihre Arbeitszeit reduzieren mussten.

Zweitens muss man wissen, wie viele Menschen mit Long Covid überhaupt gearbeitet haben. Da sich die Ausführungen von Bach (2022) auf Amerikaner im erwerbsfähigen Alter konzentrieren, wurde die Erwerbsquote dieser Gruppe von 75 Prozent zugrunde gelegt. Man kann also davon ausgehen, dass von den 16,3 Millionen Amerikanern im erwerbsfähigen Alter mit langem Covid 12,2 Millionen erwerbstätig waren.

In einem dritten Schritt muss die reduzierte Arbeitszeit der Personen mit Long Covid berechnet werden, die weiter gearbeitet haben. Die Studie von Ham (2022) ergab, dass sie ihre Arbeitszeit im Durchschnitt um 10 Stunden pro Woche reduzierten; bei dieser Zahl und einer 40-Stunden-Woche kann man davon ausgehen, dass diese Arbeitnehmer ihre Arbeitszeit um 25 Prozent reduzierten.

Je nach Schätzung des Ausmaßes der Arbeitsreduzierung kommt man auf 2 Millionen, 3 Millionen bzw. 4 Millionen Vollzeitäquivalente, die aufgrund von Long Covid aus der Erwerbsbevölkerung ausscheiden. Der Mittelwert dieser Spanne – 3 Millionen Vollzeitbeschäftigte – entspricht 1,8 % der gesamten zivilen Erwerbsbevölkerung der USA.

Katie Bach ordnet diese Zahlen so ein: »This may sound unbelievably high, but it is not inconsistent with the experiences of comparable economies. For example, a Bank of England representative recently stated that labor force participation has dropped by around 1.3% across the entire 16- to 64-year-old population (not just those who are working), and that the majority of that impact is from the rise in long-term sickness—which he suspected was long Covid. Meanwhile, one-quarter of U.K. companies cite long Covid as one of the main causes of long-term staff absence.«

Legt man den US-Durchschnittslohn von 1.106 Dollar pro Woche zugrunde, so entsprechen die schätzungsweise 3 Millionen Menschen, die wegen Long Covid erwerbslos sind, einem jährlichen Verdienstausfall von 168 Milliarden Dollar. Das ist fast 1 Prozent des gesamten Bruttoinlandsprodukts der USA. Wenn die tatsächliche Zahl der Erwerbslosen eher bei 4 Millionen liegt, sind das Kosten in Höhe von 230 Milliarden Dollar.

Der Wirtschaftswissenschaftler David Cutler von der Harvard University kam mit einer anderen Methodik zu einer fast identischen Zahl. Seine Studie beruft sich auf Forschungsergebnisse, wonach 12 bis 17 Prozent der COVID-19-Patienten 12 Wochen nach Krankheitsbeginn immer noch an drei oder mehr Symptomen leiden und dass die Erwerbsbeteiligung bei denjenigen mit erheblichen Beeinträchtigungen 70 Prozent beträgt. Auf der Grundlage von COVID-19-Fallzahlen und Erwerbsquoten schätzte Cutler, dass 3,5 Millionen Menschen aufgrund einer Long Covid-Erkrankung arbeitslos sind, was einem Lohnausfall von rund 200 Milliarden Dollar pro Jahr entspricht.
➔ Kritisch anzumerken ist, dass diese Zahl nicht die gesamte wirtschaftliche Belastung durch Lomg Covid widerspiegelt, da sie Auswirkungen wie die geringere Produktivität von Menschen, die während der Krankheit arbeiten, die erheblichen Gesundheitskosten, die den Patienten entstehen, oder die verlorene Produktivität von Pflegekräften nicht berücksichtigt. Cutler schätzt, dass die medizinische Versorgung und der Verlust an Lebensqualität im Zusammenhang mit Long Covid jedes Jahr zusätzliche 544 Milliarden Dollar kosten.

Obwohl Ärzte und Forscher täglich mehr über die Ursachen von Long Covid erfahren, gibt es keine standardisierte, allgemein anerkannte Behandlung dafür. Eine aktuelle Studie legt nahe, dass Impfstoffe das Risiko einer Long Covid-Erkrankung nur um 15 Prozent senken. Und obwohl wir noch nicht wissen, wie hoch das Risiko ist, nach wiederholten Infektionen an Long Covid zu erkranken, hat eine aktuelle Studie ergeben, dass jede erneute Infektion die Wahrscheinlichkeit langfristiger gesundheitlicher Folgen erhöht.

Zusammengenommen deuten diese drei Faktoren darauf hin, dass die wirtschaftliche Belastung weiter zunehmen wird, wenn die Genesung von Patienten mit Long Covid nicht rascher voranschreitet. Um ein Gefühl für das Ausmaß zu vermitteln: Wenn die Zahl der Langzeit-Covid-Patienten jedes Jahr um nur 10 % zunimmt, werden sich die jährlichen Kosten für den Lohnausfall in zehn Jahren auf eine halbe Billion Dollar belaufen.