Es ist nach so vielen Monaten nun wirklich auch mehr als verständlich – kaum noch ein Mensch möchte was von Corona hören. Für viele ist der Spuk nun vorbei, man kann wieder zum alten Leben zurückkehren und versucht das auch. Wenn es denn so einfach wäre, wenn Covid-19 tatsächlich der Vergangenheit zugeschrieben werden könnte. Wenn …
Wenn man nicht beispielsweise einer der vielen Arbeitgeber in diesem Land wäre, die in diesen Sommertagen die Erfahrung machen müssen, dass die Pandemie wahrlich nicht vorbei ist, zumindest wenn man das misst an den Schneisen, die das derzeit aktive Virus in die Belegschaften schlägt. Zur Urlaubszeit kommen nun auch noch zahlreiche Personalausfälle aufgrund der Infektionen, die mit entsprechenden Arbeitsunfähigkeiten einhergehen. Und das macht sich natürlich vor allem dort bemerkbar, wo man nicht abtauchen kann in das Homeoffice, wo Schichten gefüllt werden müssen, wo Präsenz zur Arbeitsplatzbeschreibung gehört. Ein Beispiel gefällig aus einem Bereich, der schon unter „Normalitätsbedingungen“ von einem permanenten Mangel an Personal charakterisiert ist?
Eine der vielen Meldungen aus dieser Ecke der realen Welt geht so: Corona sorgt für Personal-Engpässe in Praxen und Kliniken: »Konkret schließt das Universitätsklinikum Schleswig-Holstein (UKSH) an den beiden Standorten Kiel und Lübeck Stationen – wegen vieler Corona-Fälle in der Belegschaft. Auch das Patientenaufkommen in der Notaufnahme und in der stationären Versorgung sei erheblich gestiegen, teilte das Klinikum am Mittwoch mit. Deutlich mehr Patientinnen und Patienten müssten mit und wegen einer Corona-Infektion mit hohem Aufwand versorgt werden. Das Uniklinikum kündigte an, dass es zu Wartezeiten und Einschränkungen in der Versorgung planbarer, nicht verschiebbarer Eingriffe oder von Arztbesuchen kommen werde. Gegebenenfalls sollen zudem vorerst nur noch dringliche, nicht verschiebbare Operationen erfolgen. Den Mitarbeitern wurden alle Dienstreisen bis auf Weiteres untersagt.« Auch andere, ganz „normale“ Betriebe melden außergewöhnlich hohe Ausfallquoten, die maßgeblich auf Corona-Infektionen zurückzuführen sind.
Nun könnte man argumentieren, dass das sicherlich momentan ein Ärgernis ist und es dadurch zu erheblichen Problemen im Arbeitsablauf kommen muss. Aber die meisten Fälle beschränken sich doch auf die Quaräntezeiten und die Verläufe der Infektionen werden von vielen als halbwegs erträglich, von manchen gar als nicht der Rede wert beschrieben. Insofern wird sich das dann schon schnell wieder einpendeln.
Wenn … ja, das ist es wieder, dieses Wenn.
Wenn da nicht diejenigen wären, die vormals ihre Frau oder ihren Mann gestanden haben, die normal oder noch mehr gearbeitet und den Laden am Laufen gehalten haben – und die eben nicht wieder nach einer überschaubaren, kurzen Unterbrechung wieder zurückkommen in den Betrieb und dort so weiterarbeiten wie vorher. Wenn die für Wochen, für Monate und möglicherweise auf Dauer und für immer ausfallen, weil sie von diesem Long bzw. Post Covid erwischt worden sind, das angeblich auch vormals kerngesunde und sportlich aufgestellte Menschen aus ihrem bisherigen Kontext zu reißen in der Lage ist.
Long oder Post Covid – was es mit diesen Begriffen auf sich hat
Meistens taucht in den Medien seit geraumer Zeit der Begriff Long Covid auf, in der Fachdiskussion stößt man dann auch auf den Begriff Post Covid. Bei der akuten Infektion mit dem Corona-Virus bestehen Symptome für bis zu vier Wochen. Von Long-COVID wird gesprochen, wenn danach neue Symptome hinzukommen oder diese länger als vier Wochen bestehen bleiben. Lassen sich diese nach zwölf Wochen nicht durch eine andere Diagnose erklären, spricht man vom Post-COVID-19(-Syndrom)«, so Frederik Trinkmann und Felix J. F. Herth in ihrem Beitrag „Long- und Post-COVID im Fokus“, veröffentlicht in der Pflegezeitschrift, Heft 5/2022.
Was muss man sich darunter vorstellen? Naheliegend ist der Besuch des zuständigen Robert Koch-Instituts (RKI), denn die müssen uns doch aufklären können, was es damit auf sich hat?
Und tatsächlich bietet das RKI diese hilfreichen Seite an: Gesundheitliche Langzeitfolgen, so ist die überschrieben. Auf die Frage „Was ist Long-COVID/Post-COVID?“ kann man den Ausführungen entnehmen: »Im Zusammenhang mit einer vorangegangenen SARS-CoV-2-Infektion sind zahlreiche mögliche gesundheitliche Langzeitfolgen beobachtet worden. Hierzu zählt eine Vielfalt körperlicher, kognitiver und psychischer Symptome, welche die Funktionsfähigkeit im Alltag und Lebensqualität negativ beeinflussen. Die Beeinträchtigungen treten entweder bereits in der akuten Erkrankungsphase auf und bleiben längerfristig bestehen, oder sie treten im Verlauf von Wochen und Monaten nach der Infektion (wieder) auf. Dabei wird über sehr unterschiedliche Symptome berichtet, die allein oder auch in Kombination auftreten und von sehr unterschiedlicher Dauer sein können. Bislang lässt sich daher kein einheitliches Krankheitsbild abgrenzen.« Das hört sich doch ziemlich unkonkret an. »Der Begriff „Long-COVID“ wurde zunächst den in sozialen Medien durch Personen geprägt, die nach einer SARS-CoV-2-Infektion über langanhaltende gesundheitliche Einschränkungen berichteten.«
»Die bereits Ende 2020 veröffentlichte Leitlinienempfehlung des britischen National Institute for Health and Care Excellence (NICE) definiert „Long-COVID“ als gesundheitliche Beschwerden, die jenseits der akuten Krankheitsphase einer SARS-CoV-2-Infektion von 4 Wochen fortbestehen oder auch neu auftreten. Als Post-COVID-Syndrom werden Beschwerden bezeichnet, die noch mehr als 12 Wochen nach Beginn der SARS-CoV-2-Infektion vorhanden sind und nicht anderweitig erklärt werden können. Somit umfasst „Long-COVID“ sowohl im Anschluss an eine akute COVID-19-Erkrankung 4 bis 12 Wochen nach Symptombeginn noch bestehende Symptome als auch das „Post-COVID-19-Syndrom“. Auch die deutsche S1-Leitlinie zu Post-COVID/Long-COVID der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften (AWMF) nimmt eine zeitliche Abgrenzung in Anlehnung an NICE vor.«
Und was muss man sich nun genauer unter diesem Long Covid vorstellen?
»Zu den in wissenschaftlichen Studien am häufigsten beobachteten Symptomen, die einzeln oder in Kombination auftreten können, gehören Müdigkeit, Erschöpfung und eingeschränkte Belastbarkeit (sog. Fatigue), Kurzatmigkeit, Konzentrations- und Gedächtnisprobleme (sog. „brain fog“), Schlafstörungen, Muskelschwäche und -schmerzen, psychische Probleme, wie z. B. depressive Stimmung und Angstsymptome, sowie Riech- und Schmeckstörungen … Die Symptome sind mit einer Beeinträchtigung der Lebensqualität … und Einschränkungen der Funktionsfähigkeit im Alltag assoziiert.«
➔ »Bei einem Teil der Personen entwickelt sich infolge der SARS-CoV-2-Infektion zudem ein Symptomkomplex, der Ähnlichkeit mit dem chronischen Erschöpfungssyndrom (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrom, ME/CFS) aufweist. Die Ursachen für CFS/ME sind bislang ebenfalls ungeklärt, Immunreaktionen nach Virusinfektionen spielen nach bisherigen Erkenntnissen eine wichtige Rolle. Schwere chronische Beeinträchtigungen der körperlichen und psychischen Funktionsfähigkeit und eine ausgeprägte Verschlechterung nach leichter körperlicher Belastung sind charakteristisch für das Krankheitsbild einer ME/CFS und haben bleibende Behinderungen bei der Ausübung von Alltagsfunktionen und Verluste an Lebensqualität und gesellschaftlicher Teilhabe zu Folge.«
Immer wieder wird berichtet von bleibenden Schädigungen der Lunge und damit einhergehenden Verschlechterungen der Lungenfunktion, Einschränkungen der Nierenfunktion, Herz-Kreislauf-Erkrankungen (z. B. Herzmuskelentzündungen, Herzinfarkt, Schlaganfall und Thromboembolien) und Diabetes mellitus. »Auch eine Anfang 2022 publizierte Studie aus Deutschland berichtete signifikant häufigere zuvor nicht bekannte Multi-Organ-Schädigungen bei Erwachsenen im Alter von 45-74 Jahren mit überwiegend mildem Krankheitsverlauf nach gesicherter SARS-CoV-2-Infektion im Vergleich zu einer Kontrollgruppe«, so das RKI.
Aber auch hier stößt man immer wieder auf das hier: »Die ursächlichen Zusammenhänge zu einer vorangegangenen SARS-CoV-2-Infektion sind hierbei noch nicht geklärt.« Oder beim Hinweis auf das Krankheitsbild einer ME/CFS: »Bislang ist unklar, wie groß der Anteil der so betroffenen Personen nach SARS-CoV-2-Infektion ist.«
Aber wie viele „haben“ denn nun Long Covid?
Kommt darauf an …
Natürlich ist die Frage, wie viele denn von diesem Long Covid betroffen sind, berechtigt. Aber sie ist derzeit offensichtlich einfacher gestellt als dass man sie auch nur ansatzweise seriös beantworten kann. Was sagt das RKI dazu?
»Wie häufig gesundheitliche Langzeitfolgen nach einer COVID-19-Erkrankung auftreten, kann noch nicht verlässlich geschätzt werden. Je nach Datenbasis, Falldefinition und Studienmethodik (wie z. B. der Dauer der Nachbeobachtungszeit, der Anzahl der erfassten Symptome und Gesundheitsprobleme oder dem Vorhandensein einer Kontrollgruppe) kommen unterschiedliche Studien zu sehr unterschiedlichen Schätzungen.
So zeigt eine Bestandsaufnahme von 23 Übersichtsarbeiten und 102 Originalarbeiten, dass der Anteil von Erwachsenen mit gesundheitlichen Langzeitfolgen einer SARS-CoV-2-Infektion in Studien von Erwachsenen, die nicht wegen COVID-19 im Krankenhaus behandelt werden mussten, stark variierte und zwischen 7,5% und 41% lag. Bei Erwachsenen, die wegen einer COVID-19-Erkrankung im Krankenhaus behandelt werden mussten, wurden bei 37,6% gesundheitliche Langzeitfolgen berichtet.« (Hervorhebungen nicht im Original).
Das RKI hebt die lückenhafte Datenlage hervor. Hier nur einige einige wenige Befunde, die vom RKI erwähnt werden:
➔ »Basierend auf einer dreiwöchigen Online-Befragung in einer nicht repräsentativen Stichprobe von 338 medizinischen Rehabilitations-Einrichtungen (dies entspricht 31% aller Einrichtungen), welche von der Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) im September und Oktober 2021 durchgeführt wurde, hatten 7,1% der Reha-Patientinnen und Patienten eine Post-COVID-(Zusatz-)Diagnose.«
Quelle: Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation (BAR) (2021): Long COVID in der medizinischen Rehabilitation. Bestandsaufnahme in Reha-Einrichtungen, Frankfurt am Main 2021
➔ »Analysen von ambulanten Versorgungsdaten in einer repräsentativen Stichprobe von Arztpraxen in Deutschland zeigten, dass 5,8% der Erwachsenen mit COVID-19-Diagnose mindestens 4 Wochen nach der Diagnosestellung noch krankgeschrieben waren.«
➔ »Darüber hinaus berichten einige Studien, dass Patientinnen und Patienten nach einer vorangegangenen COVID-19-Erkrankung z. T. über Wochen bis Monate arbeitsunfähig sind – unabhängig davon, ob ein Post-COVID-Zustand erkannt und diagnostiziert wurde.«
➔ »Nach Angaben der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV) wurden bereits für 132.153 Menschen Berufskrankheiten1 in Zusammenhang mit COVID-19 anerkannt (Stand 28.02.2022).«
1 Berufskrankheiten werden bei Personen erfasst und können anerkannt werden, die infolge ihrer Tätigkeit im Gesundheitsdienst, in der Wohlfahrtspflege oder in einem Laboratorium mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 infiziert werden und deshalb an COVID-19 erkranken.
➔ »Nach einer SARS-CoV-2-Infektion wird zudem eine häufigere Inanspruchnahme von Gesundheitsleistungen wegen körperlicher und psychischer Neuerkrankungen berichtet, sowie ein vermehrter Medikationsbedarf und eine höhere Sterblichkeit.« Vgl. dazu das systematische Review von Ani Nalbandian et al. 2021).
➔ »Darüber hinaus zeigt eine deutsche Kohortenstudie bei hospitalisierten COVID-19-Erkrankten eine 180-Tages-Mortalität von 30% und eine Re-Hospitalisierungsrate von 27%.« Vgl dazu Günster et al. 2021.
Angeblich immer mehr Long Covid-Fälle einerseits, anderseits tappt die Bundesregierung im Dunkeln
Es wurde bereits darauf hingewiesen, dass sich bei einem Teil der Personen infolge der SARS-CoV-2-Infektion ein Symptomkomplex entwickelt, der Ähnlichkeit mit dem chronischen Erschöpfungssyndrom (Myalgische Enzephalomyelitis/Chronic Fatigue Syndrom, ME/CFS) aufweist. Das findet man dann wieder in solchen Berichten:
»In einer öffentlichen Anhörung hat sich der baden-württembergische Landtag … mit der weitgehend unbekannten Erschöpfungserkrankung ME/CFS befasst. In Deutschland gibt es 300.000 Betroffene. Durch die Folgen von Corona-Infektionen steigen die Zahlen aktuell deutlich an. Massive Erschöpfung und körperliche Schwäche sind Hauptmerkmale der neuroimmunologischen Erkrankung ME/CFS«, so diese Meldung: Immer mehr Long-Covid-Fälle in BW: Erschöpfungserkrankung ME/CFS macht Sorgen. »Mehr als die Hälfte der Betroffenen seien arbeitsunfähig, ein Viertel aller Patienten könne das Haus nicht mehr verlassen, so Professorin Carmen Scheibenbogen von der Berliner Charité. Schon vor Beginn der Pandemie habe es allein in Baden-Württemberg mindestens 30.000 chronisch Erkrankte gegeben, durch Long Covid nehme die Zahl rasant zu.«
Aber auch hier bewegen wir uns auf sehr unsicherem Terrain was die Befundlage angeht: »Die Bundesregierung hat noch keine gesicherten Erkenntnisse zur Zahl und Zunahme der Zahl der Patienten mit Myalgischer Enzephalomyelitis/ Chronischem Fatigue-Syndrom (ME/CFS) in Deutschland. Patientenverbände fordern eine bessere Diagnostik und Versorgung. Ein entsprechender Bericht, der dafür als Grundlage dienen soll, wird aber nicht vor 2023 fertiggestellt werden«, kann man hier nachlesen: Long COVID und ME/CFS: Bundesregierung tappt im Dunkeln. »ME/CFS wird immer mehr zum Politikum: Die noch vor wenigen Jahren kaum bekannte Krankheit erhält in der jüngeren Vergangenheit immer mehr Aufmerksamkeit – nicht zuletzt, weil derzeit ein Zusammenhang zu Long COVID vermutet wird. Die Bundesregierung verweist auf das Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG), das in seinem Berichtsplan vom Juni 2021 auf Schätzungen verweist, nach denen in Deutschland 300.000 bis 400.000 Personen an ME/CFS erkrankt sind. Für die jüngst häufig kolportierte Aussage, dass in Deutschland mit 100.000 zusätzlichen Erkrankungen an ME/CFS in Folge von COVID-19 zu rechnen ist, gebe es aus Sicht der Bundesregierung jedoch „keine hinreichenden Belege“.«
Daten aus dem Ausland – eine Auswahl
»Nach Schätzung des britischen Statistikamtes haben im April rund zwei Millionen Briten Long COVID gehabt. Das entspricht rund 3,1 Prozent der Bevölkerung«, so diese Meldung vom 1. Juni 2022: Statistikamt: Zwei Millionen Briten haben Long-COVID-Symptome: »Bei der Erhebung der Behörde galten Menschen als Betroffene von Long COVID, wenn sie auch vier Wochen nach ihrer Infektion nach eigenen Angaben noch entsprechende Symptome hatten, die nicht auf andere Gründe zurückzuführen waren. Vom 4. April bis 1. Mai wurden rund 300.000 Menschen befragt. 71 Prozent der Long-COVID-Betroffenen gaben der Statistik zufolge an, durch die Beschwerden in ihrem Alltag eingeschränkt oder belastet zu sein, jeder Fünfte war nach eigenen Angaben sehr stark eingeschränkt.In Gesundheits- und Pflegeberufen sowie in ärmeren Regionen waren mehr Menschen betroffen als in anderen. Außerdem litten mehr Frauen an Long COVID als Männer … Mehr als 70 Prozent spürten auch mehr als zwölf Wochen nach ihrer Infektion noch Symptome.« Mehr dazu im Original: ONS (2022): Prevalence of ongoing symptoms following coronavirus (COVID-19) infection in the UK: 1 June 2022. Methodisch zu beachten ist der Tatbestand, dass es sich um „self-reported long COVID“ handelt.
Aus anderen Ländern liegen aber auch Auswertungen vor, die nicht auf Umfragen, sondern auf der Analyse von Krankenakten basieren. Über ein Beispiel berichtet das Deutsche Ärzteblatt unter der Überschrift COVID-19: Studie findet hohe Krankheitslast durch Long COVID. Lara Bull-Otterson et al. von den Centers for Disease Control and Prevention (CDC) in Atlanta und Mitarbeiter haben die „Cerner Real-World“-Datenbank ausgewertet. Sie umfasst die elektronischen Krankenakten von 63,4 Mio. Erwachsenen in den USA. Darunter waren 353.164 Erwachsene, die zuvor an COVID-19 erkrankt waren oder positiv auf SARS-CoV-2 getestet wurden. Die Forscher haben das Auftreten von insgesamt 26 Gesundheitsstörungen im Zeitraum von 30 bis 365 Tagen nach der COVID-19-Diagnose mit jeweils 5 Kontrollpersonen verglichen, die sich wegen derselben Störung an einen Arzt gewendet hatten, ohne vorher an COVID-19 erkrankt gewesen zu sein. Eine solche Fall-Kontrollstudie ist ein einfaches Instrument, um Erkrankungsrisiken zu ermitteln. Die CDC-Epidemiologen fanden heraus, dass die Ärzte bei Erwachsenen im Alter von 18 bis 65 Jahren bei 35,4 % der früheren COVID-19-Patienten eine oder mehrere der 26 Störungen notiert hatten gegenüber 14,6 % in der Kontrollgruppe.
Die Differenz von 20,8 %-Punkten zeigt an, dass 1 von 5 Patienten unter einer Störung litt, die er ohne COVID-19 vermutlich nicht gehabt hätte. Bei den Senioren gaben 45,4 % nach COVID-19 und 18,5 % ohne COVID-19 eine Störung an. Die Differenz von 26,9 %-Punkten könnte bedeuten, dass etwa 1 von 4 Patienten ein Long COVID entwickelt hat. Am häufigsten ließen sich Atemwegsbeschwerden auf COVID-19 zurückführen. Bull-Otterson ermittelt für eine akute Lungenembolie ein relatives Risiko (RR) von 2,2 für Senioren und von 2,1 für Patienten im Alter von 18 bis 64 Jahren. Atemwegssymptome traten ebenfalls mehr als doppelt so häufig auf wie in der Kontrollgruppe (RR 2,1 für beide Altersgruppen). Bei Patienten im Alter ab 65 Jahren waren die relativen Risiken für alle 26 Symptome signifikant. Die RRs reichten von 1,2 (Substanzabhängigkeit) bis 2,2 (akute Lungenembolie). Bei Patienten im Alter von 18 bis 64 Jahren traten 22 der 26 Störungen signifikant häufiger auf. Die RRs reichten von 1,1 (Angststörungen) bis 2,1 (akute Lungenembolie).
Und dann kommt eine hier wichtige Schlussfolgerung:
»Die Studie bestätigt frühere Untersuchungen, in denen die Inzidenz von Long COVID auf 20 % bis 30 % geschätzt wurde. Es ist allerdings möglich, dass die Zahlen die Bedeutung überschätzen.«
Die mögliche Überschätzung des Wertes wird so begründet: »Das mediale Interesse an der Störung könnte dazu geführt haben, dass sich Patienten nach COVID-19 eher wegen allgemeiner Beschwerden an einen Arzt gewandt haben, was in Fall-Kontrollstudien leicht zu einer Verzerrung führen kann.«
Und mit Blick auf die vor uns liegenden – möglichen – Herausforderungen für die Systeme der gesundheitlichen Versorgung ist das hier besonders relevant:
»Die Beteiligung einiger chronischer Störungen wie Typ-2-Diabetes, Nierenfunktionsstörungen oder Asthma lässt befürchten, dass Long COVID zu dauerhaften Einschränkungen der Gesundheit führen kann. Angesichts von bisher schon mehr als 83 Mio. Erkrankungen in den USA könnte Long COVID zu langfristigen Belastungen für das Gesundheitswesen und die Volkswirtschaft führen, befürchtet Bull-Otterson.«
Hier das Original:
➔ Lara Bull-Otterson et al. (2022): Post–COVID Conditions Among Adult COVID-19 Survivors Aged 18–64 and ≥65 Years — United States, March 2020–November 2021, Morbidity and Mortality Weekly Report (MMWR), May 27, 2022 / 71 (21); 713–717
Und aus den USA erreichen uns weitere neue Zahlen, die das National Center for Health Statistics vorgelegt hat, hier wieder Umfragedaten:
➔ Nearly One in Five American Adults Who Have Had COVID-19 Still Have “Long COVID” (22.06.2022)
Neue Daten aus dem Household Pulse Survey zeigen, dass mehr als 40 % der Erwachsenen in den Vereinigten Staaten angaben, in der Vergangenheit an COVID-19 erkrankt zu sein, und fast jeder Fünfte (19 %) von ihnen hat derzeit immer noch Symptome, wird also den Long Covid-Fällen zugeordnet.
Für alle Erwachsenen in den USA zeigen die neuen Daten:
➞ Insgesamt hat einer von 13 Erwachsenen in den USA (7,5 %) Long Covid-Symptome, d. h. Symptome, die drei oder mehr Monate nach der ersten Ansteckung mit dem Virus anhalten und die sie vor ihrer COVID-19-Infektion nicht hatten.
➞ Ältere Erwachsene haben seltener Long Covid-Symptome als jüngere Erwachsene. Fast dreimal so viele Erwachsene im Alter von 50-59 Jahren haben derzeit Long Covid wie diejenigen, die 80 Jahre und älter sind.
➞ Bei Frauen ist die Wahrscheinlichkeit von Long Covid höher als bei Männern (9,4 % vs. 5,5 %).
➞ Fast 9 % der hispanischen Erwachsenen haben derzeit Long Covid, mehr als die nicht-hispanischen weißen (7,5 %) und schwarzen (6,8 %) Erwachsenen, und mehr als doppelt so viel wie die nicht-hispanischen asiatischen Erwachsenen (3,7 %).
➞ Es wird auch über erhebliche regionale Unterschiede berichtet:
Die Prävalenz aktueller langer COVID-Symptome ist von Staat zu Staat unterschiedlich. Die Staaten mit dem höchsten Prozentsatz an Erwachsenen, die derzeit Long Covid-Symptome haben, waren Kentucky (12,7 %), Alabama (12,1 %) sowie Tennessee und South Dakota (11,6 %). Die Staaten mit dem niedrigsten Prozentsatz an Erwachsenen waren Hawaii (4,5 %), Maryland (4,7 %) und Virginia (5,1 %).
Und wie sieht es aus bei Kindern und Jugendlichen?
Auch Kinder und Jugendliche können von gesundheitlichen Langzeitfolgen einer SARS-CoV-2-Infektion oder COVID-19-Erkrankung betroffen sein. Dabei unterscheidet sich die Art der Symptome, die bei Kindern und Jugendlichen beschrieben sind, nicht wesentlich von denjenigen, die für Erwachsene berichtet werden. Allerdings beziehen sich die bisherigen wissenschaftlichen Studien zu gesundheitlichen Langzeitfolgen nach einer SARS-CoV-2-Infektion überwiegend auf Erwachsene. Die Datenlage bei Kindern und Jugendlichen ist nach wie vor sehr eingeschränkt.
➔ Das RKI weist auf folgende Erkenntnisse hin: In der bislang größten Nachbeobachtung von Kindern und Jugendlichen mit Krankenhausbehandlung wegen COVID-19, hatten etwa ein Viertel der Kinder und Jugendlichen auch mehrere Monate nach Entlassung noch mindestens ein gesundheitliches Problem. Bevölkerungsbezogene oder selbst selektionierte Stichprobenuntersuchungen, welche auch Kinder und Jugendliche mit leichteren oder wenig symptomatischen Verläufen einer COVID-19-Erkrankung einbeziehen, berichten hingegen ein geringeres Vorkommen von Symptomen, die über die akute Krankheitsphase von 4 Wochen nach Infektion bzw. nach Krankheitsbeginn hinaus noch vorliegen. Eine aktuelle Übersichtsarbeit zu entsprechenden Studien berichtet Häufigkeiten von 2 % – 3,5 % bei überwiegend nicht hospitalisierten Kindern.
➔ Saskia Heinze berichtet in ihrem Artikel Long Covid bei Kindern: Wie hoch ist das Risiko für Spätfolgen?: »Müde, konzentrationsschwach, abgeschlagen: Auch Kinder und Jugendliche können Corona-Spätfolgen entwickeln. Genaue Daten dazu, wie genau und wie oft und lange sich Long Covid bei den Jüngsten äußert, sind bislang allerdings rar. Eine Kontrollstudie aus Dänemark liefert nun neue Hinweise. Es sei die bislang größte Untersuchung in dieser Altersgruppe.« Darin wird ausgeführt: »Null- bis 14-Jährige, sowohl mit bestätigter Corona-Infektion (11.000 Teilnehmende) als auch ohne (33.000 Teilnehmende), wurden dafür über einen längeren Zeitraum beobachtet. Das Ergebnis: Kinder, die sich nachgewiesenermaßen mit Corona angesteckt hatten, entwickelten etwas häufiger für Long Covid typische Symptome als in der Kontrollgruppe. Diese dauerten zwei Monate oder länger an.« Auch hier der methodisch wichtige Hinweis: Die Ergebnisse beruhen auf Umfragen unter den Studienteilnehmenden und ihren Eltern.
Hier die Studie im Original, auf die sich Heinze bezieht:
➞ Selina Kikkenborg Berg et al. (2022): Long COVID symptoms in SARS-CoV-2-positive children aged 0–14 years and matched controls in Denmark (LongCOVIDKidsDK): a national, cross-sectional study, June 2022
Die Daten decken sich mit Ergebnissen anderer Studien.
➔ Dass Kinder und Jugendliche im Zuge einer Corona-Infektion Spätfolgen entwickeln können, wenngleich offenbar seltener als Erwachsene, zeigte Anfang Februar auch eine internationale Nachbeobachtungsstudie unter Beteiligung der Universitäten Magdeburg und Leipzig.
»Die Forscher kamen zu dem Ergebnis, dass etwa ein Viertel der Kinder, die wegen Covid-19 im Krankenhaus behandelt werden mussten, auch mehrere Monate nach Entlassung noch mindestens ein gesundheitliches Problem wie Müdigkeit oder Schlafstörungen hatte. Bei Kindern und Jugendlichen, die Covid-19 zu Hause auskurieren, scheint Long Covid hingegen deutlich seltener vorzukommen, verdeutlicht eine Arbeit aus der Schweiz und den USA von Anfang März.«
Erste Befunde aus einer Noch-Schattenwelt. Was das für die Teilsysteme der gesundheitlichen Versorgung bedeuten kann
Natürlich ist die hier auch nur ausschnitthafte präsentierte Bestandsaufnahme dessen, was wir (nicht) wissen über dieses Long Covid für die meisten eher frustrierend, erwartet man doch eindeutigere Befunde und Einordnungen und nicht so viele Fragezeichen. Aber so ist das eben mit dem wissenschaftlichem Arbeiten, das braucht nun einmal Zeit und es eignet sich nicht für Schnellschüsse.
Auf der anderen Seite kann man den in ersten Umrissen vorliegenden Befunden über Long Covid entnehmen, dass sowohl die individuelle Dimension des Themas (also neben der immer noch nicht selbstverständlichen Anerkennung, dass man von einem neuen, diffusen Krankheitsbild betroffen sein kann, eine adäquate Diagnostik und Therapie) wie aber auch die gesellschaftlichen Aspekte (beispielsweise die Folgewirkungen in Unternehmen, die möglicherweise mit lang andauernden Personalausfällen oder gar dem dauerhaften Ausscheiden von Mitarbeitern konfrontiert sein werden) nicht als ein vorübergehender Sturm im Wasserglas verstanden werden dürfen, dass sich das Thema also gleichsam von selbst erledigen wird. Damit wird man nicht rechnen können. Auf der anderen Seite zeigen die bislang vorliegenden Studien auch nicht, dass wir es mit einem katastrophalen Szenario zu tun bekommen. Wie so oft liegt die Annäherung an die Wahrheit irgendwo in der Mitte.
Es bleibt – sowohl aus der individuellen Sicht wie auch aus der gesellschaftlichen Perspektive hoch relevant – die Frage, ob und wie die Systeme der Gesundheitsversorgung auf dieses Long Covid eingestellt, vorbereitet und handlungsfähig sind.
Frederik Trinkmann und Felix J. F. Herth geben in ihrem Beitrag „Long- und Post-COVID im Fokus“, veröffentlicht in der Pflegezeitschrift, Heft 5/2022, diese Hinweise:
»Bei Long-COVID/Post-COVID handelt es sich um ein komplexes Krankheitsbild, das eine ganzheitliche Betrachtungsweise erfordert. Dies steht daher in einem deutlichen Gegensatz zur immer weiter zunehmenden (Sub)Spezialisierung unseres Gesundheitssystems. Hieraus lassen sich viele Herausforderungen für den praktischen Alltag ableiten … So kommt der primär-ärztlichen Versorgung durch den Hausarzt eine immense Bedeutung zu. Bei klinisch stabilem Verlauf kann zunächst ein abwartendes Vorgehen empfohlen werden. Bei einer klinischen Verschlechterung oder Unklarheiten ist eine Überweisung und weiteren Abklärung beim jeweiligen Organspezialisten sinnvoll. Evidenzbasiert gesicherte therapeutische Interventionen speziell bei Long-CO- VID/Post-COVID sind bislang nicht bekannt. Derzeit erscheint eine an das jeweils betroffene Organsystem angepasste symptomatische Therapie zielführend. Auch Allgemeinmaßnahmen wie Physiotherapie, Ergotherapie und insbesondere eine stationäre Rehabilitation kann bei bleibenden Funktionsdefiziten von erheblicher Bedeutung sein.
Typische Symptome umfassen neben Erschöpfung („Fatigue“) vor allem Luftnot und Husten. Vor dem Hintergrund einer fehlenden kausalen Therapie der Fatigue ist es umso wichtiger, frühzeitig realistische Ziele zu definieren. Diese sind vor allem Symptome zu lindern und eine Chronifizierung zu vermeiden. Das lässt sich durch eine Kombination aus Schlafhygiene, Schmerztherapie, Stressreduktion und körperlicher Aktivität erreichen. Sollten sich ambulante Maßnahmen als nicht ausreichend erweisen, kann eine stationäre Rehabilitation angezeigt sein. Auch die psychosomatische Grundversorgung kann helfen, eine Chronifizierung zu vermeiden.« (Trinkmann/Herth 2022: 29 f.).
Diese Hinweise sind naturgemäß vor dem Hintergrund der unsicheren Befundlage als vorläufig zu verstehen. Aber die systemrelevanten Fragen schließen sich unmittelbar an: Wenn wir von tausenden Fällen ausgehen, die im bestehenden System behandelt bzw. rehabilitativ begleitet werden sollen und müssten – gibt es dafür die Kapazitäten? Und was passiert mit anderen Patienten, wenn es eine Umverteilung im bestehenden Begrenzten geben sollte, beispielsweise durch mediale Berichte über eine Unterversorgung von Long Covid-Fällen induziert? Und jenseits der damit verbundenen kurzfristigen Therapiekosten wird eine entscheidende Frage die sein, wie hoch die mittel- und langfristigen Kosten von Long Covid anzusetzen sind, die vor allem bei dauerhafter Arbeitsunfähigkeit entstehen werden – und die zugleich eine existenzgefährdende individuelle Dimension beinhalten, was auf die Frage abstellt, wie die „harten“ Long Covid-Fälle materiell (nicht) abgesichert sind.
Noch viele offene Fragen, die zum jetzigen Zeitpunkt schlichtweg nicht zu beantworten sind. Zugleich sollte man die möglichen zusätzlichen Anforderungen an das System der gesundheitlichen Versorgung, die aus der Long Covid-Problematik generiert werden, keinesfalls negieren oder nach dem Prinzip der drei Affen verfahren.