Zur Höhe der Hartz IV- bzw. „Bürgergeld“-Leistungen: Die einen geben Gas und gleichzeitig wird gebremst, andere machen sich auf den Weg zum Bundesverfassungsgericht

Mehr als zwei Corona-Jahre liegen hinter uns – mit zahlreichen ausgabenintensiven Rettungsprogrammen und anderen Pandemiebekämpfungsmaßnahmen. Aber eine Verschnaufpause wird nicht gewährt – schon seit Mitte des vergangenen Jahres kommt eine rasant steigende Inflation hinzu und seit dem 24. Februar 2022 ist mit dem Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine und damit einhergehend den massiven Verwerfungen aufgrund der fatalen Abhängigkeit Europas und insbesondere Deutschlands von russischen Energielieferungen mit der Perspektive schwerster Belastungen der Haushalte und Unternehmen im Herbst/Winter dieses Jahres sowieso alles anders. Und die Bundesregierung hat bereits in den zurückliegenden Wochen mit ersten Entlastungsmaßnahmen auf die Preisentwicklung zu reagieren versucht, konkret sind innerhalb weniger Wochen zwei Entlastungspakete mit einem Gesamtvolumen von etwa 30 Mrd. Euro verabschiedet worden (vgl. dazu Dullien et al. 2022: Die Entlastungspakete der Bundesregierung – Ein Update). Die Analyse der Entlastungen zeigt für eine Reihe von unterschiedlichen Haushaltstypen, dass Haushalte mit Erwerbstätigen über alle Einkommensgruppen spürbar entlastet werden. Dabei werden insbesondere Erwerbstätigen-Haushalte mit geringen und mittleren Einkommen begünstigt. Auch Menschen in der Grundsicherung werden sehr deutlich entlastet.

Mit Blick auf die Menschen am unteren Ende bilanzieren die Wissenschaftler des IMK ergänzend: »Eine soziale Schieflage ist bei der Behandlung von Nichterwerbstätigen, wie Menschen im Ruhestand, zu beobachten: Hier fällt die Entlastung auch bei Haushalten mit niedrigem Einkommen sehr gering aus, sofern diese keinen Anspruch auf den Heizkostenzuschuss oder ergänzende Grundsicherung haben oder wahrnehmen.«

Nun ist der durchschnittliche Anstieg der Inflationsrate das eine, aber eben ein Durchschnittswert – und gerade bei den Gütergruppen, die bei den unteren Einkommensgruppen einen überdurchschnittlichen Anteil der Ausgaben ausmachen, haben wir Preissteigerungsraten, die weit über dem an sich schon hohen Durchschnitt liegen. Konkret geht es um die Energie- und Nahrungsmittelpreise:

Die eskalierende Inflationsentwicklung war schon im vergangenen Jahr Thema, als es um die jährliche Dynamisierung der Regelsätze im Grundsicherungssystem ging, denn zum 1. Januar 2022 wurden die Regelbedarfe nur um 0,76 Prozent erhöht. Wir sprechen hier von drei Euro mehr für Erwachsene und zwei Euro für Kinder – pro Monat.

Wie war das mit dem „zeitnahen Inflationsausgleich“ in der Grundsicherung? Jetzt soll das in Karlsruhe geklärt werden

Bereits am 11. Oktober 2021 wurde hier dieser Beitrag veröffentlicht: Eine „versteckte“ Kürzung? Zur Kritik an der Regelbedarfsanpassung in der Grundsicherung und eine juristische Lanze in Richtung verfassungswidrige Unterdeckung des menschenwürdigen Existenzminimums. Darin wurde aus einem Appell an den Bundesarbeitsminister zitiert: »Es braucht eine rote Linie bei existenzsichernden Leistungen wie Hartz IV. Preissteigerungen müssen immer und zeitnah mindestens ausgeglichen werden. Es gilt umgehend zu handeln, um die versteckten Kürzungen bei den Ärmsten in unserer Gesellschaft zu stoppen.«

Die Forderung nach einem „zeitnahen Ausgleich“ von Preissteigerungen ist nicht aus der aktivistischen Luft gegriffen, sondern man kann sich hier durchaus berufen auf eine entsprechende Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, konkret auf zwei Urteile des BVerfG aus den Jahren 2010 und 2014:

Der Gesetzgeber hat … Vorkehrungen zu treffen, auf Änderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel Preissteigerungen oder Erhöhungen von Verbrauchsteuern, zeitnah zu reagieren, um zu jeder Zeit die Erfüllung des aktuellen Bedarfs sicherzustellen, insbesondere wenn er wie in § 20 Abs. 2 SGB II einen Festbetrag vorsieht.
(BVerfG 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 ua, Rn. 140)

Ist eine existenzgefährdende Unterdeckung durch unvermittelt auftretende, extreme Preissteigerungen nicht auszuschließen, darf der Gesetzgeber dabei nicht auf die reguläre Fortschreibung der Regelbedarfsstufen warten. 
(BVerfG 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 ua, Rn. 144)

Schon im vergangenen Jahr gab es aus den Reihen der Opposition einen Antrag, der im November 2021 die damals neue Ampel-Regierung aufgefordert hat: »Die Regelsätze müssen daher zum 1.1.2022 mit einer Veränderungsrate von mindestens 5 Prozent fortgeschrieben werden, nur um den realen Preisanstieg auszugleichen.« Vgl. dazu den Beitrag Die Sicherung des Existenzminimums durch einen zeitnahen Inflationsausgleich in der Grundsicherung? Vom Bundesverfassungsgericht auf die Antragsebene im Bundestag vom 23. November 2021. Daraus ist bekanntlich nichts geworden.

Nun aber erreichen uns solche Meldungen: Sozialverbände klagen für höhere Grundsicherung: »VdK und SoVD: Bundesregierung verstößt gegen ihren verfassungsmäßigen Auftrag, das Existenzminimum zeitnah sicherzustellen.«

»Die Sozialverbände VdK und Sozialverband Deutschland (SoVD) klagen gemeinsam gegen die zum Jahresbeginn erfolgte Anpassung der Regelsätze für die Grundsicherung („Hartz IV“) und die Grundsicherung im Alter. „Die Bundesregierung verstößt mit der Anhebung um drei und für Kinder sogar nur um zwei Euro Anfang des Jahres gegen ihren verfassungsmäßigen Auftrag, das Existenzminimum zeitnah sicherzustellen“, erklärte VdK-Präsidentin Verena Bentele laut einer Mitteilung des Verbands. „Daran ändern auch die einmaligen Entlastungszahlungen sowie die zusätzlichen 20 Euro im Monat für Kinder in Grundsicherung nichts. Sie verpuffen angesichts der steigenden Kosten“, ergänzte SoVD-Präsident Adolf Bauer.«

Die beiden Sozialverbände wollen nun in Musterstreitverfahren bis vor das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ziehen. Dieses soll klären, ob der Gesetzgeber seine Pflicht verletzt, auf Preissteigerungen zeitnah zu reagieren. Sie berufen sich dabei auf die zwei Urteile aus den Jahren 2010 und 2014, die hier bereits zitiert wurden. Zur Begründung für das Vorgehen vgl. auch die Ausführungen des VdK: Was Sie über die Klage gegen die Grundsicherung wissen müssen. Darin wird auch erläutert, dass man nicht erwarten kann, dass sich das BVerfG nun sofort mit dem Anliegen befassen wird oder gar muss: »Die beiden Sozialverbände müssen in ihrer Klage zunächst ein behördliches Vorverfahren und die folgenden gerichtlichen Instanzen durchlaufen, um dann eine Beschwerde beim Bundesverfassungsgericht einreichen zu können. Da die meisten Bescheide rechtskräftig sind, müssen Musterklägerinnen und -kläger also zunächst einen Überprüfungsantrag gegen ihren Regelsatzbescheid stellen mit der Begründung, dass die Höhe des derzeitigen Regelsatzes nicht ausreichend ist, um das Existenzminimum zu decken. Die zuständige Behörde wird dann einen Bescheid erteilen, gegen den der VdK und der SoVD jeweils Widerspruch einlegen können. Wird dieser zurückgewiesen, wird der VdK dagegen vor dem Sozialgericht klagen. Sollte die Klage erfolglos sein, kann Berufung am Landessozialgericht erhoben werden. Wird auch dort die Berufung abgewiesen, kann der VdK das Verfahren dem Bundessozialgericht vorlegen. Bei einem negativen Urteil ist schließlich der Weg frei zum Bundesverfassungsgericht.« Man sei aber nicht mehr auf der Suche nach potenziellen Musterklägern, denn: »Schon jetzt haben die Bundesgeschäftsstelle viele Anrufe und Mitteilungen von Mitgliedern erreicht, die als potenzielle Klägerinnen und Kläger in Frage kommen. Wir werden diese Verfahren für 15 bis 20 Mitglieder verfolgen, stellvertretend für andere, die von dieser Ungleichbehandlung betroffen sind.«

Aber soll es nicht sowieso eine „deutliche Erhöhung“ der Hartz IV-Regelsätze geben?

Nun kann man überall solche Meldungen lesen: Bundesarbeitsminister Heil plant eine „deutliche Erhöhung“ der Hartz-IV-Regelsätze. Wie immer muss man genauer hinschauen. Quelle ist ein Interview des Ministers mit dem Redaktionsnetzwerk Deutschland, das am 15. Juli 2022 veröffentlicht wurde: Können wir es uns noch leisten, dass der Staat jeden Nachteil ersetzt, Herr Heil? »Künftige Entlastungspakete infolge der Inflation und der Gaskrise müssten gezielt eingesetzt werden, sagt Bundesarbeitsminister Hubertus Heil im RND-Interview. Und er kündigt an: Die Regelsätze für Hartz-IV-Empfänger und -Empfängerinnen sollen im kommenden Jahr mit der Einführung des Bürgergeldes deutlich steigen«, so haben Tobias Peter und Eva Quadbeck ihr Gespräch mit dem Sozialdemokraten zusammengefasst. Es geht also um die möglichen Veränderungen, die mit dem „Bürgergeld“ einhergehen könnten, je nach gesetzgeberischer Umsetzung des seit langem als „Abschaffung von Hartz IV“ angekündigten Vorhabens.

Was genau hat der Minister gesagt? Auf die Frage „Im kommenden Jahr soll Hartz IV zum Bürgergeld werden. Werden dann auch die Regelsätze kräftig steigen – oder geht Ihnen da finanziell die Puste aus?“ antwortet Hubertus Heil:

»Mit dem Bürgergeld werden wir das System entbürokratisieren und dafür sorgen, dass Menschen in der Not verlässlich abgesichert sind. Ich werde den Gesetzentwurf in diesem Sommer vorlegen und es wird zu Beginn des nächsten Jahres eine deutliche Erhöhung der Regelsätze geben. Unser Sozialstaat muss dafür sorgen, dass Menschen, die keine finanziellen Rücklagen haben, auch über die Runden kommen können. Ich bin fest entschlossen, die Art, wie wir den Regelsatz berechnen, zu verändern. Der bisherige Mechanismus hinkt der Preisentwicklung zu sehr hinterher.«

➔ Erläuterung zum bisherigen Mechanismus der Anpassung der Regelsätze in der Grundsicherung: Die Höhe des Regelbedarfs wird alle fünf Jahre auf der Grundlage der Ergebnisse der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe (EVS) neu ermittelt. In der Zwischenzeit regelt der § 28a SGB XII die Fortschreibung der Regelbedarfe. Zugrunde gelegt wird bei dieser Fortschreibung ein sog. Mischindex aus der Inflations- und Einkommensentwicklung. Die Entwicklung der Preise der regelbedarfsrelevanten Güter und Dienste geht mit 70 Prozent und die Entwicklung der Einkommen mit 30 Prozent in den Mischindex ein. Die Preisentwicklung nach § 28a SGB XII bezieht die Entwicklung des Preisindexes im laufenden Jahre auf die Entwicklung im Vorjahr.

Das war es schon in dem Interview zu diesem Thema. Die „deutliche Erhöhung“ wird also mit keiner Zahl oder einer ungefähren Größenordnung quantifiziert und wir haben erfahren, dass Hubertus Heil „fest entschlossen“ ist, die Art und Weise der Regelsatzberechnung zu ändern.

Schauen wir uns diese beiden Punkte noch einmal genauer an. An anderer Stelle findet man sehr wohl eine ungefähre Größenordnung für die „deutliche Erhöhung“, die der Minister in Aussicht gestellt hat. Der wird in dem Artikel Bürgergeld ersetzt Hartz 4: Wie viel Geld Berechtigte erhalten sollen mit diesen Worten zitiert:

„Mein Vorschlag ist, dass wir etwa bei Familienhaushalten die unteren 30 statt der unteren 20 Prozent der Einkommen als Grundlage nehmen. Damit können wir erreichen, dass die Regelsätze im Bürgergeld pro Person und Monat in etwa um 40 bis 50 Euro höher sein werden als in der Grundsicherung. Das entspricht einer Steigerung von etwa 10 Prozent. Das finde ich vernünftig.“

Wenn das so realisiert werden würde, dann kann man also mit einer zehnprozentigen Anpassung der heutigen Werte rechnen – frühestens ab dem kommenden Jahr, wenn bis dahin das „Bürgergeld“ auch umgesetzt ist. Im Vergleich zu den aktuellen Regelsätzen könnte das bedeuten:

Anmerkungen: Der „Heil-Vorschlag“, der zu einer etwa zehnprozentigen Anhebung der aktuell gültigen Regelbedarfe führen würde, basiert darauf, dass statt den unteren 20 Prozent der Einkommen die unteren 30 Prozent herangezogen werden – allerdings beinhaltet der Vorschlag bislang nicht, dass man auf die willkürlichen Abschläge, die von den Verbrauchsausgaben der unteren Einkommensgruppe gemacht werden, verzichten will. Diese Abschläge drücken den Regelbedarf deutlich nach unten.
Zugleich ist zu beachten, dass sich die möglicherweise realisierten „Erhöhungen“ auf den Regelbedarf beziehen – die Grundsicherungsleistungen beinhalten aber mehr als den Regelbedarf: Hinzu kommen die (angemessenen) Kosten der Unterkunft und Heizung, die Kranken- und Pflegeversicherung sowie bei einigen Personengruppen Mehrbedarfe. Außerdem für Kinder und Jugendliche auch Bildungs- und Teilhabeleistungen, wenn diese beantragt werden.

Auf der einen Seite wäre ein um 40 bis 50 Euro im Vergleich zu heute höherer Regelbedarf immer noch weit weg von dem, was seit längerem von Sozialverbänden und in der Fachdiskussion als „richtig“ bemessener Regelbedarf gefordert wird. So hat erst im Januar 2022 der Paritätische Wohlfahrtsverband eine Berechnung vorgelegt, die zu einer ganz anderen Erhöhung kommt: »Ein armutsfester Regelsatz müsste nach Berechnungen der Paritätischen Forschungsstelle aktuell 678 Euro für einen alleinstehenden Erwachsenen betragen und damit um mehr als 50 Prozent höher liegen als die derzeit gewährten Leistungen in der Grundsicherung. Der Paritätische Wohlfahrtsverband kritisiert, dass der Regelsatz durch statistische Tricks willkürlich klein gerechnet wurde. Die jüngste Anpassung zum 1.1.2022 um lediglich drei Euro auf aktuell 449 Euro gleiche zudem nicht einmal die Preisentwicklung aus, führe damit sogar zu realen Kaufkraftverlusten und sei im Ergebnis verfassungswidrig.« Dazu der Beitrag Hartz IV: Wie hoch müssten sie denn sein? Eine alternative Ermittlung der Regelbedarfe in der Grundsicherung mit Vorschlägen in Euro pro Monat vom 26. Januar 2022. Das wäre natürlich eine ganz andere Hausnummer als die 40 bis 50 Euro mehr pro Monat, die sich möglicherweise ergeben, wenn man dem Bundesarbeitsminister folgt.

Aber der Koalitionsvertrag …

Wenn, ja wenn das überhaupt passieren wird bzw. darf. Denn sofort nach dem Vorstoß des Bundesarbeitsministers für eine „deutliche Erhöhung“ meldeten sich diejenigen zu Wort, an die das wohl primär auch gerichtet war: die FDP. »Die FDP hat den Vorstoß von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil für eine Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze kritisiert. „Es gilt für alle in der Koalition, dass sie sich an die Ziele im Koalitionsvertrag halten sollten“, erklärte der arbeitsmarkt- und sozialpolitische Sprecher der FDP-Bundestagsfraktion, Pascal Kober«, so diese Meldung: FDP kritisiert Heils Vorstoß zu Hartz IV. Und weiter heißt es dort: »Von einer Veränderung der Berechnung der Regelsätze für Hartz IV sei dort keine Rede. Der Koalitionsvertrag enthalte vielmehr „ein klares Bekenntnis dazu, Hartz-IV-Empfängern mehr von ihrem selbst verdienten Geld zu belassen … Hierzu erwarte er Vorschläge des Arbeitsministers statt unabgestimmte Vorstöße.«

Tatsächlich erweist sich der Koalitionsvertrag zwischen SPD, Grünen und der FDP (Mehr Fortschritt wagen. Koalitionsvertrag 2021-2025), diese heilige Kuh gerade von sehr unterschiedlich ausgerichteten Koalitionsparteien, als ein ziemlich hohes Hindernis. Was haben die da Anfang Dezember 2021 unterschrieben?

Unter der Überschrift „Bürgergeld“ (S. 59 ff.) finden wir diese Hinweise: »Wir gewähren in den ersten beiden Jahren des Bürgergeldbezuges die Leistung ohne Anrechnung des Vermögens und anerkennen die Angemessenheit der Wohnung. Wir werden das Schonvermögen erhöhen und dessen Überprüfung entbürokratisieren, digitalisieren und pragmatisch vereinfachen. Um die Erstattung der Kosten der Unterkunft transparenter und rechtssicherer auszugestalten, schaffen wir einen verbesserten gesetzlichen Rahmen für die Anwendung der kommunalen Angemessenheitsgrenzen und stellen sicher, dass diese jährlich überprüft und ggf. angepasst werden. Dies erleichtert den Kommunen, die Kosten der Unterkunft und Heizung als regionalspezifische Pauschalen auszuzahlen.«

Es folgen noch einige andere Versprechungen, aber zu dem hier relevanten Themen Bemessung der konkreten Leistungshöhe findet man: nichts. Tatsächlich kein einziges Wort. Eine Veränderung der Regelbedarfsermittlung ist nach diesem Koalitionsvertrag schlichtweg nicht vorgesehen. Aber dafür zwei Absätze zu einem Anliegen, das vor allem für die FDP sehr wichtig ist und das sich auf die Zuverdienstmöglichkeiten bezieht (wobei hier korrekterweise darauf hingewiesen werden muss, dass auch die Grünen diesen Punkt – noch in der Opposition – in Form eines konkreten Reformvorschlags des damaligen Parteivorsitzenden Robert Habeck hervorgehoben haben, vgl. dazu den Beitrag Erwerbsarbeit im unteren Lohnbereich soll sich mehr lohnen. Von Zuverdienstgrenzen, weiterführenden Reformvorschlägen und einigen Grundsatzfragen vom 31. Dezember 2018).

»Die Zuverdienstmöglichkeiten werden wir verbessern mit dem Ziel, Anreize für sozialversicherungspflichtige Erwerbstätigkeit zu erhöhen. Die Anrechnung von Schüler- und Studentenjobs von Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Bedarfsgemeinschaften nach dem SGB II sowie Pflege- oder Heimkindern soll entfallen. Wir werden eine Reform auf den Weg bringen, die Bürgergeld (ehemals Arbeitslosengeld II), Wohngeld und gegebenenfalls weitere steuerfinanzierte Sozialleistungen so aufeinander abstimmt, beziehungsweise wo möglich zusammenfasst, so dass die Transferentzugsraten die günstigsten Wirkungen hinsichtlich Beschäftigungseffekten und Arbeitsmarktpartizipation in sozialversicherungspflichtiger Beschäftigung erzielen, die Zuverdienstöglichkeiten verbessert und Grenzbelastungen von 100 und mehr Prozent ausgeschlossen werden.«

Aber man war und ist sich nicht sicher, wie das wirklich funktionieren kann, deshalb hat man eine Operationalisierung wegdelegiert an einen neuen Arbeitskreis: »Zur Entwicklung des Reformmodells wird eine unabhängige Kommission aus mehreren hierfür qualifizierten unabhängigen Instituten beauftragt.«

Man kann es drehen und wenden wie man will: Eine Umsetzung der tatsächlich im Koalitionsvertrag vereinbarten Reform der Zuverdienstmöglichkeiten würde eine Menge Geld kosten, denn jedes erweitertes Kombilohnmodell führt zu höheren Ausgaben innerhalb des Hartz IV-Systems durch wegfallenden Einkommensanrechnungen und außerdem wird die Zahl der Leistungsberechtigten ausgeweitet. Genau das aber würde natürlich auch passieren, wenn man die Regelbedarfe erhöht, denn dann rutschen viele, die gerade oberhalb der Bedarfsgrenzen über die Runden kommen müssen, vom Anspruch her in das System, genauer: sie könnten dann Leistungen beanspruchen, wenn sie diese beantragen (würden).

Insofern handelt es sich durchaus um miteinander konkurrierende Vorhaben hinsichtlich der damit verbundenen Ausgaben. Aus systematischer Sicht aber weitaus gravierender ist die Fokussierung beim Zuverdienstthema auf diejenigen, die überhaupt Erwerbseinkommen haben (können). Nicht nur aus der ablehnenden Stellungnahme der FDP gegen die Vorstellungen des Bundesarbeitsministers die generelle Höhe der Regelbedarfe betreffend spricht eine hoch problematische Engführung des Themas auf langzeit(erwerbs)arbeitslose Menschen. Mit genau denen wird „Hartz IV“ immer auch gleichgesetzt. Das aber ist nur ein Teil der auf Grundsicherungsleistungen angewiesenen Menschen, die Mehrheit der Leistungsbezieher fällt sogar gar nicht unter die Standardvorstellung von Arbeitslosen, wenn es um Hartz IV geht. Und die Regelbedarfe spielen ja auch eine bedeutsame Rolle im SGB XII, also bei der Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung. Anders ausgedrückt: Vielen hilfebedürftigen Menschen nützt eine Verbesserung der Zuverdienstmöglichkeiten wenig bis überhaupt nichts. Und schlussendlich geht es bei der Höhe der Regelbedarfe um das, was von Staats wegen als „soziokulturelles Existenzminimum“ definiert wird und als solches bis in das Steuerrecht ausstrahlt.

Fazit: Man muss die Vorstöße des Bundesarbeitsministers als Versuch sehen, ein „vergessenes“ (?) Thema des Koalitionsvertrages doch noch auf die Agenda zu setzen, vor allem auch deshalb, weil wenn es mit dem angekündigten „Bürgergeld“ nur ein neues Etikett geben sollte, mit dem der alte Wein in neue Schläuche gefüllt wird, aber ansonsten überhaupt keine Veränderung der Leistungshöhen herauskommt, dann könnte man den bereits als Vorhersage geäußerten Vorwurf, es handelt sich letztlich nur um eine semantische Abschaffung von „Hartz IV“, um Etikettenschwindel, nur schwer widerlegen. Das kann nicht im Interesse des sozialdemokratischen Bundesarbeitsministers sein, der seine Partei endlich herausführen will aus der Schmuddelecke namens „Hartz IV“.