Mit dem Start des neuen Jahres sollen sich die Bezieher von Grundsicherungsleistungen freuen, denn sie bekommen jetzt mehr Geld. Machen wir das mal konkret: Eine alleinstehende Person hat in der Grundsicherung im vergangenen Jahr 446 Euro pro Monat für den Regelbedarf bekommen (hinzu kommen die Kosten einer angemessenen Unterkunft sowie Leistungen für die Kranken- und Pflegeversicherung). Die Bundesregierung hat nun zum 1. Januar 2022 diesen Betrag angehoben – um drei Euro auf 449 Euro. Die – nun ja: überschaubare – Anhebung in der Größenordnung von 0,7 Prozent hat für Irritationen bis hin zu zynischen Kommentierungen geführt und allein angesichts der Preisentwicklung in den vergangenen Monaten kann es nicht verwundern, dass man bei einem Aufschlag von nur 0,7 Prozent berechtigt eine zeitnahe Anpassung der Regelbedarfe einfordert (vgl. dazu ausführlicher den Beitrag Die Sicherung des Existenzminimums durch einen zeitnahen Inflationsausgleich in der Grundsicherung? Vom Bundesverfassungsgericht auf die Antragsebene im Bundestag vom 23. November 2021). Für eine solche Forderung kann man auch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts heranziehen:
Der Gesetzgeber hat … Vorkehrungen zu treffen, auf Änderungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, wie zum Beispiel Preissteigerungen oder Erhöhungen von Verbrauchsteuern, zeitnah zu reagieren, um zu jeder Zeit die Erfüllung des aktuellen Bedarfs sicherzustellen, insbesondere wenn er wie in § 20 Abs. 2 SGB II einen Festbetrag vorsieht.
(BVerfG 09.02.2010 – 1 BvL 1/09 ua, Rn. 140)
Ist eine existenzgefährdende Unterdeckung durch unvermittelt auftretende, extreme Preissteigerungen nicht auszuschließen, darf der Gesetzgeber dabei nicht auf die reguläre Fortschreibung der Regelbedarfsstufen warten.
(BVerfG 23.07.2014 – 1 BvL 10/12 ua, Rn. 144)
Aber neben einer – bislang verweigerten (das wurde bereits im Herbst des vergangenen Jahres umfassend kritisiert, vgl. dazu den Beitrag Eine „versteckte“ Kürzung? Zur Kritik an der Regelbedarfsanpassung in der Grundsicherung und eine juristische Lanze in Richtung verfassungswidrige Unterdeckung des menschenwürdigen Existenzminimums vom 11. Oktober 2021) – Anpassung der Leistungsbeträge in der Grundsicherung aufgrund der akuten Preisentwicklung gibt es bekanntlich seit Jahren einen heftigen, grundsätzlichen Konflikt über die Frage der Bemessung der Regelbedarfe an sich und nicht nur der Art und Weise ihrer Dynamisierung. Der Kern der in diesem Zusammenhang vorgetragenen Kritik geht in die Richtung, dass die Leistungshöhen der Grundsicherung, die sich aus den ermittelten und festgesetzten Regelbedarfen ergeben, viel zu niedrig kalkuliert sind und dem Erfordernis der Abdeckung des soziologischen-kulturellen Existenzminimums widersprechen.
Sollte das stimmen, dann wäre der Streit um die Frage, ob es statt drei Euro pro Monat mehr nicht vielleicht besser 10 oder 50 Euro mehr sein müssten, gewissermaßen eine Spiegelfechterei. Wenn denn der Ausgangsbetrag an sich schon zu niedrig ist.
Die grundsätzliche Kritik an der Berechnung der Regelbedarfe existiert seitdem Hartz IV das Licht der Welt erblickt hat. In der jüngeren Vergangenheit wurden immer wieder Versuche bekannt, wie man eine alternative Berechnung eines an sich „richtigen“ Regelbedarfs anstellen kann.
So wurde beispielsweise Ende 2020 dieser Ansatz veröffentlicht:
➔ Andreas Aust und Joachim Rock (2020): Regelbedarfe 2021. Alternative Berechnungen zur Ermittlung der Regelbedarfe in der Grundsicherung, Berlin: Deutscher Paritätischer Wohlfahrtsverband – Gesamtverband, September 2020
Nach den Darlegungen der Autoren »ist die geltende Regelbedarfsermittlung massiv zu kritisieren. Das Ermittlungsverfahren entspricht nicht dem Statistikmodell, sondern benutzt eine im Grundsatz unzulässige Mischung aus Statistik- und Warenkorbmodell. Eine korrekte und vollständige Ermittlung der Regelbedarfe auf der Grundlage eines konsequent umgesetzten Statistikmodells ergibt dagegen für das Jahr 2021 einen Regelbedarf für Erwachsene von 644 Euro, was eine Erhöhung um 198 Euro bedeuten würde.
Ein Grund für dieses Missverhältnis liegt darin, dass die Bundesregierung bereits bei der Neuberechnung der Regelsätze im Jahre 2011 eine Reihe willkürlicher Eingriffe in die statistischen Grundlagen und Verfahren der Regelbedarfsermittlung vorgenommen hat, die die nachfolgenden Bundesregierungen nur mit geringfügigen Veränderungen fortgeschrieben haben.«
Man kann die Kritik an einzelnen Eingriffe und Manipulationen im Rechenwerk der Bundesregierung bei Aust/Rock (2020) nachlesen. Interessant hier ist der Tatbestand, dass in der alternativen Berechnung eben auch konkrete Zahlen genannt werden. Also statt 446 Euro hätte demnach der Regelbedarf für Erwachsene bei 644 Euro, also 198 Euro pro Monat mehr, liegen müssen. Das wären über 44 Prozent mehr als tatsächlich den Grundsicherungsempfängern zugestanden wurde.
Und wie viel mehr müssten es heute sein?
Genau dieser Frage widmet sich eine neue Kurzexpertise aus der Paritätischen Forschungsstelle:
➔ Andreas Aust (2022): Regelbedarfsermittlung 2022: Fortschreibung der Paritätischen Regelbedarfsforderung, Berlin: Paritätische Forschungsstelle, 19. Januar 2022
Hier das Rechenergebnis in einer vergleichenden Übersicht:
In den Berechnungen des Paritätischen werden drei unterschiedliche Fortschreibungsvarianten abgebildet – wobei sich die prozentualen Erhöhungen bei den beiden Varianten mit dem Ziel einer zeitnahen Niveausicherung aufgrund der erheblich angestiegenen Inflationsrate auf einen deutlich höheren Ausgangsbetrag beziehen:
1.) Eine Fortschreibung nach § 28a SGB XII, wie auch die Bundesregierung vorgegangen ist, was im Ergebnis zu einer Anhebung um +0,76 Prozent führt.
2.) Zeitnahe Niveausicherung (Variante a): Fortschreibung nach voraussichtlicher Preisentwicklung Dezember 2021 zu Vorjahresmonat: +5,3 Prozent
3.) Zeitnahe Niveausicherung (Variante b): Fortschreibung nach voraussichtlicher Preisentwicklung Jahresdurchschnitt 2021 zu 2020: +3,1 Prozent
Das Fazit des Paritätischen: »Ein armutsfester Regelsatz müsste nach Berechnungen der Paritätischen Forschungsstelle aktuell 678 Euro für einen alleinstehenden Erwachsenen betragen und damit um mehr als 50 Prozent höher liegen als die derzeit gewährten Leistungen in der Grundsicherung. Der Paritätische Wohlfahrtsverband kritisiert, dass der Regelsatz durch statistische Tricks willkürlich klein gerechnet wurde. Die jüngste Anpassung zum 1.1.2022 um lediglich drei Euro auf aktuell 449 Euro gleiche zudem nicht einmal die Preisentwicklung aus, führe damit sogar zu realen Kaufkraftverlusten und sei im Ergebnis verfassungswidrig.1«
1 Der Vorwurf einer Verfassungswidrigkeit der seit dem 1. Januar 2022 wirksam gewordenen Anhebung der Regelbedarfe um nur 0,76 Prozent über alle Regelbedarfsstufen basiert auf dieser Expertise, die bereits im Herbst des vergangenen Jahres vorgelegt wurde:
➔ Anne Lenze (2021): Verfassungsrechtliches Kurzgutachten zur Fortschreibung der Regelbedarfsstufen nach § 28a SGB XII zum 1.1.2022, Darmstadt, 30. September 2021
Die Differenz zwischen dem, was die Betroffenen bekommen und was sie nach den Berechnungen des Paritätischen bekommen müssten, ist erheblich und der Wohlfahrtsverband schiebt eine „Übergangsforderung“ nach, die man wenigstens realisieren sollte: »Kurzfristig fordert der Verband eine Soforthilfe für Menschen in der Grundsicherung von monatlich 100 Euro pro Person, um wenigstens die pandemiebedingten Mehrkosten und die Inflation auszugleichen.«
Möglicherweise wird der eine oder andere die Frage aufwerfen, warum denn seitens derjenigen, die politische Verantwortung tragen, so wenig Bewegung zu erkennen ist, die Regelbedarfe bedarfsgerechter zu bestimmen oder wenigstens über andere Wege den Grundsicherungsempfängern etwas mehr Geld als nur drei Euro pro Monat zukommen zu lassen. Bei der Suche nach einer möglichen Antwort könnte ein Blick auf die finanziellen Dimensionen helfen, um die es hier geht:
Im Jahr 2020 beliefen sich die Ausgaben nur für das SGB II (man muss hier zusätzlich berücksichtigen, dass die Regelbedarfe nicht nur relevant sind für die Leistungen in der Grundsicherung nach SGB II, sondern auch für die Hilfe zum Lebensunterhalt und vor allem für die Grundsicherung im Alter und bei Erwerbsminderung nach SGB XII sowie für das Asylbewerberleistungsgesetz, also einen noch größeren Empfängerkreis betrifft als „nur“ die Hartz IV-Bezieher im engeren Sinne) auf über 44 Mrd. Euro. Fast 15 Mrd. Euro davon betrafen das Arbeitslosengeld II bzw. das Sozialgeld.
Im Dezember 2021 gab es 2.705.000 Bedarfsgemeinschaften mit 5.326.000 Menschen, die dort leben und Leistungen nach dem SGB II beziehen. Auch wenn die Zahlen leicht rückläufig sind, sprechen wir hier von einer sehr großen Gruppe. Man kann sich sehr schnell pi mal Daumen ausrechnen, welche Folgewirkungen auf der Ausgabenseite eine laut Paritätischen Wohlfahrtsverband und auch anderer Experten eigentlich erforderliche Anhebung der Regelbedarfe um 50 Prozent hätte. Wir sprechen dann in einem ersten Schritt von einem einstelligen Milliardenbetrag (hinzu kommen entsprechende Mehrausgaben im SGB XII). Dann muss berücksichtigt werden, dass man bei einer solchen Anhebung der Regelbedarfe, aus deren Unterschreiten ja ein Aufstockungsanspruch resultiert, davon ausgehen muss, dass zahlreiche Menschen, die derzeit mit Geldbeträgen knapp oberhalb der sehr knapp kalkulierten Bedarfsschwellen liegen, neu leistungsberechtigt werden, woraus natürlich weitere erhebliche Finanzbedarfe entstehen würden, vor allem, wenn man bedenkt, wie viele Niedriglöhner heute knapp oberhalb der Hartz IV-Schwellen durchs Leben kommen müssen. Und schlussendlich muss man auch in Rechnung stellen, dass die über die Regelbedarfe in Euro-Beträge gegossene Sicherstellung des sozio-kulturellen Existenzminimums auch steuerrechtliche Auswirkungen hat, denn die für alle Steuerzahler geltende Freistellung des Existenzminimums orientiert sich an dieser Größe, mithin würde ohne eine strukturelle Änderung in diesem Bereich der Bundesfinanzminister mit milliardenschweren Ausfällen bei der Einkommenssteuer konfrontiert werden. Addiert man diese Posten zusammen, dann wird in Umrissen erkennbar, warum es diesen ausgeprägten Widerstand gegen entsprechende Anhebungen in der Grundsicherung gibt. Darauf zu wetten, dass man sich von fachlichen Argumenten überzeugen lässt, es dennoch zu tun, erfordert viel Optimismus.
Nachtrag:
In dem Beitrag wurde darauf hingewiesen, dass der Paritätische Wohlfahrtsverband von einer Verfassungswidrigkeit der von der Bundesregierung vorgenommenen geringfügigen Anhebung der Regelbedarfe zum 1. Januar 2002 ausgeht und sich dabei auf die Expertise von Anne Lenze (2021) stützt. Auf deren Argumentation hat man sich auch bei einer Klage vor dem Sozialgericht Oldenburg bezogen. Das SG Oldenburg hat hierzu am 25.01.2022 diese Mitteilung veröffentlicht: Trotz Inflation: Hartz IV Sätze weiter verfassungsgemäß: »Das Sozialgericht Oldenburg hat am 17.01.2022 (Aktenzeichen S 43 AS 1/22 ER) entschieden, dass trotz der stark gestiegenen Inflation in der 2. Jahreshälfte des Jahres 2021 die Regelsätze nach dem SGB II (Hartz IV) weiterhin als verfassungsgemäß angesehen werden können.«
Schauen wir uns die Argumentation des Sozialgerichts einmal genauer an.
Zuerst der Sachverhalt: »In dem Verfahren wandte sich die von einem Rechtsanwalt vertretene fünfköpfige Familie aus Delmenhorst, die im ergänzenden Leistungsbezug nach dem SGB II steht, an das Sozialgericht und beantragte im Wege der einstweiligen Anordnung, die Regelbedarfe ab 01.01.2022 unter Berücksichtigung einer Inflationsrate von 5 % ab 01.01.2022 anzupassen. Das Jobcenter hatte zuvor entsprechend den geltenden gesetzlichen Regelungen den Regelbedarf der gesamten Bedarfsgemeinschaft zum 01.01.2022 von 1841 auf 1857 € erhöht. Diese Erhöhung hielten die Antragsteller für zu gering und verfassungswidrig und machten geltend, dass die Familie nicht mehr in der Lage sei, die aufgrund der erheblichen Inflation in den letzten 6 Monaten stark gestiegenen Lebenshaltungskosten mit den Leistungen des Jobcenters abzudecken. Zur Begründung ihrer Auffassung, dass die Bemessung der Regelsätze ab 01.01.2022 verfassungswidrig sei, bezogen die Antragsteller sich auf ein Gutachten einer Professorin der Fachhochschule Darmstadt.«
Die 43. Kammer des Sozialgerichts Oldenburg hat es abgelehnt, die Regelbedarfe der Familie ab 01.01.2022 wegen der geltend gemachten Verfassungswidrigkeit der Regelbedarfssätze anzuheben. Warum? Hier die Begründung des Gerichts:
»Nach den Ausführungen des Gerichtes seien die Regelsätze nach dem SGB II auch zum 01.01.2022 unter Berücksichtigung der geltenden gesetzlichen Vorschriften ordnungsgemäß angepasst worden. Diese Fortschreibung erfolge nach den gesetzlichen Vorschriften anhand eines Mischindexes, der sich zu 70 % aus der Preisentwicklung und zu 30 % aus der Nettolohnentwicklung zusammensetze. Dabei sei für die Preisentwicklung nur auf die Preisentwicklung der regelbedarfsrelevanten Güter und Dienstleistungen abzustellen. Für 2022 sei die Steigerung der Regelbedarfssätze nach den maßgebenden gesetzlichen Vorschriften so zu berechnen, dass die Erhöhung der Preise und Nettolöhne in der Zeit von Juli 2020 bis Juni 2021 gegenüber dem Jahr 2019 zugrunde zu legen sei. Die Entwicklung in der 2. Jahreshälfte 2021 bliebe aufgrund dieses Berechnungsmodus unberücksichtigt. Diese Art der Fortschreibung der Regelsätze sei vom Bundesverfassungsgericht in der Vergangenheit als verfassungsgemäß angesehen worden. Mit dieser gesetzlichen Regelung habe der Gesetzgeber einen Gestaltungs- und Bewertungsspielraum ausgenutzt, der nur beschränkt einer materiellen Kontrolle unterliege. Diese materielle Kontrolle beschränke sich darauf festzustellen, ob die Leistungen evident unzureichend seien. Dieses sei gegenwärtig jedoch nicht feststellbar. Zwar dürfe der Gesetzgeber bei der Bemessung der Regelsätze im Falle einer unvermittelt auftretenden, extremen Preissteigerung, die zu einer existenzgefährdenden Unterdeckung durch die Regelbedarfssätze führe, nicht auf die nächste reguläre Fortschreibung der Regelbedarfsstufen warten. Insoweit sei aber noch nicht absehbar, ob der Gesetzgeber – wie im Jahr 2021 durch die corona-bedingten Sonderzahlungen – im Jahr 2022 auf einen erhöhten Bedarf der Leistungsbezieher reagieren werde. Zudem könne aus einer durchschnittlichen Inflationsrate in den letzten 6 Monaten von 3,9 % nicht zwingend auf eine Bedarfsunterdeckung der Antragsteller geschlossen werden. Maßgebend für die Berücksichtigung der Preisentwicklung im Rahmen der Bemessung der Sätze nach dem SGB II seien nämlich nur die regelbedarfsrelevanten Güter und Dienstleistungen, nicht aber die allgemeine Preissteigerung. Zudem sei zu berücksichtigen, dass ein wesentlicher Teil der Inflation auf einer Steigerung von Energiekosten beruht habe. Dass gerade die Antragsteller im vorliegenden Verfahren dadurch konkret höhere Energiekosten zu tragen hätten, hätten die Antragsteller im Verfahren jedoch nicht dargelegt. Auch sonstige konkrete Bedarfsunterdeckungen hätten die Antragsteller nicht hinreichend dargelegt.«