Zum Streik von nicht-ärztlichen Beschäftigten der Universitätskliniken in Nordrhein-Westfalen und einem Spaltpilz zwischen Pflege und Nicht-Pflege

100 Tage hatten Klinikleitungen und politisch Verantwortliche Zeit. 100 Tage, in denen sie Tarifverhandlungen über mehr Personal und Entlastung an den sechs nordrhein-westfälischen Universitätskliniken hätten auf den Weg bringen können. Aber der Arbeitgeberverband des Landes Nordrhein-Westfalen (AdL) ignorierte Ultimatum sowie alle Verhandlungsaufforderungen und Terminangebote von gewerkschaftlicher Seite – das behauptet Verdi auf der Seite Notruf NRW. Gemeinsam stark für Entlastung. Im April gab es erste Warnstreiks an Universitätskliniken in Nordrhein-Westfalen und eine unmissverständliche Botschaft: Bereit zum großen Klinikstreik. Dennoch gab es von der anderen Seite keine Reaktion.

Die unausweichliche Konsequenz der Verweigerungshaltung war, dass man in den „richtigen“ Streik gehen musste. Für einen Tarifvertrag Mindestpersonalausstattung. Nicht für fünf oder zehn Prozent mehr Lohn. Über 98 Pro­zent der bei der Gewerk­schaft Ver­di orga­ni­sier­ten Klinikbeschäftigten hat­ten sich Anfang Mai für einen Arbeits­kampf ausgesprochen.

Mittlerweile läuft dieser Arbeitskampf seit mehreren Wochen – und in den Medien hält sich die Berichterstattung darüber in Grenzen (vgl. dazu bereits die Anmerkungen in dem Beitrag Stell Dir vor, Pflegekräfte streiken … und man regt sich auf über Warteschlangen an den Sicherheitskontrollen der Flughäfen oder volle Züge aufgrund des 9-Euro-Tickets vom 24. Mai 2022. Und wenn berichtet wird, dann vor allem über die Folgen eines solchen Streiks, der natürlich dazu führt, dass die Kliniken bzw. bestimmte Bereiche nicht mehr so arbeiten können wie unter Normalbedingungen, was dann bedeutet, dass bestimmte Operationen oder andere Behandlungen ausfallen und verschoben werden müssen. Der nordrhein-westfälische Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) zeigt sich besorgt: Die Streiks führten „auch zu Einschränkungen der Versorgung von Patientinnen und Patienten“, so Laumann. Dazu gehörten auch Verschiebungen planbarer Maßnahmen, „darunter operativer Eingriffe, soweit dies medizinisch vertretbar ist“. Die Streiks dürften nicht dazu führen, dass Notfälle oder schwer kranke Patienten nicht mehr behandelt werden könnten oder ihre Operationen so lange hinausgeschoben werden müssen, dass sich ihre Erkrankung deutlich verschlechtere und der Behandlungserfolg ausbleibe. Wobei man darauf hinweisen muss, dass es an allen Kliniken, die bestreikt werden, Notdienstvereinbarungen gibt, die genau das verhindern sollen.

Aber einen Streik von Klinik-Beschäftigten, bei dem die normalen Abläufe nicht gestört werden, kann es naturgemäß nicht geben (vgl. dazu auch den Beitrag Kann es überhaupt einen „richtigen“ Moment geben? Streikaktionen der Pflegekräfte zwischen Notwendigkeit, Instrumentalisierung und dann auch noch „Nächstenliebe“ vom 13. November 2021). Der Aspekt, dass es streikbedingte Ausfälle gibt, darunter Patienten leiden, zugleich aber nur scheinbar widersprüchlich das für die Patienten gemacht wird, taucht immer in den wenigen Berichten über die Streikaktionen oftmals schon in die Überschrift gepackt, beispielsweise hier: Unikliniken: Warum die Streikenden ausfallende OPs in Kauf nehmen, auch wenn sogleich differenzierend versucht wird darauf hinzuweisen, dass sich die besonderen Streikziele in diesem Fall gerade auf die „richtige“ Versorgung der Patienten unter Normalbedingungen beziehen (und nicht auf mehr Geld): »In den Unikliniken NRWs fallen zurzeit tausende Operationen aus, weil Mitarbeiter streiken. Doch die Streikenden sagen: Ihr Arbeitskampf sei auch im Sinne der Patienten.« Am Beispiel von Albert Nowak, Intensivpfleger an der Uniklinik Köln: »Dass durch den Streik auch Patienten in Mitleidenschaft gezogen würden, sei allen bewusst. „Viele sagen aber, das muss jetzt sein, so kann es nicht weitergehen.“ Wenn es weitergehe wie gehabt, seien Patienten ebenso gefährdet – als Dauerzustand: „Da kann jeder von uns hunderte Geschichte erzählen.“«

Endlich gibt es Bewegung und ein Angebot an die Streikenden. Ein Spaltpilz? Eine neue Trennlinie, diesmal zwischen Pflege und Nicht-Pflege?

Seit 40 Tagen streiken Beschäftigte der Uni-Kliniken in Nordrhein-Westfalen. Sie kämpfen für die Gesundheit der Pa­ti­en­ten – und ihre eigene, so Andreas Wyputta in seinem Artikel Gesundheit am Limit. Er bringt das besondere Anliegen der Streikenden auf den Punkt: Die etwa 50.000 Beschäftigten wollen keine bessere Bezahlung. Sie fordern einfach nur Arbeitsbedingungen, die sie nicht selbst krank machen. Außerdem soll der von ihnen geforderte „Tarifvertrag Entlastung“, kurz TVE, sicherstellen, dass Pa­ti­en­ten die Kliniken nicht noch kranker verlassen, als sie hereingekommen sind.

In der Beschreibung der vielfältigen Überlastungssituationen in dem Artikel von Wyputta wird auch eine weitere Besonderheit der Arbeitskampf-Aktionen in Nordrhein-Westfalen deutlich: Es handelt sich nicht um einen „Pflegestreik“, sondern hier geht es um das Team in den Kliniken, das eben nicht nur neben aus den Pflegekräften besteht, sondern auch zahlreiche andere Berufe und Tätigkeitsfelder beinhaltet, von den therapeutischen Berufen bis hin zu den Beschäftigten im Service, die Essen verteilen, Material auffüllen, Betten beziehen. Besonders unter Druck seien jene Reinigungskräfte, die nicht noch beim Klinikum unter Vertrag stehen, sondern bei einer ausgegründeten Tochtergesellschaft. Vollzeitverträge gebe es bei dieser „Gebäude-Service-Gesellschaft“ kaum – und weil oft nur Mindestlohn gezahlt werde, seien die Beschäftigten von Überstunden abhängig, um ihren Lebensunterhalt zu sichern. Das hat auch Folgen für die Streik-Aktionen: Die Beschäftigten in diesen Bereichen „sind ängstlich, fürchten um ihren Job“. Und: „Weil sie nicht beim Klinikum direkt angestellt sind, dürfen sie ja nicht einmal mit uns streiken.“ Akzeptiert würden mieseste Arbeitsbedingungen. Das es auch um diese Beschäftigten geht, sollte man bei einer Beurteilung dessen, was jetzt als Angebot seitens der Uni-Kliniken vorgelegt wurde, nicht vergessen.

36 Tage nach Streikbeginn haben die Klinik-Vorstände ein erstes, enttäuschendes Angebot vorgelegt. Warum enttäuschend? Verbesserungen soll es demnach nur für Mit­ar­bei­te­r geben, die unmittelbar am Bett pflegen. Aber schauen wir genauer hin:

„Die Universitätskliniken in NRW setzen sich im Rahmen der laufenden Gespräche mit der Gewerkschaft Verdi über einen Tarifvertrag Entlastung für einen weiteren Personalaufbau in der Pflege ein und wollen den erheblichen Personalaufbau der vergangenen Jahre damit fortsetzen“, hieß es in einer Mitteilung der sechs Unikliniken«, kann man dieser Meldung vom 10. Juni 2022 entnehmen: Unikliniken machen Vorschlag zur Entlastung der Pflege. »Im Kern heißt es in dem Vorschlag: „Danach würden ausnahmslos alle Kolleginnen und Kollegen, die in der Pflege am Patienten arbeiten, Entlastungstage bekommen. Diese können als freie Tage genommen werden.“ Gleichzeitig wollen die Kliniken das Personal in mehrere Stufen aufstocken. So sollen den Pflegekräften im Schichtdienst in der ersten Entlastungsstufe fünf zusätzliche freie Tage ermöglicht werden. Wenn der geplante Personalaufbau und damit auch die Entlastung in der täglichen Arbeit der Beschäftigten gelingt, soll die Anzahl der freien Tage stufenweise wieder reduziert werden.«

Am gleichen Tag reagierte die Gewerkschaft ver.di mit dieser Mitteilung: Tarifverhandlung“ Entlastung“: ver.di weist unzureichendes Angebot der Arbeitgeber zurück: »Das Angebot ist eine Mogelpackung und spaltet die Belegschaft. ver.di fordert nicht nur die Entlastung der Pflegekräfte in der direkten Patientenversorgung, sondern aller Berufsgruppen in den Kliniken.« Und weiter heißt es dort: »Eine pauschale Regelung von fünf Entlastungstagen für Teile der Pflegebeschäftigten, wie von den Arbeitgebern vorgeschlagen, führe nicht passgenau zu konkreten Entlastungen in patientengefährdenden Situationen. ver.di schlägt stattdessen ein Verfahren vor, das direkt an der Gefahrenquelle ansetzt. Das bedeutet: im Tarifvertrag Entlastung werden schichtgenaue Mindestbesetzungen für alle Bereiche im Krankenhaus vereinbart. Werden diese unterlaufen, entsteht in jedem Einzelfall ein Anspruch auf freie Tage.«

➔ »Ein Beispiel: Eine chronisch unterbesetzte Schicht im Transportdienst, die nicht mehr in der Lage ist, innerhalb kürzester Zeit eine Sauerstoffflasche in die Notaufnahme zu bringen, braucht ausreichend Personal, um das Überleben des Patienten zu sichern. Das Angebot der Arbeitgeber würde diesen Personalaufbau durch den Tarifvertrag Entlastung nicht sichern.«

Was die Streikenden wollen, wird an diesem Beispiel deutlich: »So fordern die Pflegekräfte für eine gute und sichere Patientenversorgung zum Beispiel auf den Intensivstationen einen Pfleger-Patienten-Schlüssel im Verhältnis 1 zu 1,5. Immer dann, wenn dieser Schlüssel nicht eingehalten werden kann, soll es „Belastungspunkte“ geben. Ist eine bestimmte Zahl von Belastungspunkten erreicht, bekommt die Pflegekraft einen Tag frei, um wieder Kräfte sammeln zu können. Das soll für alle an der Uniklinik Arbeitenden gelten, „denn auch andere Berufsgruppen sind überlastet“ (Quelle: Unikliniken: Warum die Streikenden ausfallende OPs in Kauf nehmen, 10.06.2022).

Aus betriebswirtschaftlicher Sicht ist das Angebot der Universitätskliniken mit dem darin enthaltenen Spaltpilz zwischen Pflege („am Bett“) und Nicht-Pflege durchaus konsequent, denn die Verengung der für eine Entlastung in Frage kommenden Zielgruppe folgt der Refinanzierungslogik im bestehenden System: »Über das „Pflegestärkungsgesetz“ des einstigen CDU-Bundesgesundheitsministers Jens Spahn können diese „bettennahen“ Stellen refinanziert werden – mehr Personal am Bett ist für die Kliniken also kostenneutral umsetzbar«, so Andreas Wyputta. Aber für die Notaufnahmen, Ambulanzen, die OP- und Anästhesie-Pflege greift diese Refinanzierung nicht – und für Therapeuten, Stations-Assistenten, für Reinigungs- und Servicekräfte schon gar nicht. Für diese Berufsgruppen liegt aktuell keinerlei Entlastungsvorschlag auf dem Tisch.

Und es gibt in dem Beitrag von Wyputta von einen weiteren Hinweis, der eine Lösung erschweren wird: »Die Unikliniken dürften „nicht eigenständig oder als Gruppe einen Tarfvertrag mit Verdi verhandeln“, heißt es aus Essen – schließlich seien die sechs Krankenhäuser Teil des Arbeitgeberverbandes der Landes (AdL), der wiederum Teil der Tarifgemeinschaft der Länder (TdL) ist. Und weil die TdL Verhandlungen über einen Entlastungstarifvertrag verweigert habe, müssten die Uni-Kliniken erst einmal aus dem AdL austreten. Dazu sei wiederum eine Änderung des Hochschulgesetzes nötig. Die hat die nach den Landtagswahlen vom 15. Mai nur noch geschäftsführende Landesregierung aus CDU und FDP angekündigt – beschlossen wird sie aber wohl erst von der neuen schwarz-grünen Landtagsmehrheit, die den Christdemokraten Hendrik Wüst am 28. Juni erneut zum NRW-Regierungschef machen soll.«

Die Gewerkschaft hält das für ein vorgeschobenes Argument – und verweist auf das Vorbild für die Streik-Aktionen an den sechs Uni-Kliniken in Nordrhein-Westfalen: So konnten die Beschäftigten an der Berliner Charité und beim dortigen Krankenhauskonzern Vivantes im vergangenen Jahr Entlastungstarifverträge durchsetzen.

Wie dem auch sei: Für die Streikenden heißt das: Sie werden noch Wochenlang kämpfen müssen.

Und offensichtlich soll selbst das untersagt werden: So erreichen uns Meldungen, dass der Vorstand des Universitätsklinikums Bonn eine einstweilige Verfügung gegen den Streik vor Gericht beantragt hat.

Nachtrag am 13.06.2022:

Das Arbeitsgericht Bonn hat in einer Pressemitteilung – Arbeitsgericht Bonn: Unterlassung von Streikmaßnahmen an dem Universitätsklinikum Bonn – am 13.06.2022 mitgeteilt, dass am 14.06.2022 in einem beim Arbeitsgericht Bonn unter dem Aktenzeichen 3 Ga 14/22 anhängigen einstweiligen Verfügungsverfahren ein Kammertermin stattfinden wird: »In dem Eilrechtsschutzverfahren geht das Universitätsklinikum Bonn gegen einen Streikaufruf der ver.di Vereinigte Dienstleistungsgewerkschaft für den Zeitraum vom 11. bis 17. Juni 2022 vor. Die ver.di fordert von dem Arbeitgeberverband des Landes Nordrhein-Westfalen den Abschluss eines „Tarifvertrages Entlastung“ und führt hierzu einen Tarifstreik u.a. an dem Universitätsklinikum Bonn. Aus Sicht des Universitätsklinikums Bonn ist dieser Arbeitskampf u.a. wegen Verstoßes gegen die Friedenspflicht und fehlender Erstreikbarkeit der Forderungen rechtswidrig. Eine weitere Hinnahme der Streikmaßnahmen sei aus medizinischer Sicht im Interesse der Patienten nicht mehr vertretbar. Daher begehrt das Universitätsklinikum Bonn im Wege einer einstweiligen Verfügung den Widerruf des Streikaufrufes zu den Streiks in den Betriebsstätten des Universitätsklinikums Bonn.«