Schlimme Dinge passieren in unserem Land. Es ist gut, dass wir Medien haben, die das aufgreifen: »Am Flughafen Köln/Bonn sollen … in den vergangenen Tagen bereits mehr als 100 Passagiere ihre Flüge nicht mehr erreicht haben. Grund: Langes Warten bei Sicherheitskontrollen«, kann man dieser Meldung entnehmen: Passagiere verpassen Flüge wegen langer Warteschlangen: »Am vergangenen Wochenende haben Passagiere nach eigenen Angaben mehr als 2 Stunden vor den Kontrollstellen gewartet. Der Kölner Oliver Pätzold, der am Samstag nach Sizilien geflogen ist, hatte Glück, dass die Fluggesellschaft ihn trotz Verspätung noch in die Maschine ließ. Weil es aber nicht alle Passagiere zum Flugzeug schafften, wurde das Gepäck nicht eingeladen. Die Koffer sollen den Fluggästen auf Sizilien erst am Montag, also zwei Tage nach dem Abflug, zugestellt werden.« Wer es eine Nummer dramatischer braucht, der kann sich hier bedienen: Flughafen Köln/Bonn: Totales Chaos bei der Abfertigung – Reisende berichten von 300 Meter langen Schlangen. Der eine oder andere ahnt schon, was da hinter den Kulissen läuft im Mangelland Deutschland. Es mangelt schlichtweg an Personal.
»Zuständig für die Kontrolle der Passagiere auf dem Flughafen Köln/Bonn ist die Bundespolizei. Sie setzt für die Passagier-Kontrollen an den Flughäfen aber Sicherheitsunternehmen ein. In Köln ist das die Firma Securitas. In den vergangenen Tagen hat die Bundespolizei in Gesprächen mit Securitas versucht zu analysieren, wie es zu den langen Wartezeiten gekommen ist. Laut Bundespolizei hat das Sicherheitsunternehmen nicht zu wenige Mitarbeiter. Aber es gäbe bei Securitas einen hohen Krankenstand. Das führe zu Engpässen.« Das nun wiederum sieht die Gewerkschaft ver.di anders: Für sie »ist dagegen nicht der Krankenstand das Problem, sondern die Personalausstattung bei Securitas. Das Sicherheitsunternehmen habe nicht ausreichend Mitarbeiter, um für eine zügige Abfertigung zu sorgen. Es fehlen laut Verdi etwa 100 Sicherheitskräfte.« Dadurch sei nur die Hälfte der notwendigen Kontrollspuren auf dem Flughafen Köln/Bonn geöffnet. Dann bilden sich vor allem bei den Flügen am Nachmittag lange Schlangen. Der Bericht aus dem Krisengebiet Flughafen endet mit dieser wahrscheinlich rhetorisch gemeinten Fragestellung: »Unklar ist, ob sich die Probleme auf dem Flughafen Köln/Bonn so bis zu den Sommerferien lösen lassen. Der Flughafen Köln/Bonn erwartet in den Sommerferien in Spitzenzeiten ähnlich viele Passagiere wie vor der Corona-Pandemie im Jahr 2019.«
Und die Berichte über frustrierte Reisende werden in den kommenden Wochen anschwellen, das kann man sicher vorhersagen. Parallel wurde eine weitere Großbaustelle aufgemacht, das 9-Euro-Ticket, mit dem man einen Monat lang durch die Republik gondeln kann, was sich vor allem zu bestimmten Zeiten und auf bestimmten Strecken in überfüllten Zügen und ebenfalls entnervten Passagieren niederschlagen wird, was dann ein gefundenes Fressen ist für Sondersendungen und scheinbar lebensnahe Interviews nach dem Motto „Wie ging es ihnen inmitten der Billigticket-Massen auf dem Weg nach Sylt?“
Es könnte natürlich sein, dass die Medien aber gar nicht dazu kommen, dass sie darüber berichten, denn sie haben alle Hände voll zu tun, um die Bürger des Landes darüber zu informieren, dass Pflegekräfte an allen Universitätskliniken eines großen Bundeslandes streiken – nicht für mehr Geld, sondern für einen Entlastungstarifvertrag, also gegen die auch die vielen Patienten gefährdenden Arbeitsbedingungen im Mangelland Krankenhaus.
Na ja, nicht umsonst wurde der Konjunktiv verwendet. Es könnte sein, ist aber nicht so. Also das mit den Medien und ihrer engagierten Berichterstattung über den Pflegestreik. Alles andere ist sehr wohl so.
„Gebraucht, beklatscht, aber bestimmt nicht weiter so!“
Am 19. Januar 2022 entschieden insgesamt 700 Beschäftigte in zwei Auftaktkonferenzen, ein Ultimatum an die Politik zu stellen: »Wir, die Beschäftigten der Unikliniken NRW, sichern mit unserer Arbeit jeden Tag die Gesundheitsversorgung der Bevölkerung. Wir brauchen bessere Arbeitsbedingungen! So wie es jetzt ist, kann es nicht bleiben. Deswegen fordern wir verbindliche Regelungen zur Entlastung für alle Arbeitsbereiche sowie zur Sicherstellung und Verbesserung der Ausbildungsqualität – und wirksame Konsequenzen, wenn diese nicht eingehalten werden. Es geht um unsere Gesundheit und die der Patientinnen und Patienten. Wir fordern von den politischen Verantwortlichen und den Arbeitgebern einen Tarifvertrag Entlastung für alle sechs Unikliniken in NRW noch vor der Landtagswahl.«
100 Tage hatten Klinikleitungen und politisch Verantwortliche Zeit. 100 Tage, in denen sie Tarifverhandlungen über mehr Personal und Entlastung an den sechs nordrhein-westfälischen Universitätskliniken hätten auf den Weg bringen können. Aber der Arbeitgeberverband des Landes Nordrhein-Westfalen (AdL) ignorierte Ultimatum sowie alle Verhandlungsaufforderungen und Terminangebote von gewerkschaftlicher Seite – das behauptet Verdi auf der Seite Notruf NRW. Gemeinsam stark für Entlastung. Im April gab es erste Warnstreiks an Universitätskliniken in Nordrhein-Westfalen und eine unmissverständliche Botschaft: Bereit zum großen Klinikstreik. Dennoch gab es von der anderen Seite keine Reaktion.
Die unausweichliche Konsequenz der Verweigerungshaltung war, dass man in den „richtigen“ Streik gehen musste. Für einen Tarifvertrag Mindestpersonalausstattung. Nicht für fünf oder zehn Prozent mehr Lohn. Über 98 Prozent der bei der Gewerkschaft Verdi organisierten Klinikbeschäftigten hatten sich Anfang Mai für einen Arbeitskampf ausgesprochen.
Seit dem 6. Mai wird gestreikt, an allen sechs Unikliniken in Nordrhein-Westfalen. »Bisher haben die Streikenden nicht viel mehr als nette Worte erreicht. NRW-Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU) sagte schon bei einer Streikkundgebung im April, es sei klar, wenn Verdi einen sogenannten Tarifvertrag Entlastung fordert, würde die Gewerkschaft diesen auch bekommen. Laumanns christdemokratischer Parteifreund Hendrik Wüst, Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen und derzeit in Sondierungsgesprächen mit den Grünen, äußerte sich bei der DGB-Kundgebung zum 1. Mai in Dortmund ähnlich. Ein „Tarifvertrag Entlastung“ werde kommen, so das Versprechen des CDU-Politikers. Nur noch wenig war davon zu hören, dass man nicht aus der Tarifgemeinschaft der Länder ausscheren wolle. Vorher war dies ein Argument der Landesregierung gewesen, um nicht in ernsthafte Verhandlungen um einen Entlastungstarifvertrag einsteigen zu müssen. Viel passiert ist seitdem noch nicht«, so Sebastian Weiermann in seinem Artikel Klinikleitungen spielen auf Zeit. Darin wird auch auf die öffentliche Meinung hingewiesen: Wurde den Streikenden am Anfang noch viel Sympathie entgegengebracht, mehren sich inzwischen die kritischen Stimmen. In einem Kommentar in der »Rheinischen Post« war von Geiselhaft die Rede, in die Patienten von den Beschäftigen genommen würden. In anderen Berichten ist von „Zorn und Fassungslosigkeit“ auf Seiten der Patienten die Rede.
Seit Beginn des Streiks an den Unikliniken spitzt sich die Lage auf den Stationen weiter zu, Hunderte demonstrierten haben am 24. Mai in Bonn demonstriert: »Der laufende Pflegestreik hat am Dienstag nach Angaben der Gewerkschaft Verdi etwa 600 Pflege- und Fachkräfte aus allen sechs NRW-Unikliniken auf die Straße gebracht«, berichten Julia Rosner und Philipp Königs unter der Überschrift 600 Pflegekräfte demonstrieren in Bonn für mehr Entlastung. Einer der wenigen Berichte zu dem Thema. Den Unmut der Patienten aufgrund des Streiks können die Streikenden verstehen. Aber: Im Krankenhaus gäbe es jedoch nie einen passenden Zeitpunkt für einen Streik. Durch die Schließung einiger Stationen werden derzeit in Bonn täglich etwa 30 Operationen verschoben.
»Wie der Vorstandsvorsitzende des Bonner Uniklinikums, Wolfgang Holzgreve, sagte, verschärft sich die Situation, weil die Arbeit nun seit Wochen stärker auf den Schultern derjenigen laste, die sich nicht am Streik beteiligen: „Momentan sind an den sechs Universitätskliniken, also Aachen, Köln, Düsseldorf, Bonn, Münster, Essen, über 2000 Betten geschlossen, davon knapp 200 am UKB“. Das sei eine „sehr ernst zu nehmende Situation, weil es ja bedeutet, dass das eine Uniklinikum nicht an andere überweisen kann“.« Gibt es Perspektiven in dem Konflikt? »Der Vorstandsvorsitzende geht davon aus, dass die bereits laufenden Gespräche von Verdi in eine ähnliche Richtung geführt werden, wie es an den Berliner Häusern Charité und Vivantes der Fall war. Dort wurden strengere Personaluntergrenzen für die Besetzung auf den bettengeführten Stationen festgelegt und ein Punktekonto für die Bediensteten eingerichtet für den Fall, dass diese Untergrenzen unterschritten werden. Die Punkte bekommen die Angestellten mit Freizeit vergütet.«
Die Streiks wurden erstmal bis zum 2. Juni verlängert.
Dabei machen die Pflegekräfte doch nur das, was selbst von höherer politischer Ebene empfohlen wurde: Am 13. November 2021 wurde hier in dem Beitrag Kann es überhaupt einen „richtigen“ Moment geben? Streikaktionen der Pflegekräfte zwischen Notwendigkeit, Instrumentalisierung und dann auch noch „Nächstenliebe“ berichtet: In den zurückliegenden Monaten wurde immer wieder mal über die an sich notwendige Erhöhung der Konfliktintensität bis hin zu Arbeitskampfmaßnahmen in „der“ Pflege gesprochen, bis hin zu wohlfeilen Verweisen von Politikern, „die“ Pflegekräfte sollten ruhig mal mehr Druck machen, damit sich beispielsweise bei der Vergütung und anderen Arbeitsbedingungen wirklich was verändert – ein Beispiel hierfür ist der nordrhein-westfälische Gesundheitsminister Karl-Josef Laumann (CDU), der mit diesen Worten zitiert wird: »Ich wäre froh über einen Lokführer-Moment in der Pflege. Tarifverträge fallen nicht vom Himmel, sie müssen erkämpft werden. Die Beschäftigten in der Pflege müssen sich dringend besser gewerkschaftlich organisieren.«
Also grundsätzlich gilt nun einmal, dass es nie einen „richtigen“ Zeitpunkt für einen Pflegestreik geben kann, also vor allem nicht für einen, der den „klassischen“ Streikzielen entspricht, also eine schmerzhafte und wenn es sein muss auch eine mit erheblichen Einbußen für die Arbeitgeberseite verbundene umfassende, ggfs. vollständigen Einstellung der Produktion bzw. Dienstleistungserbringung. Denn das würde bedeuten, dass man – anders als in einem Werk der Autoindustrie, wo die Bänder komplett stillgelegt werden können – in einem Pflegeheim die oftmals hilflosen Bewohner sich selbst (bzw. ihren Angehörigen) überlassen würde, ebenso stellt sich das in den Kliniken dar. Deshalb gibt es im Krankenhausbereich bei den Streikaktionen ja immer auch die Notdienstvereinbarungen, mit denen ein Mindestmaß an Versorgung sichergestellt werden muss bzw. soll.
Die Pflegekräfte in den Unikliniken sind die Speerspitze einer leider notwendigen Bewegung in Richtung auf mehr Konfrontation in diesem bereits seit Jahren – und durch Corona noch stärker – schwer in den Seilen hängenden Bereich des Gesundheitswesens. Das Fenster der Möglichkeiten ist nur (noch?) einen Spalt geöffnet, die meisten Menschen gehen bereits wieder über in eine Nach-Corona-ist-wie-vor-Corona-Haltung, bei der die Gesetze der Aufmerksamkeitsökonomie, nach der die Berichterstattungskarawane unerbittlich weiterzieht zu neuen Themen, unerbittlich zuschlägt und eben andere Baustellen in den Mittelpunkt rückt. Wie beispielsweise die Urlaubskreise störende Warteschlangen an Flughäfen oder überfüllte Regionalzüge auf dem Weg zum Wochenendspektakel. Vielleicht sollte man an dieser Stelle dem einen oder anderen die objektiv falsche, aber dennoch sinnhafte Lebensweisheit zurufen: Man sieht sich immer zweimal im Leben.