Die vom Bundesverfassungsgericht bestätigte „einrichtungsbezogene Impfpflicht“: Ein Lehrstück über löchrige Gesetzgebung und Umsetzungsdurcheinander

Das Bundesverfassungsgericht hat sich am 19. Mai 2022 zu Wort gemeldet. Unter der Überschrift Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen die Pflicht zum Nachweis einer Impfung gegen COVID-19 (sogenannte „einrichtungs- und unternehmensbezogene Nachweispflicht“) teilt uns das höchste deutsche Gericht mit, dass der Erste Senat eine Verfassungsbeschwerde zurückgewiesen hat, die sich gegen § 20a, § 22a und § 73 Abs. 1a Nr. 7e bis 7h des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz – IfSG) richtet. Darin ist die auf bestimmte Einrichtungen und Unternehmen des Gesundheitswesens und der Pflege bezogene Pflicht geregelt, eine COVID-19-Schutzimpfung, eine Genesung von der COVID-19-Krankheit oder eine medizinische Kontraindikation für eine Impfung nachzuweisen. Die Botschaft an die Beschwerdeführer, an die Politik und letztlich an die gesamt Bevölkerung ist unmissverständlich:

»Soweit die Regelungen in die genannten Grundrechte eingreifen, sind diese Eingriffe verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Der Gesetzgeber hat im Rahmen des ihm zustehenden Einschätzungsspielraums einen angemessenen Ausgleich zwischen dem mit der Nachweispflicht verfolgten Schutz vulnerabler Menschen vor einer Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 und den Grundrechtsbeeinträchtigungen gefunden. Trotz der hohen Eingriffsintensität müssen die grundrechtlich geschützten Interessen der im Gesundheits- und Pflegebereich tätigen Beschwerdeführenden letztlich zurücktreten.«

Seit dem 16. März 2022 ist die „einrichtungsbezogene Impfpflicht“ formal scharf gestellt worden. Gesetzgeberische Grundlage ist der Gesetzentwurf zur Stärkung der Impfprävention gegen Covid-19 und zur Änderung weiterer Vorschriften im Zusammenhang mit der Covid-19-Pandemie (BT-Drs. 20/188 vom 06.12.2021) in der vom Hauptausschuss geänderten Fassung (BT-Drs. 20/250 vom 09.12.2021). 

Die Kurzfassung dessen, was da im Dezember 2021 von der neuen Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP im Bundestag beschlossen wurde, geht so: Die neue Impfpflicht wird ab dem 16. März 2022 für Beschäftigte in Kliniken, Pflegeheimen, Arzt- und Zahnarztpraxen, Reha-Kliniken, Geburtshäusern oder auch bei Rettungsdiensten gelten. Dort müssen die Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer dann einen Nachweis vorlegen, dass sie vollständig geimpft oder genesen sind oder ein Attest, dass sie nicht geimpft werden können. Geschieht dies nicht, muss der Arbeitgeber das Gesundheitsamt informieren. Das Gesundheitsamt kann ein Betretungsverbot für die Arbeitsstelle aussprechen. Die Gesetzesbegründung stellt klar, dass mit einem Betretungsverbot im Ergebnis auch die Lohnzahlungspflicht des Arbeitgebers entfällt. Weitere arbeitsrechtliche Konsequenzen sind nicht ausgeschlossen.

„Die Gesetzesbegründung stellt klar“ und weitere arbeitsrechtliche Konsequenzen seien „nicht ausgeschlossen“ – man muss kein Jurist sein, um zu erahnen, dass aus solchen Formulierungen zahlreiche Folgefragen und Interpretationsspielräume erwachsen (vgl. für eine kritische Auseinandersetzung mit dem Gesetz den Beitrag „Wasch mir den Pelz, aber mach mich nicht nass“-Gesetzgebung? Die „einrichtungsbezogene Impfpflicht“ als ein weiteres Lehrbuchbeispiel vom 3. Februar 2022). Und am 22. März 2022 wurde hier in dem Beitrag Was für ein Durcheinander: Die einrichtungsbezogene Impfpflicht ja, die allgemeine Impfpflicht möglicherweise ja, aber vielleicht nur etwas oder ganz bestimmt auch nicht von den zahlreichen Tiefen und Untiefen der Auslegung und der praktischen Umsetzung der gesetzlichen Verpflichtungen berichtet.

Maßgeblicher Stichtag im Gesetz war der 15. März 2022. »Die Beschäftigung von nach diesem Tag eingestellten ungeimpften Personen ist grundsätzlich unzulässig. Bis zum 15. März 2022 eingestellte Mitarbeiter hingegen müssen ihren Impf- bzw. Genesenenstatus gegenüber dem Arbeitgeber nachweisen. Sind sie ungeimpft bzw. können sie dies nicht, hat die Einrichtungsleitung dies dem zuständigen Gesundheitsamt mitzuteilen. Dieses kann dann ein Beschäftigungsverbot verhängen. Geschieht dies, darf der Mitarbeiter nicht mehr tätig werden. Indes: Ohne die Erteilung eines behördlichen Beschäftigungsverbots ist eine Beschäftigung des ungeimpften Mitarbeiters rechtlich zulässig«, so Michael Fuhlrott in seinem Beitrag Keine Beschäf­ti­gung für imp­f­un­wil­lige Pfle­ge­kräfte vom 14. April 2022. Dort wird dann von dem folgenden Fall berichtet: »Die Leitung eines Seniorenheims wollte jedoch auf Nummer sicher gehen. Sie stufte das Risiko einer Beschäftigung von ungeimpften Mitarbeitern mit Kontakt zu den teils hochbetagten Heimbewohnern als zu hoch ein. Als zwei dort beschäftigte Mitarbeiter den Impf- bzw. Genesenenstatus nicht nachweisen konnten, stellte das Seniorenheim die Beschäftigten kurzerhand von der Verpflichtung zur Erbringung der Arbeitsleistung frei. Ein behördliches Beschäftigungsverbot war zu diesem Zeitpunkt nicht erteilt worden. Die betroffene Pflegefachkraft und der betroffene Wohnbereichsleiter wollten diese Freistellung nicht hinnehmen. Sie verlangten ihre Beschäftigung und machten diese sodann im Wege der einstweiligen Verfügung gerichtlich geltend.«

»Damit scheiterten sie aber vor dem Arbeitsgericht Gießen (Urt. v. 12.04.2022, Az.: 5 Ga 1/22 und 5 Ga 2/22). Denn das Gericht teilte die Auffassung des Arbeitgebers: Aus der infektionsschutzrechtlichen Vorschrift des § 20a Abs. 3 S. 4 IfSG folge zwar ein unmittelbares Beschäftigungsverbot bei Nichtvorlage eines Impf- oder Genesenennachweises nur für ab dem 16. März 2022 neu eingestellte Personen, nicht aber für bislang schon beschäftigte Personen, so die Kammer ausweislich der Pressemitteilung. Gleichwohl sei es einem Arbeitgeber unbenommen, unter Berücksichtigung der gesetzlichen Wertungen des § 20a IfSG und unter Anwendung billigen Ermessens das besondere Schutzbedürfnis der Heimbewohner höher als das Beschäftigungsinteresse ungeimpfter bzw. nicht-genesener Mitarbeiter zu gewichten. Denn der Gesundheitsschutz der Heimbewohner überwiege im Rahmen einer Abwägung der widerstreitenden Interessen.«

Die Entscheidung des Arbeitsgerichts Gießen ist wohl die erste im Kontext der einrichtungsbezogenen Impfpflicht gewesen und nicht überraschend, denn, so Fuhlrott: »Verschiedene Arbeitsgerichte haben zuvor bereits bei ähnlichen coronaspezifischen Abwägungsfragen regelmäßig dem Gesundheitsschutz ein höheres Gewicht als dem individuellen Beschäftigungsinteresse zugemessen.«1

»Impffähige, aber impfunwillige Beschäftigte dürften … den Anspruch auf Lohnzahlung während der Freistellung verlieren. Ohne Arbeit kein Lohn ist der allgemeine zivilrechtliche Grundsatz, der dann Anwendung findet. Wenn der Arbeitnehmer die vertraglich geschuldete Leistung nicht erbringt, geht er seines Lohnanspruchs grundsätzlich verlustig«, so Fuhlrott.2 Es sind mithin ganz erhebliche Konsequenzen für die betroffenen Arbeitnehmer, die mit der einrichtungsbezogenen Impfpflicht verbunden sind – bzw. sein könnten, so muss man das richtigerweise formulieren, denn die Konsequenz des Einkommensverlustes aufgrund der Verweigerung einer Impfung muss auch durchgesetzt werden von den hier zuständigen Behörden.

Genau davon kann man hier nicht ausgehen. Bereits im Vorfeld des Inkrafttretens der einrichtungsbezogenen Impfpflicht wurde von unterschiedlicher Seite darauf hingewiesen, dass zahlreiche Gesundheitsämter, die bei der Durchsetzung dieser Teil-Impflicht eine zentrale Rolle spielen (müssen), dermaßen überlastet sind, dass sie dazu nicht oder nur partiell und dann nach einer langen Verzögerung in der Lage sein werden.

Und vor diesem Hintergrund überraschen dann solche Meldungen nicht wirklich: »Fast zwei Monate nach Inkrafttreten der Impfpflicht im Gesundheitswesen sind in Sachsen-Anhalt bisher keine Sanktionen wie Bußgelder oder Beschäftigungsverbote verhängt worden. Tausende Verstöße sind den Gesundheitsämtern zwar inzwischen gemeldet worden. Mit einem schnellen Abschluss der Verfahren ist durch die Überlastung der Gesundheitsämter aber kaum zu rechnen.« Laut Gesundheitsministerium in Sachsen-Anhalt »waren bis Ende März über 8.000 Personen gemeldet worden, die nicht oder nicht vollständig geimpft sind. Das seien rund fünf Prozent der Beschäftigten im Gesundheits- und Pflegewesen, so eine Sprecherin. In Magdeburg gibt es mit Abstand die meisten Verstöße: 1.600 Fälle haben die Einrichtungen in der Landeshauptstadt angegeben.« Und dann kommt ein aufschlussreicher Passus: »Gesundheitsamtsleiter Eike Hennig hält Betretungs- oder Tätigkeitsverbote allerdings für unwahrscheinlich. Es gelte der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. „Die Versorgung von Patienten und Pflegebedürftigen darf nicht gefährdet werden. Sind Mitarbeiter unverzichtbar, müssen sie weiter arbeiten können.“«

Wenige Tage später wurde dann aber aus einem westdeutschen Bundesland das hier gemeldet: Rhein-Pfalz-Kreis: Ab Juni Bußgelder für ungeimpfte Pflegekräfte: »Im Juni will das Gesundheitsamt des Rhein-Pfalz-Kreises damit beginnen, für ungeimpfte Pflegekräfte Geldstrafen zu verhängen … Im Gebiet um Ludwigshafen, Frankenthal und Speyer wurden dem zuständigen Gesundheitsamt mittlerweile mehr als 800 ungeimpfte Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen in der Pflege gemeldet. So der Stand in der ersten Mai-Woche. Nach eigenen Angaben fordert das Gesundheitsamt noch einmal jeden von ihnen auf, einen Impfnachweis vorzulegen. Sonst drohen Geldstrafen von bis zu 2.500 Euro und ein Berufsverbot.« Hier würden ungeimpfte Arbeitskräfte ihre Jobs verlieren – an anderer Stelle werden dadurch neue Jobs geschaffen: »Das Gesundheitsamt des Rhein-Pfalz-Kreises versucht gerade sein Personal aufzustocken, um die Bußgeldvergabe bewältigen zu können. Die Ausschreibungen liefen, aber es sei nicht einfach neue Leute zu bekommen, heißt es.«

Und zu dem Thema Bußgeld erfährt man dann wieder aus einem anderen Bundesland: Verstöße gegen die Corona-Impfpflicht in der Pflege sollen in Bayern nur mit einem Bruchteil des möglichen Bußgeldes von 2500 Euro geahndet werden. Der rein theoretische Bußgeldrahmen werde in Bayern nicht vollständig ausgeschöpft, „im Regelfall wird ein Bußgeld maximal 300 Euro betragen“, wird eine Sprecherin des Gesundheitsministeriums in dieser Meldung zitiert: 300 Euro Bußgeld für Verstöße gegen Impfpflicht in Pflege. „Im (bayerischen) Regelfall maximal“ – das liest sich nicht sehr punktgenau. Wir erfahren weiter: »Vorgaben für Bußgelder gebe es keine: „Es obliegt den zuständigen Kreisverwaltungsbehörden, im konkreten Einzelfall eine angemessene Höhe festzulegen.“ Dabei sollen den Ministeriumsangaben zufolge auch eine etwaige Teilnahme an der empfohlenen Impfberatung, die finanzielle Situation beziehungsweise das Einkommen der Betroffenen, die regionale und einrichtungsbezogene Versorgungssituation sowie eine mögliche Gefährdung der Versorgungssicherheit durch eine Kündigung mit einbezogen werden.« Offensichtlich haben die Gesundheitsämter nun wirklich nichts anderes zu tun. Oder man sendet damit eine andere Botschaft „nach unten“ aus.

Ganz offensichtlich stockt und klemmt es bei der Umsetzung: »Hessens Gesundheitsämter haben rund 10.000 Ungeimpfte angeschrieben. Reagiert hat bisher nur ein kleiner Teil«, kann man dieser Meldung entnehmen: Tausende ungeimpfte Pflegekräfte reagieren nicht auf Behörden-Post: »Praktisch dürfte es Monate dauern, bis alle Heim-, Klinik- und Praxismitarbeiter die Vorgaben erfüllen. Die Gesundheitsämter verschicken zurzeit tausendfach Post an Ungeimpfte in Medizinberufen.« Der Blick auf das weitere Prozedere verdeutlicht, dass das alles noch sehr lange dauern kann: »Für die Antwort ans Gesundheitsamt bleibt den Angeschriebenen eine Frist von vier Wochen. Lassen sie die verstreichen, flattert eine zweite Aufforderung ins Haus – mit einer neuen Frist und einem Beratungsangebot: in Offenbach zum Beispiel in der Impfstation. Erst danach kann es Bußgelder geben. Zäh scheint die Durchsetzung der Impfpflicht auch noch aus anderen Gründen: Allein die Ungeimpften richtig zu erfassen, gestalte sich schwierig, klagen einige Behörden. Schuld seien zum Beispiel falsche Meldungen.« So wurden einige Ungeimpfte gleich mehrfach gemeldet, „weil sie mehrere Arbeitgeber haben“. Diese Doppelmeldungen müssten aussortiert werden. Oder: Zuständigkeitsprobleme entstünden zudem dann, wenn Ungeimpfte in unterschiedlichen Kreisen wohnen und arbeiten. „Die Aufarbeitung der Fälle nimmt viel Zeit in Anspruch“, so wird ein hessisches Gesundheitsamt zitiert.

Vom zuständigen Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) wird hinsichtlich der Umsetzung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht die Einschätzung ziert, „die Regelungen würden gut angenommen und geräuschloser umgesetzt als von manchen vermutet.“ Da nun gibt es nicht nur, aber besonders deutlich Widerspruch gerade aus ostdeutschen Bundesländern, wo die Zahl der ungeimpften Beschäftigten sicher höher ist als in vielen anderen Regionen. Als Beispiel sei auf diese Meldung hingewiesen: Sachsen-Diakonie widerspricht Lauterbach: Riesenprobleme mit der Pflege-Impfpflicht: „Wir haben als Landesverband sehr früh für eine allgemeine Impfpflicht geworben, weil uns klar war, dass eine alleinige berufsbezogene Impfpflicht bei uns hier in Sachsen auf große Widerstände stoßen würde – auch wenn sie ethisch wie medizinisch geboten ist.“ Mit diesen Worten wird der Chef der Diakonie in Sachsen, Dietrich Bauer, zitiert. „Natürlich hoffen unsere Träger, dass es zu pragmatischen Lösungen kommt. Denn all diese Mitarbeitenden sind für die Versorgungssicherheit aus guten Gründen als unabkömmlich gemeldet und werden hoffentlich mit zusätzlichen Schutzauflagen wie Tests und Masken weiterarbeiten können.“ Und es werden handfeste praktische Probleme in vielen Einrichtungen und Diensten aufgerufen: Laut dem Diakonie-Chef sehen sich Träger von Heimen in der Pflicht, Verträge zu kündigen oder Neuverträge abzulehnen, Urlaubspläne zu streichen und über Bereichs- und Hausschließungen nachzudenken, weil sie nicht wissen, wie viele Mitarbeiter sie ab Juli und August tatsächlich noch haben. „Dieser Zustand ist aus ihrer Sicht absolut untragbar.“ Das Fazit: »Zudem habe die ganze Diskussion großen Unfrieden in die Pflegeteams und Häuser getragen.«

»In der Praxis werden ungeimpfte Mitarbeiter noch immer in der Pflege eingesetzt. Viele Arbeitgeber warten, bis das Gesundheitsamt ein Beschäftigungsverbot ausspricht – und das kann dauern«, so Michaela Schwinn und Patrick Wehner unter der Überschrift Ein Gesetz, das kaum Folgen hat. Auf der einen, der positiven Seite verweisen sie auf die offiziellen Zahlen der Bundesländer: In den meisten sind weit über 90 Prozent der Mitarbeiter im Gesundheitsbereich geimpft. Aber: »Was aber passiert mit denjenigen Ärzten, Pflegekräften und Klinikköchen, die weder geimpft noch genesen sind? Allein in Bayern sind es laut Ministerium mehr als 40 000. Wurden sie sanktioniert und wenn ja, wie? Es ist nicht einfach, dieser Frage nachzugehen, denn einheitliche Regeln gibt es kaum.« In der Praxis liegt vieles im Ermessensspielraum der jeweiligen Gesundheitsämter. Und auch in diesem Beitrag werden wieder Beispiele über eine durchaus kritische Lage gerade in ostdeutschen Regionen zitiert:

➞ »Dirk Reinke jedenfalls rechnet nicht damit, dass er seine ungeimpften Mitarbeiter in Kürze freistellen muss. Er ist Geschäftsführer der Arbeiterwohlfahrt (AWO) in Oberlausitz, die Impfpflicht treffe alle von der Organisation betriebenen fünf Altenheime und zwei Pflegedienste von Görlitz bis zum Zittauer Gebirge, sagt er. Ungefähr 90 Angestellte musste Reinke melden, bisher wurden diese lediglich von den Behörden angeschrieben. Nun warte er, bis auch er sich dort äußern darf. Zu erzählen habe er nämlich viel, so Reinke: Über die ohnehin angespannte Lage, fehlende Pflegekräfte an allen Standorten und keinerlei Bewerbungen. „Dazu noch Beschäftigungsverbote? Das würde die Versorgungssicherheit völlig infrage stellen“, sagt er.«

Mittlerweile hat man in Karlsruhe die Einwände gewogen und für zu leicht befunden: Für das Bundesverfassungsgericht ist die „einrichtungsbezogene Impfpflicht“ verfassungskonform

In einer Mitteilung des hohen Gerichts vom 19. Mai 2022 wurde bereits in der Überschrift deutlich, wie das Bundesverfassungsgericht die umstrittene Frage bewertet, ob man bestimmte Beschäftigte zwingen darf oder nicht: Erfolglose Verfassungsbeschwerde gegen die Pflicht zum Nachweis einer Impfung gegen COVID-19 (sogenannte „einrichtungs- und unternehmensbezogene Nachweispflicht“): Der Erste Senat des BVerfG hat eine Verfassungsbeschwerde, »die sich gegen § 20a, § 22a und § 73 Abs. 1a Nr. 7e bis 7h des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz – IfSG) richtet«, zurückgewiesen. Die Ansage in BVerfG, Beschluss des Ersten Senats vom 27. April 2022, 1 BvR 2649/21, ist eindeutig:

»Die angegriffenen Vorschriften verletzen die Beschwerdeführenden nicht in ihren Rechten insbesondere aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 12 Abs. 1 GG. Soweit die Regelungen in die genannten Grundrechte eingreifen, sind diese Eingriffe verfassungsrechtlich gerechtfertigt. Der Gesetzgeber hat im Rahmen des ihm zustehenden Einschätzungsspielraums einen angemessenen Ausgleich zwischen dem mit der Nachweispflicht verfolgten Schutz vulnerabler Menschen vor einer Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 und den Grundrechtsbeeinträchtigungen gefunden. Trotz der hohen Eingriffsintensität müssen die grundrechtlich geschützten Interessen der im Gesundheits- und Pflegebereich tätigen Beschwerdeführenden letztlich zurücktreten.«

Der Beschluss des BVerfG sei »nachvollziehbar begründet und im Ergebnis schlüssig«, so Felix W. Zimmermann in seiner Kommentierung unter der Überschrift Mehr Dif­fe­ren­zie­rung wagen. Allerdings weist er darauf hin, dass sich in dem Beschluss erneut zeige, »dass das BVerfG Grundrechtseingriffe aufgrund von Corona-Maßnahmen unterbelichtet. So betrachtet das Gericht etwa Impfverweigerer nicht gerade mehrdimensional. Es betont – gönnerhaft anmutend –, dass das Selbstbestimmungsrecht auch umfasst, „unvernünftige Entscheidungen“ zu treffen.« Nun seien manche Aussagen von Impfgegnern wahrlich schwere Kost, doch »gerade für jüngere Menschen bestehen auch berechtigte Zweifel an der Vernünftigkeit des Impfens unter Omikron-Bedingungen, weil erstens das Virus weniger gefährlich geworden ist, zweitens sich auch Geimpfte massenhaft anstecken (etwaig mit leichterem Verlauf) und drittens die dauerhafte Notwendigkeit von zeitnahen Auffrischungsimpfungen besteht („Dauer-Impfpflicht-Abo“…).« Zimmermann weist zudem darauf hin, dass die »sonst oft beim BVerfG zu beobachtende Lust an der Differenzierung … hat das Gericht bei Corona-Maßnahmen noch nie versprüht und auch diesmal nicht in Ansatz gebracht.« Was meint er damit? So halten es die Richter »für unerheblich, dass selbst bei Verwaltungsangestellten und Küchenpersonal, das kaum Kontakt mit Kranken und Pflegebedürften hat, eine Impfpflicht besteht. Es bestünde die Gefahr der mittelbaren Ansteckung von vulnerablen Gruppen.«

Fazit: Ein löchriges „Stellvertreter“-Gesetz mit erheblichen Umsetzungsproblemen, die vor Ort abgeladen werden – und im Zusammenspiel mit anderen Erfahrungen ein weiterer Baustein auch für die Pflegekräfte, die sich an die Regeln halten, dass sie letztlich nur als Verfügungsmasse gesehen werden

Eine Vorbemerkung zum Fazit: Die „einrichtungsbezogene Impfpflicht“ kann und muss auch und gerade dann kritisch betrachtet werden, wenn man nicht zu den (aus welchen Gründen auch immer) „Impfgegnern“ gehört und das Impfen als eine selbstverständliche Eigen- und Fremdschutzmaßnahme ansieht. Aber das basiert auf einer eigenen Entscheidung unter Abwägung der damit verbundenen auch gesellschaftlichen Vorteile. Der Verfasser gehört zu denen, die sich selbstverständlich haben impfen lassen.

Man muss sehen, dass diese Teil-Impflicht im vergangenen Jahr auf den Weg gebracht wurde als erster Schritt, der dann anschließend erweitert werden sollte durch eine allgemeine Impfpflicht für die Bevölkerung. Nun wissen wir alle, dass man nicht die politische Kraft hatte, eine allgemeine Impfpflicht (und die dann auch noch „rechtzeitig“) auf den Weg zu bringen. Immer wieder tauchte dabei der Begründungsversuch auf, man könne eine allgemeine Impfpflicht schlichtweg nicht durchsetzen, der Widerstand bei einem Teil der Menschen wäre zu groß. Und dabei wurde, als noch über eine allgemeine Impfpflicht ging, immer wieder hervorgehoben, dass man hinsichtlich der Folgen davon ausgehen könne, dass kein Impfunwilliger mit der Polizei zum Akt seiner oder ihrer Verweigerung geführt werde.

Wenn man aber für die Mehrheit, selbst für Teilgruppen der allgemeinen Bevölkerung (denn das wurde am Ende in Form konkreter Anträge im Bundestag diskutiert, also für Über-18-Jährige, dann nur für Über-50-Jährige und noch ältere Menschen) keine Impfpflicht durchsetzen kann bzw. will, dann ist eine Impfpflicht für Menschen, die in bestimmten Einrichtungen und Diensten ihrer beruflichen Tätigkeit nachgehen, an sich schon besonders begründungsbedürftig. Und diese besondere Begründungsbedürftigkeit wird dann nochmals gesteigert, wenn es nicht nur um ein „kleines“ Bußgeld gehen sollte, sondern mit dem Nicht-Einhalten die gesamte berufliche Existenz gefährdet werden kann und die – für den Großteil der Betroffenen existenzielle Einkommenserzielungsmöglichkeit – mit einem Streich wegfallen könnte.

Immer dieser Konjunktiv – der hier aber eine ganz eigene und kritikwürdige Bedeutung hat. Denn das Gesetz ist dermaßen löchrig gestrickt worden, dass ein Nicht-Geimpfter je nach Wohnort entweder sofort ohne weiteres Lohneinkommen „freigestellt“ werden kann, in anderen Regionen hingegen signalisierten die Behörden, die eigentlich für die Einhaltung des Gesetzes zuständig sind, dass bei ihnen die Kartoffel nicht so heiß gegessen werde, wie sie gekocht wurde, noch nicht einmal lauwarm, weil man die mehr oder weniger eindeutig beschriebene Konsequenz der Nicht-Impfung vor Ort aussetzen werde. Wie erklärt man den einen, dass sie mit einem Berufsverbot konfrontiert werden (weil sie zufälligerweise in einer Region leben, in der vielleicht die Zahl der Impfverweigerer niedrig und die zuständigen Gesundheitsämter hinsichtlich der Sanktionierung handlungsfähig und -willig sind), während zahlreiche Impfverweigerer in anderen Regionen unseres Landes sogar von „höherer Stelle“ geschützt und damit in ihrer Verweigerungshaltung bestärkt werden? Die wahrscheinlich noch nicht einmal mit einem Bußgeld belangt werden? Eine eben nicht nur fragwürdige, sondern eine die Autorität des Gesetzgebers delegitimierende Umsetzungsheterogenität zeichnet sich vor unseren Augen ab. Und vielleicht sollten die Verantwortlichen mal überschlägig kalkulieren, welche teilweise grotesken Folgen sie vor Ort damit anrichten, wie viele sinnlose Abstimmungsrunden, Planungsgespräche und frustrierende Dauerschleifen bei der Erstellung von Dienstplänen sie produzieren. Wenn aber, wie manche hochrangige Politiker behaupten, alles gar kein wirkliches Problem ist, weil die ganz große Mehrheit der Betroffenen geimpft oder genesen ist, muss man dann einem so besonders scharfen Schwert wie der einrichtungsbezogenen Impfpflicht festhalten und diese – möglicherweise – hinsichtlich der massiven Folgen im Einzelfall auch exekutieren mit erheblichem Aufwand? Könnte man dann nicht entspannt verzichten?

Nun hat sich zudem die allgemeine Lage dahingehend geändert, dass nicht nur eine allgemeine Impfpflicht offensichtlich als nicht umsetzbar erkannt wurde, sondern gleichzeitig erleben wir alle (ob berechtigt oder nicht kann hier nicht beurteilt werden), dass die Corona-Pandemie vorbei ist und selbst die Maskenpflicht in so gut wie allen Lebensbereichen bis auf wenige Ausnahmen (wo dann wiederum die Impfverpflichteten arbeiten) wurde und wird gerade aufgehoben. Die EU hat die Maskenpflicht selbst für die Flüge, wo die Menschen wie Ölsardinien gestapelt werden, als Verpflichtung aufgehoben (auch wenn einzelne Länder daran noch festhalten können). Das verstehen viele Menschen so, wie es gemeint ist. Alles wieder gut.

Schlussendlich sollte man einer Bilanzierung der einrichtungsbezogenen Impfpflicht auch die Kollateralschäden in Rechnung stellen, die im Zusammenspiel mit anderen Erfahrungen, die das Gesundheitspersonal in den vergangenen Monaten machen musste, mit dazu beitragen, dass das Gegenteil einer Motivationswelle durch das übermäßig belastete und vielerorts erschöpfte Personal geht – sondern dass viele in den Gesundheitsberufen den Eindruck bekommen (müssen), sie werden nur als „Verfügungsmasse“ gesehen und behandelt. Die Erfahrungen, dass man ganz schnell Schutzregelungen für das mehrfach erhöhten Risiken ausgesetzte Personal in Kliniken, Pflegeheimen und Pflegediensten beispielsweise bei den Arbeitszeiten außer Kraft setzen kann bis hin zu dem Gewürge, dass man monatelange und dann mit einer zutiefst deutschen Selektions- und Sortierintensität über Corona-Prämien streitet, die vor den Augen der (kleiner werdenden) Gruppe der potenziell Anspruchsberechtigten so lange hin und her diskutiert werden, dass sie am Ende kleingeschreddert auf den Rest verteilt werden können (vgl. dazu den Beitrag „Pflegebonus“: Klappe, die nächste. Sie haben es schon wieder getan. Aber (vielleicht) gut gemeint kann auch schlecht gemacht zur Folge haben vom 19. Mai 2022).

Und auch negative Rückwirkungen auf die große Mehrheit des Personals, bei denen man feststellen muss, dass sie sich an alle Regeln und Auflagen gehalten und daraus folgend die erheblich erschwerten Arbeitsbedingungen ge- und ertragen haben, sollten nicht aus dem Blick geraten. Dazu nur ein Beispiel mit Blick auf die Zuckungen rund um die einrichtungsbezogene Impfpflicht, das von Michaela Schwinn und Patrick Wehner in ihrem Beitrag Ein Gesetz, das kaum Folgen hat zitiert wird:

»In vielen Kliniken und Pflegeheimen scheint die Stimmung allerdings zu kippen. „Es war eine Riesenenttäuschung für mich und meine Mitarbeiter, dass die allgemeine Impfpflicht nicht kommt“, sagt Bernhard Schneider, Hauptgeschäftsführer der Evangelischen Heimstiftung. Er stehe zu 100 Prozent hinter der Impfpflicht in Kliniken und Pflegeheimen, begrüße sogar das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, aber die Motivation seiner Mitarbeiter sei seit der Entscheidung gegen die allgemeine Impfpflicht massiv gesunken: „Meine Pflegekräfte fragen sich: Warum soll ich mich ein drittes oder viertes Mal impfen lassen, wenn die Tochter oder der Sohn zu einer Bewohnerin kommen darf ganz ohne Impfung. Und die Pflegekraft muss eine Maske tragen, sich testen und impfen lassen.“ Er verlangt deshalb, dass die einrichtungsbezogene Impfpflicht ausgesetzt wird – solange keine allgemeine eingeführt wird.«

1 So geht die Rechtsprechung etwa davon aus, dass ein ärztlich attestiertes Maskenbefreiungsattest nicht eine Tätigkeit ohne Maske, sondern gleichermaßen eine Freistellung des betroffenen Arbeitnehmers rechtfertigt (u.a. LAG Köln, Urt. v. 12.04.2021, 2 SaGa 1/21; LAG Hamburg, Urt. v. 13.10.2021, Az.: 7 Sa 23/21).
Auch dürfen Arbeitgeber qua Direktionsrecht zur Sicherstellung des betrieblichen Gesundheitsschutzes weitergehende Testpflichten anordnen, als es das Gesetz vorschreibt: Arbeitnehmer müssen den hierdurch entstehenden Eingriff in ihre körperliche Unversehrtheit dulden und können andernfalls freigestellt werden bzw. dürfen vom Betriebsgelände verwiesen werden (LAG München, Urt. v. 26.10.2021, Az.: 9 Sa 332/21; ArbG Offenbach, Urt. v. 03.02.2021, Az: 4 Ga 1/21).

2 Fuhlrott sieht eine mögliche Abweichung: »Eine Sonderkonstellation könnte sich … dann ergeben, wenn der betroffene Arbeitnehmer gem. § 20a Abs. 1 S. 2 IfSG eine ärztliche Bescheinigung vorlegt, wonach er aufgrund einer medizinischen Kontraindikation nicht geimpft werden kann. Zwar bleibt die Gefährdung der Rechtsgüter der Bewohner in diesem Fall gleichermaßen hoch, was für die Zulässigkeit von Freistellungen in derartigen Sonderfällen spricht. Allerdings ist hier auf der Ebene der Vergütungszahlung zu differenzieren: Aus medizinischen Gründen impfunfähige Mitarbeiter dürften als arbeitsunfähig zu qualifizieren, ihnen ist Lohnfortzahlung nach dem Entgeltfortzahlungsgesetz zu gewähren.«