„Wilde Streiks“ scheitern weiterhin an der jahrzehntelang zementierten Abwehrfront des deutschen Arbeitsrechts: Die Kündigungen nach einem „wildem Streik“ beim Lebensmittellieferdienst Gorillas in Berlin sind zulässig

»Mitarbeiter des Lieferdienstes hatten die Arbeit niedergelegt und wurden entlassen. Zentraler Streitpunkt in dem Verfahren war, ob ein Streik zulässig sein kann, wenn er nicht gewerkschaftlich organisiert ist«, berichtet Katja Gelinsky und gibt mit ihrer Artikelüberschrift auch schon die Antwort, wie das (vorläufig) ausgegangen ist: Kündigung von Gorillas-Mitarbeitern war rechtens. Beim hier verantwortlichen Arbeitsgericht Berlin findet man dazu unter der Überschrift Kündigungen von Kurierfahrern wegen Teilnahme an „wildem“ Streik wirksam eine Pressemitteilung vom 6. April 2022, der wir entnehmen können: »Das Arbeitsgericht Berlin hat die Kündigungsschutzklagen von drei Fahrradkurierfahrerinnen und -fahrern abgewiesen, denen aufgrund ihrer Teilnahme an einem wilden – also nicht von einer Gewerkschaft organisierten – Streik gekündigt worden war.«

Zum Sachverhalt berichtet das Arbeitsgericht: »Die Arbeitgeberin hatte den klagenden Parteien vorgeworfen, sich an einem viertägigen Streik beteiligt zu haben. Der Streik wurde von Mitarbeitenden des Fahrradkurierdienstes organisiert, unter anderem um pünktliche Bezahlung sowie die Ausstattung mit Regenkleidung zu erreichen. Die Arbeitgeberin hatte die Teilnehmenden des Streiks mehrfach aufgefordert, ihre Arbeit wiederaufzunehmen. Als diese sich weigerten, kündigte sie die Arbeitsverhältnisse außerordentlich und fristlos.«

Dagegen hatten sich die betroffenen Rider zur Wehr gesetzt – sie zogen vor Gericht und beriefen sich dabei auf das Grundgesetz: »Die Kurierfahrerinnen und -fahrer sind der Auffassung, dass auch die Teilnahme an einem verbandsfreien Streik eine zulässige Rechtsausübung darstelle, und berufen sich unter anderem auf die Koalitionsfreiheit aus Artikel 9 Absatz 3 Grundgesetz (GG). Die Koalitionsfreiheit schütze auch Arbeitskampfmaßnahmen, die nicht den Abschluss eines Tarifvertrages zum Ziel hätten und deshalb auch nicht gewerkschaftlich organisiert sein müssten.«

Das Gericht erachtete zwei der außerordentlichen Kündigungen für wirksam – die außerordentliche fristlose Kündigung eines weiteren Klägers hielt das Gericht für unwirksam, da bei diesem die Arbeitsverweigerung nicht hinreichend habe festgestellt werden können.

Und warum durfte den streikenden Fahrern fristlos gekündigt werden? Dazu gibt es in der Mitteilung des Arbeitsgerichts nur diesen einen Satz:

»Zur Begründung hat das Gericht ausgeführt, dass die Teilnahme an einem Streik nur dann rechtmäßig sei, wenn dieser von einer Gewerkschaft getragen werde.«

Gegen die Entscheidungen ist das Rechtsmittel der Berufung zum Landesarbeitsgericht Berlin-Brandenburg zulässig.

Ein Blick zurück in das turbulente Jahr 2021 – da gab es viele Schlagzeilen, Solidarität, aber auch eine gewisse Distanz zu den selbstorganisierten Protestaktionen aus der (neuen) Lieferbotengesellschaft

In den warmen Monaten des vergangenen Jahres gab es zahlreiche Berichte über die Arbeitsniederlegungen von Kurierfahrern bei dem expandierenden Lebensmittellieferdienst Gorillas. Wie eine Welle hat sich damals der Begriff „wilde Streiks“ durch die Medienlandschaft geschoben.

➔ Wie so oft kann ein kleiner Funken ein Feuer entfachen. Was hatte zu den Protestaktionen im vergangenen Jahr geführt? Auslöser war die fristlose Kündigung von Santiago, einem der „Riders“ – so die branchentypische Bezeichnung der Fahrad-Lieferboten. Als spontane Reaktion blockierten Santiagos Kol­le­gen zunächst ihren Arbeitsort in der Kreuzberger Charlottenstraße. Wenig später schlossen sich weitere Riders dem Streik an und blockierten ein zweites Verteilzentrum in der Muskauer Straße im Stadtteil Kreuzberg. »Bei den Hunderten Beschäftigten des Berliner Jungunternehmens hatte sich seit Wochen Wut angestaut: Datenlecks, angeblich miese Arbeitsbedingungen und Behinderungen bei der Gründung eines Betriebsrates sorgten für Negativschlagzeilen. Der Rausschmiss eines Fahrers, der angeblich wenige Minuten zu spät zu einer Schicht erschienen war, brachte das Fass zum Überlaufen«, so Jan Klauth und Benedikt Fuest in ihrem Beitrag „Wilder Streik“ – Auf dem Höhepunkt des Hypes rebellieren die „Gorillas“-Mitarbeiter, der am 10. Juni 2021 veröffentlicht wurde.

Auch hier wurde das Thema in mehreren Beiträgen aufgegriffen und besprochen. Vor dem Hintergrund der nun bekannt gewordenen Entscheidung des Berliner Arbeitsgerichts, in der es explizit um die Nicht-Zulässigkeit von sogenannten „wilden Streiks“ geht, ist dieser am 12. Juni 2021 veröffentlichte Beitrag bedeutsam: Wenn dein starkes Rad es will, stehen viele Rider still. Die Wiederauferstehung „wilder Streiks“ und dann auch noch beim Lebensmittel-Lieferdienst „Gorillas“? Darin findet man bereits zahlreiche Hintergrundinformationen zu der sehr deutschen Problematik der „wilden Streiks“. Bevor das hier wieder aufgegriffen wird, sei noch darauf hingewiesen, dass das Unternehmen Gorillas im vergangenen Jahr auch noch auf einer anderen arbeitsrechtlich relevanten Baustelle auffällig geworden ist: den offensichtlichen Versuchen, die Gründung und Wahl eines Betriebsrates zu torpedieren. Dazu ausführlicher der Beitrag Neues aus der Lieferbotengesellschaft: Die Gorillas Worker wollen einen Betriebsrat und bekommen Hilfestellung vom Arbeitsgericht. Und in eine Branche mit Fragezeichen fließen weiter Milliarden-Wettbeträge von Investoren vom 17. November 2021 sowie nachfolgend Von einer erfolgreichen Etappe im Straßenkampf um einen Betriebsrat und einer vielgestaltigen Landschaft betrieblicher Mitbestimmungsverhinderer vom 28. November 2021. Am Ende dieses Beitrags wird auf diese Dimension noch zurückzukommen sein mit Blick auf die aktuellen Entwicklungen.

Kommen wir zurück zu dem eingangs zitierten Beitrag Kündigung von Gorillas-Mitarbeitern war rechtens von Katja Gelinsky. Sie führt zum Kern des nunmehr in erster Instanz entschiedenen Verfahrens aus: »Ehemalige Radkuriere des Lebensmittel-Lieferdienstes Gorillas, die das Startup im vergangenen Jahr wegen „wilder Streiks“ fristlos entlassen hatte, wollten vor Gericht eine Modernisierung des Streikrechts erzwingen. Vor dem Arbeitsgericht Berlin sind sie jedoch mit diesem Vorhaben gescheitert.«

»Die Klägerin Duygu Kaya hatte dagegen gefordert, dass deutsche Streikrecht müsse „zeitgemäß angepasst werden“. Einer ihrer Anwälte, Benedikt Hopmann, kritisierte: „Deutschland hat das rückständigste und restriktivste Streikrecht Europas. In den meisten europäischen Ländern wäre der Streik bei Gorillas ein ganz normaler Arbeitskampf gewesen.” Hopmann kündigte an, gegen die Urteile Berufung einzulegen. Man werde notfalls bis vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg ziehen, um ein besseres Streikrecht durchzusetzen.
Die 33 Jahre alte Duygu Kaya, die 2018 aus Istanbul nach Deutschland kam, hatte im Sommer 2021 in Berlin gemeinsam mit anderen Gorillas-Kurieren gestreikt. „Unsere Löhne wurden gestohlen. Wir waren ständig unterbesetzt und wurden zu irrsingen und illegalen Schichten eingeteilt“, scheibt die Klägerin in einer Erklärung. Mehrere Auslieferlager des Startups, das in knapp zwei Dutzend deutsche Städte und noch acht andere Länder liefert, wurden lahmgelegt.«

Die Streiks und Blockaden waren nicht gewerkschaftlich organisiert. Etwa 350 Fahrradkuriere sind nach Angaben der Gewerkschaft Verdi entlassen worden, weil sie daran teilgenommen haben. Die Vorgabe, dass nur Gewerkschaften zu Streiks aufrufen und diese legitimieren dürfen und das auch nur unter restriktiven Bedingungen, ist vor Jahrzehnten im deutschen Arbeitsrecht verankert worden. Es ist aber kein Naturgesetz.

Letztendlich ging und geht es hier um eine hochpolitische Frage – der in diesem Fall zuständige Richter auf der Ebene des Arbeitsgerichts in Berlin hat das offensichtlich auch so wahrgenommen. Das wird in diesem Bericht erkennbar: Gorillas-Lieferdienst: Klassenkampf im Gerichtssaal, so ist der Artikel von Peter Nowak überschrieben:

»Im Gerichtssaal war vielmehr eine Atmosphäre von Klassenkampf zu spüren. Arbeitsrichter Kühn drohte sogar mit Räumung des Saals, weil ein Besucher einem nicht-deutschsprachigen Rider die Dialoge im Gerichtssaal übersetzte. Da konnte schon von einer Diskriminierung gesprochen werden, denn die Mehrzahl der Rider ist migrantisch und untereinander kommunizieren sie auf Englisch. Da ist es besonders fatal, dass Menschen, die dann versuchen, die Sprachdefizite durch Übersetzung in Eigeninitiative ausgleichen, sanktioniert werden.
Auch gegenüber dem Anwalt der Beschäftigten, Benedikt Hopmann, waren die Töne des Richters sehr rau. Er beschuldigte ihn, auf Kosten der Beschäftigten Politik betreiben zu wollen. Das zeigte sich für Kühn schon daran, dass über 50 Menschen den Prozess verfolgten, der dafür extra in einen größeren Saal umziehen musste.
Für Hopmann ist das Interesse deshalb so groß, weil es viele Menschen gibt, die ein Interesse an einem Ende des regressiven Streikrechts in Deutschland haben, so seine Ausführungen im Gerichtssaal.«

Die Betroffenen hatten den Ausgang des Verfahrens vor einem deutschen Arbeitsgericht so erwartet, aufgrund der seit Jahrzehnten zementierten Arbeitskampfrechtsprechung. Dennoch wird von Hoffnung berichtet, die sich aber weniger speist aus der Erwartung, dass sich vielleicht auf den nächsthöheren deutschen Instanzen, also dem Landesarbeitsgericht und dem Bundesarbeitsgericht, würde sich eine Abkehr von der bisherigen Rechtsprechung vollziehen. Die Hoffnung richtet sich auf die europäische Ebene, denn die Kläger wollen durch alle Instanzen und bis zum Europäischen Gerichtshof ziehen. Auf der europäischen Ebene könnte das regressive Streikrecht in Deutschland gekippt werden, so die Hoffnung der Kläger.

Die Kläger argumentieren, dass die deutsche Rechtsprechung zum Streikrecht der Europäischen Sozialcharta widerspreche. Dort werde anerkannt, dass das Streikrecht ein Recht der Arbeitnehmer sei, also nicht das Recht der Gewerkschaften. Es sei deshalb geboten, dass die Rechtsprechung auch ad-hoc-Koalitionen das Streikrecht zuerkenne, was im vorliegenden Fall deshalb relevant ist, weil der „wilde Streik“ von dem Zusammenschluss „Gorillas Workers Collective“ organisiert wurde, der die Interessen der Radkuriere vertritt. Man word abwarten müssen, ob sich irgendwann die Hoffnungen auf eine „europäische Lösung“ der Streikfrage realisieren oder aber enttäuscht werden.

Warum und wann wird eigentlich ein Streik (in Deutschland) „wild“ und wieso müssen wir dafür in die Zeit des Nationalsozialismus zurückblicken?

Wir haben also gesehen, dass es im Kern um die besondere deutsche Ausprägung geht, dass Streikaktionen von Beschäftigten nur dann zulässig sind, wenn sie von „anerkannten“ Gewerkschaften organisiert und durchgeführt werden. Und dann auch nicht generell, denn die Gewerkschaften müssen beispielsweise während der Laufzeit eines Tarifvertrages eine sogenannte „Friedenspflicht“ einhalten und sie dürfen auch nur für tarifvertraglich zu regelnde Sachverhalte streiten. Es gibt also weitere Einschränkungen des Streikrechts.

In dem Beitrag von Katja Gelinsky findet man diesen aufschlussreichen Hinweis: »Die Gewerkschaften befinden sich im Fall der sogenannten wilden oder verbandsfreien Streiks, in einer Zwickmühle. Einerseits hatte Verdi sich empört über die Entlassungen von Beschäftigten gezeigt, die für bessere Arbeitsbedingungen kämpften. Andererseits stärkt die Rechtslage, die nun vom Arbeitsgericht Berlin bestätigt wurde, die Stellung der Gewerkschaften. Die Kläger hingegen wehrten sich gegen die Koppelung von Streikrecht und Tarifautonomie. Dadurch würden die Gewerkschaften „als Ordnungsmacht instrumentalisiert“, argumentieren sie. Die Wurzel des Streikrechts sei „der Rechtsbruch und nicht die Ordnung“ .«

Nicht die Ordnung sei die Wurzel des (eingeschränkten) Streikrechts? Man ahnt schon, dass das eine wagemutige Annahme ist in einem Land, in dem „die“ Ordnung in vielen Bereichen eine so bedeutsame Rolle spielt. Lesen wir weiter bei Gelinsky:

»Das sieht das Bundesarbeitsgericht anders. Das Oberste Arbeitsgericht erklärte „wilde Streiks“ im Jahre 1963 für rechtswidrig – mit der Folge, dass die Teilnahme an einem nichtgewerkschaftlichen Streik einen „wichtigen Grund“ für eine fristlose Kündigung bilden kann. Rechtsanwalt Hopmann verweist darauf, dass diese restriktive Lesart des Streikrechts maßgeblich von dem damaligen Präsidenten des Bundesarbeitsgericht Hans Carl Nipperdey geprägt worden sei, einem der führenden Arbeitsrechtler in der Zeit des Nationalsozialismus.«

Hans Carl Nipperdey, einer der führenden Arbeitsrechtler in der Zeit des Nationalsozialismus und zugleich von 1954 bis 1963 erster Präsident des Bundesarbeitsgerichts der damals noch jungen Bundesrepublik Deutschland. Da haben wir erneut – wie in so vielen anderen Bereichen auch – ein Beispiel für personelle und daraus resultierend inhaltliche Kontinuitäten von der NS-Zeit in die bundesrepublikanische Ordnung hinein.

Offensichtlich kann man das Wirken und vor allem das Fortwirken dieses Juristen im deutschen Arbeitsrecht bis heute nicht unterschätzen:

»Am Anfang war Nipperdey.« Mit diesem Zitat eröffnet der Arbeitsrechtler Ulrich Preis seinen 2016 veröffentlichten Beitrag Hans Carl Nipperdey – mythische Leitfigur des herrschenden deutschen Arbeitsrechts. Das Zitat bezog sich auf den mysteriösen Grundsatz der Tarifeinheit, aber in dem Artikel taucht auch das Arbeitskampfrecht und die Rolle Nipperdeys auf.

Ziehen wir an dieser Stelle die fundamentalkritische Beschreibung der „mythischen Leitfigur“ Nipperdey, die höchst real gewirkt hat und bis heute fortwirkt, heran, wie sie seit vielen Jahren von Rolf Geffken immer wieder vorgetragen wird, beispielsweise in diesem Beitrag: Die vergessene Geschichte: Faschismus im Arbeitsrecht. Dort führt er aus:

»Die Hauptprotagonisten der im Arbeitsrecht „herrschenden Meinung“ waren in den Jahren von 1950 bis 1965 die Professoren Hans Carl Nipperdey, Alfred Hueck, Rolf Dietz und Arthur Nikisch. Sie waren sämtlich bekennende Nationalsozialisten von 1933 bis 1945 gewesen und überwiegend in der „Akademie für deutsches Recht“ sowie im Kriegseinsatz der Geisteswissenschaften engagiert. Nipperdey, Hueck und Dietz waren nicht nur die Hauptkommentatoren des „Gesetzes zur Ordnung der Nationalen Arbeit“ im C.H. Beck – Verlag sondern auch die Autoren dieses schon 1934 verabschiedeten Gesetzes, das sämtliche Reste des Weimarer Arbeitsrechts beseitigte, das „Führerprinzip“ in den Betrieben verankerte und alle Arbeitnehmer als „Gefolgsleute“ des Betriebsführers verpflichtete … Während die anderen Autoren nach 1945 als Hochschulprofessoren nahtlos dort weitermachten, wo sie nur scheinbar 1945 aufgehört hatten, gelang es Nipperdey schon 1954 zum ersten Präsidenten des Bundesarbeitsgerichts ernannt zu werden. In dieser Eigenschaft konnte Nipperdey seine Ideologie des Arbeitsverhältnisses als eines „personenrechtlichen Gemeinschaftsverhältnisses“ als „herrschende Meinung in Literatur und Rechtsprechung“ durchsetzen. „Rechtsprechung“ nannten sich die einschlägigen Urteile des Bundesarbeitsgerichts unter der Ägide des Professors Nipperdey. „Literatur“ nannten sich die in den Lehrbüchern von Alfred Hueck und H. C. Nipperdey sowie von Rolf Dietz und Arthur Nickisch vertretenen Auffassungen. Nach ihrem Ableben übernahmen deren „Auffassung“ eine Vielzahl von Schülern, die die „Meinungen“ ihrer Lehrer gewissermaßen multiplizierten.«

Auch bei der Gesetzgebung in der noch jungen Bundesrepublik gelang den Autoren in ihrer Eigenschaft als „Politikberater“ die Verankerung ihrer „Ideen“: So im Betriebsverfassungsgesetz von 1952 und in den Personalvertretungsgesetzen des Bundes und der Länder. Der Gesetzgeber, so Geffken, übernahm mit der „Friedenspflicht“ und dem Arbeitskampfverbot, dem Verbot der politischen Betätigung und dem Gebot der vertrauensvollen Zusammenarbeit »weitgehend die Ideen einer „Betriebsgemeinschaft von Arbeitgeber und Belegschaft“, die zuvor nur im Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit von 1934 als „Gemeinschaft von Betriebsführer und Gefolgschaft“ verankert gewesen war.«

Im Kontext der gegen den Willen der Gewerkschaften durchgesetzten Installierung des Betriebsverfassungsgesetzes der Adenauer-Regierung half Nipperdey der damaligen Bundesregierung »durch seine gutachtlichen Stellungnahmen gegen den ersten und einzigen politischen Streik (der IG Druck und Papier) der Gewerkschaften. Dieser war gegen dieses Gesetz gerichtet, denn die Gewerkschaften sahen nicht zu Unrecht in dem Gesetz einen Angriff auf die gewerkschaftlichen Rechte in den Betrieben. Seit dieser Zeit aber „gilt“ der „politische Streik“ als angeblich verboten, obwohl nur die von Nipperdey angeführte „herrschende Meinung“ ihn so bezeichnet hatte.«

Und wie hat Nipperdey das deutsche Arbeitskampfrecht geformt? Dazu die Bewertung von Geffken:

»Zum Arbeitskampf äusserte sich Nipperdey als Präsident des BAG in der ersten Entscheidung des “Großen Senats“ zum Arbeitskampf gänzlich losgelöst vom Grundgesetz, das er ohnehin nie ernst nahm. Er vertrat entgegen dem Art. 9 Absatz 3 GG die Auffassung, daß Arbeitskämpfe „im allgemeinen unerwünscht“ seien, weil sie „volkswirtschaftliche Schäden“ verursachten . Nipperdey schuf sich – wenn nötig im Wege der „Rechtsschöpfung“ – seine Gesetze selbst. Und fortan galten alle Streiks grundsätzlich als unerlaubte Handlungen, als „Eingriff in den eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb“. Also solche bedurften sie eines Rechtfertigungsgrundes und machten die Gewerkschaften ggf. schadensersatzpflichtig gegenüber den Unternehmern.«

Für weitere Informationen zum Leben und Wirken des Hans Carl Nipperdey kann man dieses Radio-Feature empfehlen, in dem neben anderen Beispielen auch die Aktionen der Fahrradkuriere von Gorillas auftauchen:

➔ Peter Kessen (2021): Den Unternehmern treu ergeben. Das paternalistische Arbeitsrecht des Hans Carl Nipperdey, Deutschlandfunk, 14.12.2021
»Hans Carl Nipperdey, führender Arbeitsrechtler in der NS-Zeit, von 1954 bis 1963 Präsident des Bundesarbeitsgerichts, hat das restriktive deutsche Arbeitsrecht bis heute geprägt: Politische Streiks sind verboten, Beschäftigte zur Treue verpflichtet und Whistleblower nahezu ungeschützt.«
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Da war doch noch was bei Gorillas? Genau, die Verhinderung von Betriebsräten. Da geht es munter weiter

Kommen wir abschließend zurück in die Gegenwart und rufen eine weitere Baustelle mit viel Chaos auf, über das neben den „wilden Streiks“ im vergangenen Jahr auch umfangreich berichtet wurde: die Vorwürfe gegen das Unternehmen Gorillas, es würde mit allen Mitteln versuchen, einen „normalen“ Betriebsrat für die Beschäftigten zu verhindern und nachdem es in diesem Fall mit arbeitsgerichtlicher Hilfe an allzu durchsichtigen Blockadeaktionen gehindert wurde, habe man alle betriebsorganisatorischen Register gezogen, um die Belegschaft in eine Vielzahl an Klein-Kollektiven zu zersplittern. Das taucht in diesen Tagen wieder auf:

»Der Express-Lieferdienst Gorillas schließt einen seiner Berliner Standorte. Aufgrund von Denkmalschutzauflagen stelle man den Betrieb in der Berliner Rungestraße in der Nähe des Alexanderplatzes ein, so das Unternehmen … An sich wäre die Schließung keine große Meldung, allein in Deutschland betreibt die Firma hunderte solcher Warenlager. Das Besondere ist dabei, dass in dem betroffenen Lager bislang auch drei Mitglieder des insgesamt 19-köpfigen Betriebsrats von Gorillas angestellt waren. Ihnen droht nun die Entlassung«, berichtete Sarah Heuberger unter der Überschrift Gorillas schließt einen Berliner Standort – auch drei Betriebsratsmitglieder von Kündigung betroffen. Weiter heißt es: »Der Arbeitsrechtsanwalt Martin Bechert hat bereits in der Vergangenheit viele der Fahrer und Mitglieder des Betriebsrates gegenüber Gorillas vertreten. Auch im aktuellen Fall der Standortschließung versucht er mit dem Unternehmen zu verhandeln. Von Gorillas sei jedoch bislang keine Rückmeldung gekommen, auf Terminvorschläge habe niemand reagiert, so Bechert. Seine Vermutung: „Die Schließung ist ein Vorwand, um den Kündigungsschutz zu umgehen.“«

Die Hinweise dafür sind offensichtlich: »Eigentlich sollte es kein Problem sein, alle Rider bei anderen, benachbarten Standorten unterzubringen. Gorillas sucht händeringend Fahrerinnen und Fahrer, genauso wie alle anderen der Lieferdienste. Dennoch soll allen Angestellten in der Rungestraße gekündigt werden– auch den Mitgliedern des Betriebsrates. Sie müssten sich dann neu bewerben. Eine Garantie, dass die drei Betriebsräte auf jeden Fall in einem anderen Warenlager unterkommen können, wollte eine Sprecherin von Gorillas am Telefon nicht geben. Nur so viel: Man verspreche, jede Bewerbung sofort zu prüfen.«

Nun wird der eine oder andere anmerken, dass das doch eigentlich nicht sein kann, denn: Betriebsratsmitglieder genießen für die Dauer ihres Amtes einen besonderen Kündigungsschutz nach dem deutschen Arbeitsrecht.

Im Prinzip ja, aber …: »Der Grund, weshalb Gorillas ihnen nun überhaupt kündigen durfte, ist durch die Organisation des Unternehmens gegeben. Voriges Jahr hat das Startup alle seine Warenlager in Deutschland in einzelne GmbHs umgewandelt – nach eigenen Aussagen, um so „flexibler agieren“ zu können. Schon damals kritisierten Gewerkschaftsvertreter die Umstrukturierung, das Modell ziele vor allem darauf ab, die Arbeit eines Betriebsrates zu erschweren, vermuteten sie.« Faktisch ist Gorillas mit seinen einzelnen Warenlagern ein Gemeinschaftsbetrieb, aber rechtlich gesehen segeln zahlreiche „Einzelbetriebe“ unter dem Namensdach Gorillas. Es ist doch mehr als offensichtlich, wozu man diese Operation gemacht hat, sicher nicht, um die Betriebsabläufe zu optimieren und Schnittstellen zu reduzieren.

Es wird arbeitsrechtlich spannend sein zu erfahren, ob die Arbeitsgerichte Kündigungsschutzklagen von Betriebsräten, die ihren Job verlieren, stattgeben – oder ob die Zersplitterungsstrategie des Unternehmens aufgeht (und dann sicher eine „Vorbild“-Funktion für andere Unternehmen bekommen wird).