»Früher mußten Revolutionäre Briefe schreiben und Porto bezahlen, heute nimmt ihnen das Fernsehen alles ab!«
(Bundeskanzler Willy Brandt, zitiert nach: »IG Metall – ein angeschlagener Dinosaurier«, in: DER SPIEGEL 36/1973)
In diesen Zeiten müsste man das mit dem Fernsehen sicherlich aktualisieren durch Twitter & Co., zugleich ist das mit den „Revolutionären“ im Jahr 2021 ziemlich old-fashioned, die Studenten heute sind eher „lost in zoom“. Man muss den Wutausbruch des damaligen Kanzlers einordnen in eine Zeit, in der sowohl ein Teil der Unternehmen wie auch die etablierten Gewerkschaftsstrukturen durch Aktionen von ganz unten erschüttert wurden. Jedenfalls einen Moment lang. Bereits im September 1969 hatte es zum ersten Mal seit Kriegsende eine bedeutende Welle spontaner Streiks gegeben und 1973 wurden mehrere Monate lang „wilde Streiks“ durchgeführt.
»Die spontanen Streiks 1969 waren innerhalb eines gedrängten Zeitraums von 18 Tagen im September aufeinandergefolgt. An ihnen hatten sich 140.000 Arbeiter aus 69 Betrieben beteiligt. Industrielle Schwerpunkte waren Stahlindustrie, Werften, metallverarbeitende Industrie und Steinkohle-Bergbau an Ruhr und Saar. Gegen Ende der Streikbewegung kam es auch noch in der Textilindustrie und im öffentlichen Dienst zu spontanen Arbeitsniederlegungen.« So Walther Müller-Jentsch in seinem 1974 veröffentlichten Beitrag Die spontane Streikbewegung 1973. »1969 hatten die streikenden Arbeiter einen Lohnrückstand aufgeholt, der durch die Anbindung der Gewerkschaften an die Einkommenspolitik der »Konzertierten Aktion« entstanden war. Angesichts der massenhaften Streikbewegung sahen sich die Gewerkschaften gezwungen, von den Unternehmern die Entfristung der Tarifverträge zu verlangen und in vorzeitige Tarifverhandlungen einzutreten.« Vgl. dazu auch die Einordnung von Bruno Molitor (1969): Wilde Streiks – eine verdrängte Erfahrung?, in: Wirtschaftsdienst, Heft 11/1969.
»Die Streikbewegung 1973 verlief dagegen in mehreren Wellen fast über das ganze Jahr. An ihr beteiligten sich rund 275.000 Arbeiter aus mindestens 335 Betrieben. Kennzeichnend für die gesamte Streikbewegung war, daß diesmal auch zahlreiche kleinere und mittlere Betriebe einbezogen wurden. Industrielle Schwerpunkte waren, ähnlich wie 1969, die Stahl- und metallverarbeitende Industrie und der Saarbergbau. Im Bereich des öffentlichen Dienstes kam es nur zu Protesten und vereinzelten Arbeitsniederlegungen«, so Walther Müller-Jentsch. Wir reden hier über eine wirklich ferne Vergangenheit. Auslöser der „wilden Streikaktionen“ 1973 war der Frust über einen Tarifabschluss der IG Metall in Höhe von 8,5%, der damals als zu niedrig angegriffen wurde, denn die Inflation zu der Zeit ließ von den nur auf den ersten Blick beeindruckenden 8,5% nichts übrig. Ziel der Streikenden war es, zusätzliche Lohnerhöhungen auf betrieblicher Ebene durchzusetzen. Was auch in zahlreichen Unternehmen gelang.
Wer sich für eine Aufarbeitung der historischen Dimension des Themas „wilde Streiks“ bis zum Jahr 1974 weiterführend interessiert, dem sei diese Arbeit empfohlen:
➔ Peter Birke (2007): Wilde Streiks im Wirtschaftswunder. Arbeitskämpfe, Gewerkschaften und soziale Bewegungen in der Bundesrepublik und Dänemark, Frankfurt am Main, New York: Campus, 2007
Und für Österreich:
➔ Ferdinand Karlhofer (1983): „Wilde“ Streiks in Österreich. Entstehungs- und Verlaufsbedingungen industrieller Konflikte in den siebziger Jahren, Wien, Köln: Böhlau, 1983
Aber das ist nun wirklich Geschichte, auch wenn es später immer wieder mal ein Aufflackern gegeben hat (vgl. beispielsweise Der wilde Streik bei Opel: Am 14. Oktober 2004 traten Opel-Arbeiter in Bochum in einen wilden Streik). In den zurückliegenden Jahren haben wenn, dann einzelne für ein breiteres Publikum wahr- und das heißt zumeist spürbare Arbeitsniederlagen ihren Niederschlag gefunden in einer zumeist tagesaktuell aufgepumpten Berichterstattung, nach der man isoliert betrachtet zu dem Eindruck gedrängt wurde, das jetzt aber nichts mehr funktioniert in Deutschland und viele Menschen ganz schlimm betroffen sind von den Auswirkungen der Streiks. Man denke hier an die Streikaktionen der Lokführer und ihrer Spartengewerkschaft GDL oder an die Arbeitskämpfe der Piloten und ihrer Vereinigung Cockpit bei Lufthansa oder an den „Kita-Streik“ der Gewerkschaften Verdi und GEW im Jahr 2015.
Aber „wilde Streiks“? Damit werden die meisten gar nichts anfangen können. Was also muss man sich darunter vorstellen?
»Als wilder Streik wird ein Streik bezeichnet, der nicht von einer Gewerkschaft oder einem anderen als Tarifvertragspartei anerkannten Arbeitnehmerverband ausgerufen und organisiert ist. Wilde Streiks sind in Deutschland rechtswidrig, folglich verstoßen die Streikenden durch ihre Arbeitsniederlegung gegen den individuellen Arbeitsvertrag. Die Arbeitgeberseite hat deshalb Recht auf Abmahnung und Kündigung bei fortgesetzter Streiktätigkeit sowie gegebenenfalls auch die Möglichkeit, Schadensersatzansprüche zu stellen und außerordentliche Kündigungen aussprechen. Wilde Streiks werden von Gewerkschaften meist kritisch gesehen, da sie sich ihrer Kontrolle entziehen. Andererseits können Gewerkschaften spontane Streiks nachträglich legitimieren, etwa indem sie die Forderungen der Streikenden in ihre Tarifforderungen integrieren oder auf ein vorzeitiges Auslaufen der Tarifverträge drängen.« (Quelle: Glossar Wilder Streik)
Die kurze Blick zurück in die Geschichte der „wilden Streiks“ wie auch der Definitionsversuch, was das „Wilde“ an diesen Streiks ist, richten die Aufmerksamkeit auf zwei Aspekte: Zum einen gab es diese Aktionen nicht nur, aber vor allem in den industriellen Kernbereichen der „alten“ Bundesrepublik und zum anderen verstoßen die Handlungen der Arbeitnehmer gegen die gewachsene Ordnung, nach der Streiks nur von und mit Gewerkschaften durchgeführt werden dürfen. Das aber, wird der eine oder andere anmerken, setzt voraus, dass es überhaupt relevante Gewerkschaften gibt. Und sind nicht die ganzen Diskussionen über die neuen Wachstumsfelder der Beschäftigung immer wieder auch dadurch gekennzeichnet, dass dort – wenn wir mal an die Plattform-Ökonomie und andere modern daherkommende Ausformungen denken – kaum oder gar keine gewerkschaftlichen Strukturen erkennbar sind? Dass selbst die zweite Säule der Mitbestimmung, also die Betriebsräte, hier nicht nur wenn überhaupt, dann in Spurenelementen vorhanden sind, und zaghafte Versuche, einen solchen zu gründen, oftmals mit der Bazooka des organisierten Union Busting eingedampft werden?
Vor diesem Hintergrund muss dann so eine Schlagzeile aufhorchen lassen: Wilde Streiks in Berlin: Fahrer gefährden das Image des App-Supermarkts Gorillas: »Mitarbeiter von Gorillas blockieren ein Auslieferlager in Berlin. Die Bilder davon gehen viral – und torpedieren die aktuelle Markenkampagne«, berichtet Christoph Kapalschinski in der Online-Ausgabe des Handelsblatts. »Dem jungen, superschnellen App-Supermarkt Gorillas droht ein Imageschaden – befeuert von den eigenen Mitarbeitern. Am Mittwochabend ist in Berlin eine Protestaktion von Fahrern eskaliert. Videos in den sozialen Medien zeigen einen Polizeieinsatz vor einem blockierten Auslieferlager im Berliner Stadtteil Kreuzberg. Auslöser war offenbar die Entlassung eines Mitarbeiters.« Wie eine Welle frisst sich der Begriff „wilde Streiks“ durch die Medienlandschaft: „Wilder Streik“ – Auf dem Höhepunkt des Hypes rebellieren die „Gorillas“-Mitarbeiter: »Bei den Mitarbeitern des Lebensmittel-Lieferdienstes haben sich Wut und Ärger angestaut. Die entladen sich nun in einer wilden Streikaktion. Das Fass zum Überlaufen brachte der Rausschmiss eines Fahrers. Für Investoren bedeutet das Verunsicherung.« Oder: Alle Rider stehen still, titelt die taz.
»Lieferdienste stehen seit Jahren im Zentrum von Aktionen von gewerkschaftsnahen Gruppen. Bei Amazon versucht die Gewerkschaft Verdi seit vielen Jahren, das Unternehmen mit Streikaktionen in den Einzelhandels-Tarifvertrag zu drängen. Auch gegen Lieferando machen Aktivisten seit Jahren mobil«, so Wilde Streiks in Berlin: Fahrer gefährden das Image des App-Supermarkts Gorillas.
Und weiter erfahren wir: »Jetzt gerät Gorillas als bekanntester der neuen, schnellen Lieferdienste ins Visier. Organisator der Proteste ist offenbar die Gruppe „Gorillas Workers Collective“, die mit der Gastro-Gewerkschaft NGG und der anarchistischen Gewerkschaft FAU kooperiert.«
Nicht nur den älteren Semestern muss man vielleicht kurz erläutern, mit was für Unternehmen wir es hier zu tun haben:
»Für Gorillas kommen die Proteste zu einem heiklen Zeitpunkt: Nach einer Finanzierung über 245 Millionen Euro im März ist das Unternehmen laut mehreren Berichten erneut dabei, Geld einzusammeln. Diesmal soll es um zwei- bis viermal so viel Geld gehen. Damit will Gründer Sümer das rasante Wachstumstempo des kaum zwei Jahre alten Start-ups aufrechterhalten – und gegen die Konkurrenz ankommen. Zuletzt erhielt der Klon Flink eine ähnlich hohe Finanzierung und Rückendeckung von Rewe. Zudem stehen mehrere große Konkurrenten wie Delivery Hero und Getir aus der Türkei in den Startlöchern für eine Expansion ihrer Lebensmittellieferdienste in Deutschland«, berichtet das Handelsblatt.
„Schneller als du. Lebensmittel geliefert in 10 Minuten“ – das schreit einem auf dem Bildschirm entgegen, wenn man auf die Website von Gorillas schaut. Das versprechen offensichtlich nicht nur die: „Dein Einkauf geliefert in 10 Minuten.“ So der Konkurrent Flink: „Egal, was Du gerade brauchst: Wir liefern Dir Deine Lebensmittel inklusive frisches Obst und Gemüse in Bio-Qualität direkt nach Hause. Innerhalb von 10 Minuten und zu Supermarkt-Preisen.“
Jan Klauth und Benedikt Fuest berichten: »Gorillas gilt derzeit als eines der am höchsten bewerteten Start-ups des Kontinents. Die Gründer setzen auf möglichst lautes Marketing und geben vor, nachhaltig zu handeln. Ihre Angestellten – sie werden „Rider“ und „Picker“ genannt – bezeichnen sie als „Familie“. Die Picker befüllen die Einkaufstüten mit den bestellten Artikeln, um sie dann den Ridern in den auffallend großen Rucksack zu stellen, die maximal zehn Minuten nach der Bestellung an der Tür des jeweiligen Kunden klingeln müssen … Im „E-Commerce“ für Lebensmittel ist Gorillas auf einem hart umkämpften Markt unterwegs. Gleich mehrere Jungunternehmen zanken sich um die Kunden. Der Erfolg und vor allem die Rentabilität dieser Vorhaben ist jedoch überschaubar. Nicht einmal zwei Prozent Marktanteil macht der Online-Lebensmittelkauf vom gesamten Geschäft mit Nahrungsmitteln aus.«
Und gerade vor diesem eigentlich mehr Alas überschaubaren und diskussionsbedürftigen Geschäftsmodell muss man dann solche Zahlen Gorillas betreffend zur Kenntnis nehmen: »Die Berliner haben reichlich Wagniskapital eingeworben. Erst Ende März hatte der Lieferdienst in einer B-Runde 290 Millionen Dollar Risikokapital von mehreren Investoren, darunter der chinesische Internetkonzern Tencent, eingesammelt. Die Investoren bewerteten damit das Start-up mit mehr als einer Milliarde Dollar – den Schritt über die Schwelle hatte Gorillas schneller als jedes andere deutsche Start-up zuvor geschafft.«
Zu dem Hinweis auf das „diskussionsbedürftige Geschäftsmodell“ diese Information: »Denn eine originäre Idee, eigene neue Technologie oder auch nur eine eigene Software besitzt Gorillas nicht. Stattdessen nutzen die Berliner für ihr 10-Minuten-Versprechen eine sogenannte „White Label“-Software des libanesisch-pakistanischen Softwareanbieters Eddress – die Software können Lieferdienste augenscheinlich beliebig einkaufen und die App mit eigenen Marken-Logos anpassen … Eddress betreibt selbst einen Lieferdienst names NokNok, die Apps sehen fast gleich aus. Die Herkunft der Nahost-Software fanden die Sicherheitsforscher des Kollektivs „Zerforschung“ heraus, als sie Anfang Mai die Gorillas-App auf mögliche Sicherheitslücken prüften – und prompt fündig wurden. Die „Zerforschung“-Hacker warnten vor einem schweren Datenleck bei den Berlinern: Namen, Adressen und Daten über Bestellinhalte von 200.000 Gorillas-Kunden standen frei im Netz, zudem Fotos von Klingelschildern und nicht zuletzt Namen und Telefonnummern der Gigworker, die die Aufträge per Elektro-Fahrrad ausliefern.«
Interessant ist auch der Versuch einer Einordnung der Unternehmen von Nicolas Šustr in seinem Beitrag Die Gesellschaft als Beute: »Die Internetökonomie gilt als Zukunftsbranche. Doch für die Menschen in der Stadt erweist sie sich allzu oft als Dystopie. Allein schon die Arbeitsbedingungen angesichts der ganzen Lieferversprechen. Immer noch profitieren die Unternehmen von dem Image von Freiheit, Abenteuer und ökologischem Bewusstsein, den die in den 1980er Jahren in Deutschland aufkommende Fahrradkurierszene umgab. Doch selbstbestimmt ist da wenig. Oft lückenlos werden die Fahrerinnen und Fahrer überwacht. Irre knappe Lieferzeiten von nur zehn Minuten nach Bestellung, wie bei Gorillas, sorgen für extremen Stress. Und der nächste Konkurrent, der mit sieben Minuten Lieferzeit wirbt, steht schon in den Startlöchern.« Und mit Blick auf die Arbeitsbedingungen: »Kein Wunder, dass vor allem Migranten diese Jobs annehmen. Sie haben kaum eine Wahl, oft haben sie keinen Anspruch auf Sozialleistungen. Arbeite oder stirb. Aus der ganzen Welt sind die Teams zusammengewürfelt … Für Unternehmen sind Prekarisierte perfekte Ausbeutungskandidaten. Sie mucken kaum auf und kennen oft ihre Rechte nicht oder können sie schlichtweg nicht durchsetzen. So wenig, wie die Geschäftsmodelle sozial nachhaltig sind, sind sie es auch für die Stadt. Da werden Bürgersteige als Warenlager zweckentfremdet und es wird massiv Verkehr erzeugt, um drei Zimtschnecken im Expresstempo jemandem nach Hause zu liefern.«
„Q-Commerce“: Zum Thema Geschäftsmodell vgl. auch den Beitrag Schneller, als die Eiscreme schmilzt von Lisa Bor: »Nur zehn Minuten von der Bestellung bis zur Lieferung, das propagiert ein neuer Lieferservice. Allein ein solches Ziel auszugeben, zeigt, welch harte Konkurrenz zwischen den Lieferplattformen in Großstädten besteht.« Und weiter: »Das Start-up Gorillas, ein neues Unternehmen mit Sitz in Berlin, hat sich vorgenommen, Lebensmittel und Haushaltswaren besonders schnell zu liefern. Nicht nur am Tag der Bestellung, sondern sogar fast sofort sollen Produkte aus dem supermarktähnlichen Sortiment beim Kunden ankommen. Und das zu branchenüblichen Preisen plus einer Liefergebühr von 1,80 Euro. Von der Bestellannahme bis zur Ankunft des Boten sollen nur zehn Minuten vergehen, verspricht das Unternehmen auf seiner Website. Derzeit wird das je nach Adresse bei der Bestellung noch auf bis zu 15 Minuten korrigiert. Die Gründer Kağan Sümer und Jörg Kattner sind ehemalige Beschäftigte von Rocket Internet, einem Unternehmen, das Beteiligungen an Start-ups hält; Kattner war zudem in der Schweiz Manager bei dem Lebensmittellieferanten Hello Fresh. Das Sortiment von Gorillas ist abgestimmt auf die Bedürfnisse der wohlhabenden Bewohner des Liefergebiets Prenzlauer Berg: Hafermilch und vegane Leckereien, viel Bio … Kein Preisaufschlag im Vergleich zum Supermarkt, geringe Liefergebühr, dabei Kosten für Warenlagerung und Löhne – wie soll das gehen? … Wie etwas bestellt wird, dürfte ungefähr klar sein. Aber wo werden die Produkte gelagert, wer verpackt sie wo und wer liefert sie aus? Vor allem: Wie sind die Arbeitsbedingungen? Wie hoch sind die Löhne? Was ist mit dem Trinkgeld?« Fragen über Fragen. »Für den Trend zu schnellen Lieferungen und den Onlinehandel im Supermarktsegment kursiert ein neuer Branchenname: Q-commerce, das Q steht dabei für »quick«. Gorillas konkurriert in Berlin mit Delivery Hero und Lieferando. Delivery Hero ist erst im August in den Dax aufgestiegen, den Index der 30 größten börsennotierten deutschen Firmen. Die Firmengeschichte beider Unternehmen zeigt eindrücklich, was mit der »Neudefinition« von Märkten gemeint ist: Sie haben ein neues Geschäftsmodell etabliert. Sich Essen zu bestellen und per Radkurier aus der ganzen Stadt zum geringen Pauschalpreis liefern zu lassen, ist durch die Marketingoffensive Teil des Alltags von Millionen Großstädtern geworden. Der Konkurrenzkampf der Unternehmen ging zu Lasten der Kuriere, die entweder ihre Jobs verloren oder zu neuen Konditionen bei andern Lieferdiensten arbeiten. Auch die Gastronomie ist von den Plattformen abhängig geworden … Ein besonders wichtiger Bestandteil des Geschäftsmodells ist, dass die Kommunikation über Apps erfolgt, sowohl die Bestellung als auch die Beauftragung der Fahrer und Fahrerinnen. Während die Unternehmen mit betriebswirtschaftlichen Begriffen wie Logistik und Zeiteffizienz hantieren, weisen Gewerkschaften darauf hin, dass letztlich die Fahrer und Lagerarbeiterinnen die schnelle Lieferung ermöglichen.« Und ein weiterer spannender Aspekt der Veränderungen durch die neuen Trends wird in dem Beitrag angesprochen: »Auch Supermärkte mit Online-Zugang brauchen Platz für Waren und Logistik. Delivery Hero arbeitet laut Selbstdarstellung an der Perfektionierung der Lieferkette und der Infrastruktur, denn eine schnelle Lieferung sei nur bei kurzen Wegen möglich. Dadurch verändern sich die Innenstädte, sagt der Sozialwissenschaftler Moritz Altenried, der zu Plattformen und Logistik forscht…: »Supermärkte und Läden, die ein wichtiger Teil von Stadtarchitektur sind, könnten dadurch verschwinden und stattdessen etwa Warenlager im Innenstadtbereich entstehen.« Amazon habe diesen Effekt in Berlin bereits bewirkt. Im Bereich Gastronomie gibt es eine ähnliche Entwicklung: Durch das vermehrte Liefergeschäft von Plattformen weichen Gastronomiebetriebe, in denen Menschen zum Essen einkehren, sogenannten virtuellen Küchen, die auf Lieferungen spezialisiert sind. Das erfordert andere Räumlichkeiten, aber auch bestimmte Formen von Arbeit. Mit Blick auf andere Logistikzentren wie die von Amazon stellt sich die Frage: Wie werden die Arbeitsbedingungen in diesen Lagerräumen sein, wenn sich Zielvorgaben von 20 oder sogar zehn Minuten durchsetzen?«
Und nun die Eskalation bei Gorillas: »Dabei wollte sich der Gorillas-Gründer Kagan Sümer offensiv von anderen Arbeitgebern in der Branche absetzen. Er versprach, die Fahrradkuriere zu einer „Community“ zu machen – über Dinge wie eine einheitliche schwarze Ausrüstung und Technomusik in einzelnen Lagern«, berichtet Christoph Kapalschinki im Handelsblatt. Er ergänzt dann aber mit Blick auf die Arbeitsbedingungen: »Bei der Bezahlung agiert Gorillas allerdings wie die anderen Anbieter bei einem Stundensatz etwas über dem Mindestlohn. Beliebt ist der Job in Berlin offenbar bei Expats, da die Kommunikation weitgehend auf Englisch läuft – und die Anstellung in Teilzeit Raum für weitere Projekte oder Sprachkurse lässt.«
Im Vorfeld der aktuellen Eskalation mit den wilden Streikaktionen hat es bereits Konflikte gegeben um die an sich selbstverständliche Gründung eines Betriebsrats: »In den vergangenen Wochen brachten die Aktivisten bereits Auseinandersetzungen um die Gründung von Betriebsräten in die sozialen Medien. Offenbar gab es einen Konflikt darüber, ob auch leitende Mitarbeiter mit abstimmen dürfen. Gorillas erklärte, im Grundsatz mit der – gesetzlich vorgesehenen – Einrichtung von Betriebsräten einverstanden zu sein. Der Konflikt erinnert an die jüngste Auseinandersetzung um Betriebsräte bei N26, die die junge Bank Sympathien kostete.« Vgl. zu den Behinderungen einer Betriebsrats-Gründung bei Gorillas auch den Artikel Fahrern in die Speichen greifen.
Was hat jetzt zu der Zuspitzung geführt? Wie so oft genügt ein Funke, um ein Feuer zu entzünden:
Auslöser war die fristlose Kündigung von Santiago, einem der „Riders“ – so die branchentypische Bezeichnung der Fahrad-Lieferboten. Als spontane Reaktion blockierten Santiagos Kollegen zunächst ihren Arbeitsort in der Kreuzberger Charlottenstraße. Wenig später schlossen sich weitere Riders dem Streik an und blockierten ein zweites Verteilzentrum in der Muskauer Straße im Stadtteil Kreuzberg. »Bei den Hunderten Beschäftigten des Berliner Jungunternehmens hatte sich seit Wochen Wut angestaut: Datenlecks, angeblich miese Arbeitsbedingungen und Behinderungen bei der Gründung eines Betriebsrates sorgten für Negativschlagzeilen. Der Rausschmiss eines Fahrers, der angeblich wenige Minuten zu spät zu einer Schicht erschienen war, brachte das Fass zum Überlaufen«, so Jan Klauth und Benedikt Fuest in ihrem Beitrag.
Moritz Aschemeyer berichtet unter der Überschrift Alle Räder stehen still: »Die überwiegend migrantischen Beschäftigten rufen lautstark: »We want Santiago back!« (Wir wollen Santiago zurückhaben!); ein Fahrer des Lieferdienstes Lieferando spricht ein kämpferisches Grußwort an die Versammelten.«
In seinem visuellen Auftritt und in der Kommunikation von Gründer Sümer nach außen präsentiert sich das Start-up als moderne Erfolgsgeschichte und fröhliche Gemeinschaft – der Gründer spricht von einer „Familie“. Auf die eskalierenden Konflikte musste das Unternehmen reagieren: »Der Gorillas-Geschäftsführer Kağan Sümer sprach per Videokonferenz zu Hunderten Beschäftigten. Doch schon am Abend gab es erneut eine Blockadeaktion«, berichtet Christoph Kluge unter der Überschrift Erneute Proteste nach Rede von Gorillas-Chef: »Mithilfe der Videokonferenz-Software Zoom hat sich der Gorillas-Chef Kağan Sümer am Freitag an mehrere Hundert Beschäftigte seines Unternehmens gewendet.« Doch offensichtlich ist das nicht gut angekommen bei vielen seiner „Familienangehörigen“. Seine Rede folgt dem üblichen Muster: Alle Beschäftigten könnten stolz sein auf ihr Unternehmen. Und die Ereignisse der letzten Tage haben den Gründer „zutiefst erschüttert“ – weil die Vorwürfe, Gorillas würde die Rider unfair behandeln, „natürlich“ nicht stimmen. „Im Internet würden Unwahrheiten verbreitet. Von Leuten außerhalb der Firma, die mit dem Fall Politik machen wollten.“ Und dann – ebenfalls typisch – wird der Auslöser der Streikaktionen, der Fall des Fahrers Santiago, aus Sicht des Unternehmens interpretiert und man behauptet, der Mann habe „mehrfach gegen Verhaltensregeln für Rider verstoßen“ und sei eben selbst verantwortlich für seinen Rausschmiss.
»Sümer distanzierte sich auch von Unternehmen, die mit unsicheren Rahmenbedingungen und formal unabhängigen Selbständigen arbeiten: „Wir sind kein Teil der Gig Economy. Wir stellen unsere Rider fest an.” Seiner Meinung nach setzt das Unternehmen Gorillas ein wichtiges Signal gegen die sogenannte Gig Economy, weil man die Fahrer fest anstelle. Dass das nach deutschem Recht vorgeschrieben ist, erwähnt Sümer dabei nicht. Dass wegen des rasanten Ausbaus des Unternehmens nicht alles glatt läuft, räumte Sümer ein. Doch das sei kein Grund für Proteste. “Wenn ihr etwas ändern wollt, dann kommuniziert.« Genau das empfinden nicht wenige der Betroffenen als zynisch: »Dass Sümer zu Kommunikation aufruft, empfindet der Rider als blanken Hohn. Wenn er ein Problem anspreche, würde das lokale Management auf die Führungsebene verweisen. Doch die sei für die normalen Beschäftigen nicht zu erreichen. Außerdem gebe es viele Gerüchte und eine Kultur der Intransparenz im Unternehmen, sagte er.«
Ganz offensichtlich leben die Führungsspitze und die normalen Beschäftigten in unterschiedlichen Welten: »In seiner etwa 15-minütigen Rede hat Kağan Sümer auch einen eigenwilligen Plan vorgestellt. Er wolle demnächst mit dem Rad zu allen Lagerhäusern in Deutschland fahren. Dort werde er die Beschäftigten treffen, um sie für die gemeinsame Sache des Radfahrens begeistern, sagte er.«
»Die Gruppe “Gorillas Workers Collective” machte sich auf ihrem Twitter-Account über den Sprechstil des Chefs lustig: “Was waren eure liebsten Bingokarten-Momente in der Pressekonferenz unseres geliebten Führers?”, fragte der Account. Als Antworten waren zum Beispiel “Ich bin super offen für Feedback” und “Wir sind eine Familie” auswählbar.«
Bereits auf einer ersten Streikversammlung hatte man sich auf auf drei zentrale Forderungen verständigt, die zugleich verdeutlichen, dass man sich mit warmen Worten des Gründers nicht zufrieden geben wird: Neben der Rücknahme der Entlassung, die zu dem Ausstand geführt hat, soll auch die Probezeit abgeschafft werden (diese beträgt bei Gorillas sechs Monate und in der Regel bekommen die Riders, die die Probezeit überstehen, dann nur auf ein Jahr befristete Verträge). Zukünftige Entlassungen sollen zudem erst nach drei Verwarnungen möglich sein.
Da tut sich was, an der Basis der gar nicht so neuen, sondern ziemlich alt wirkenden Gesellschaft der Belieferung und Bedienung.
Nachtrag am 12.06.2021:
Es wurde darauf hingewiesen, dass das Unternehmen Gorillas in der Vergangenheit Widerstand geleistet hat gegen eine von den Mitarbeitern angestrebte und eingeforderte Betriebsratsgründung, sich also auch hier Elemente des Union Busting finden. Aus den auf aktive Verhinderung von Betriebsratsgründungen spezialisierten Institutionen der Union Busting-Industrie, also zumeist Arbeitsrechtskanzleien, die von interessierten Unternehmen beauftragt und bezahlt werden, gibt es neben den vielfach aufgedeckten und in Medienberichten dargelegten Zerstörungsstrategien immer wieder auch den Hinweis, man können auch mit der Gründung „alternativer Mitarbeitervertretungen“ einen nicht gewünschten Betriebsrat verhindern. Und der Hinweis auf diese Konstruktion findet man nun auch in einem Beitrag, der sich mit den aktuellen Vorgängen bei Gorillas beschäftigt – und der zugleich den Anspruch erhebt, dass andere vergleichbare Unternehmen aus dem, was jetzt bei Gorillas eskaliert ist, lernen können und sollten: David gegen Gorillas: Was Startups aus dem Streit bei Deutschlands schnellstem Unicorn lernen sollten, so hat Pascal Croset seinen Artikel überschrieben. In der Analyse dessen, was derzeit bei Gorillas passiert, legt der Verfasser den Finger auf zahlreiche Wunden und liefert eine gute Zusammenfassung:
»Das Versprechen, in unglaublich kurzen zehn Minuten zu liefern, ist nicht einfach zu halten. In den vergangenen Tagen war immer wieder zu hören, dass dieses Tempo besonderen Druck für die Fahrerinnen und Fahrer bedeutet. Sie beschweren sich lautstark über schlechte, teilweise unpünktliche oder unvollständige Bezahlung, rauen Umgangston und schlechte Arbeitsbedingungen. Im Markt der Lieferdienste ist bekannt: Die sogenannten „Rider“ sind klassische low-skilled workers. Wer aufgrund schwacher Sprachkenntnisse dazu gezwungen ist, sein Geld buchstäblich mit Muskelkraft zu verdienen, kann auf dem Arbeitsmarkt nicht wählerisch sein. Arbeitsrechtliche Vorgaben werden hier häufig verletzt – und gerade in der Probezeit haben Fahrer schlechte Voraussetzungen, um ihre Rechte durchzusetzen.«
Und auch die Eskalation wird durchaus zutreffend beschrieben: »Doch bei Gorillas kommt nun, biblisch gesprochen, David auf seinem Drahtesel in die Schlacht gegen Go(ril)liath geritten – und überrascht mit seiner Wucht und Wut. Die Fahrer greifen zu rabiaten Methoden, organisieren kurzerhand einen „wilden Streik“ und verbarrikadierten die Zugänge zu Warenlagern. Auffällig ist zunächst der Anlass: Einem Fahrer namens Santiago soll in der Probezeit gekündigt worden sein, weil er einmal zu spät gekommen sei. Die sofortige Entlassung empfinden die Kolleginnen und Kollegen als überzogen, als Maßnahme der Willkür. Ein deutsches Arbeitsgericht würde eine solche Probezeitkündigung ohne Weiteres als wirksam einstufen, bei den Gorillas-Arbeitern scheint sie einen empfindlichen Nerv getroffen zu haben.«
»Auffällig ist dabei die spontane Solidarität der Fahrer, die offensichtlich von einer hohen Affinität zur digitalen Vernetzung getragen ist: Die Aktionen werden fast ausschließlich über Twitter koordiniert. Wie groß die Wut der Fahrer sein muss, zeigt sich daran, dass sie scheinbar angstfrei zu eigentlich rechtswidrigen Mitteln greifen: Wer sich an dem wilden Streik beteiligt, riskiert die fristlose Kündigung, Schadensersatzforderungen für die ausgefallenen Touren sowie Strafanzeigen wegen Hausfriedensbruch und Sachbeschädigung. Die Fahrer fühlten sich hier offensichtlich in die Ecke gedrängt und sahen sich in einer Situation der Notwehr im Kampf um grundlegende Rechte, für Transparenz und gegen Willkür. Wilde Streiks und Betriebsblockaden ordnen Juristen als Gewalt ein, ob der Zweck die Mittel heiligt, ist also fraglich. Aber ganz offensichtlich ist: Das Fass ist bei Gorillas massiv übergelaufen.«
Der Verfasser wagt eine plausible Prognose, was die nächsten Tage oder Wochen bringen werden: »Auch wenn seitens der Fahrer klare Verstöße gegen Pflichten aus dem Arbeitsvertrag vorliegen, das Arbeitsrecht und das Strafrecht versprechen dem Unternehmen keine Hilfe. Aller Voraussicht nach wird Gorillas statt Kündigungen allenfalls ein paar Abmahnungen aussprechen, wenn überhaupt. Denn Kündigungen wären kontraproduktiv, nicht nur weil in der Expansion neue Rider dringend gebraucht werden.«
Und dann gibt Pascal Croset dem Unternehmen einen Wink mit dem Zaunpfahl: »Gorillas muss seine Mitarbeiter wieder ins Boot holen.«
Das wird durchaus präzisiert: »Es braucht eine intensive Aufarbeitung, an welchen Stellen die Arbeitsbedingungen verbessert werden müssen. Die Rider sind durchaus bereit, Entbehrungen hinzunehmen und harte Arbeit für verhältnismäßig schmale Entlohnung zu leisten. Aber: Der mit Abstand am häufigsten gehörte Vorwurf vor den blockierten Lagertoren war, dass im Zuge der explosiven Expansion auf Belange der Arbeitnehmer zu wenig Rücksicht genommen werde. Es braucht also nicht unbedingt den in vielen Startups inzwischen anzutreffenden Chief Happiness Officer (CHO), wohl aber zumindest ein paar Tropfen sozialen Öls auf die (Fahrrad-)Ketten. Sprich: Die Arbeiter verlangen gehört zu werden.«
Wohl wahr, also her mit einem Betriebsrat, der genau die angemahnte Vertretungs- und Vermittlungs- und Verhandlungsfunktion ausüben kann und soll – könnte der eine oder andere an dieser Stelle denken. Aber:
»Es zeigt sich einmal mehr, dass es sinnvoll gewesen wäre, frühzeitig mit der Belegschaft über die Gründung einer Alternativen Mitarbeitervertretung zu sprechen. Möglicherweise wäre es dann zu den aktuellen Ausschreitungen und zur Wahl eines Betriebsrates gar nicht gekommen. Für Gorillas kommt diese Erkenntnis zu spät, aber bei anderen Startups kann man jetzt vermehrt mit der Bildung Alternativer Mitarbeitervertretungen rechnen.«
Eine „Alternative Mitarbeitervertretung“? Dazu aus einem Interview mit dem Arbeitsrechtler Volker von Alvensleben aus dem Jahr 2016 unter der bezeichnenden Überschrift „Alternative Mitarbeitervertretungen können sinnvoller sein als ein Betriebsrat“: Darin argumentiert Alvensleben, »dass eine alternative Mitarbeitervertretung eine Möglichkeit ist, um auf das Unternehmen zugeschnittene Arbeitnehmervertretungsrechte und -verlangen zu entwickeln. Das kann in der Praxis auch sinnvoller sein, als das Betriebsverfassungsgesetz, also das BetrVG, anzuwenden.« Er benennt dann im weiteren Fortgang explizit einige „hinderliche“ Rechte eines Betriebsrates – er bezeichnet die als „politisch motivierte Regeln“ -, auf die der Arbeitgeber gerne verzichten würde, wie die Anhörung des Betriebsrats mit seinen Widerspruchsmöglichkeiten bei der Einstellung von Mitarbeitern, letztlich „die gesamte Einstellungsmitbestimmung nach § 99 ff. BetrVG“ – oder „die Mitbestimmung bei technischen Einrichtungen, die dazu bestimmt sind, Verhalten und Leistung von Mitarbeitern zu erfassen oder zu kontrollieren“. Wenn man nun eine „alternative Mitarbeitervertretung“ hätte, dann hat die nicht die soeben für überflüssig erklärten Rechte eines Betriebsrates.
Alvensleben wird in dem Interview auch offen auf diesen Aspekt angesprochen, der verweist, dass das auch was mit dem Instrumentenkasten des Union Busting zu tun haben kann: »Bei alternativen Vertretungen liegt gern der Gedanke nahe, dass ein Betriebsrat verhindert werden soll.« Seine „diplomatische“ Antwort liest sich dann so:
»Solange sich ein Arbeitgeber – ich sage jetzt mal – auf ehrenwerte Weise bemüht, eine Alternative zum Betriebsrat einzuführen, finde ich es entgegen der allgemein landläufigen Meinung nicht politisch unkorrekt. „Ehrenwert“ heißt in diesem Zusammenhang natürlich: nicht durch Drohung oder Beeinträchtigung im Sinne der Strafvorschriften des BetrVG. Ich finde es positiv, wenn ein Arbeitgeber ein so gutes Verhältnis zu seinen Mitarbeitern aufbauen möchte, dass ein Betriebsrat nicht nötig ist – weil das Vertrauensverhältnis groß ist, weil er sich bemüht, alle fair und korrekt zu behandeln und weil er versucht, „Verteilungsgerechtigkeit“ – für die der Betriebsrat zuständig ist – über eine eigenständige Mitarbeitervertretung herzustellen. Wenn Arbeitgeber dafür das Einvernehmen mit den Mitarbeitern erzielen, ist es eher ein Beweis für die gute Zusammenarbeit zwischen Mitarbeitern, Mitarbeitervertretung und Arbeitgeber.«
Zum Abschluss wieder zurück zu dem Beitrag David gegen Gorillas: Was Startups aus dem Streit bei Deutschlands schnellstem Unicorn lernen sollten von Pascal Croset. Da findet man noch einen Hinweis mit Blick auf die aktuelle Eskalation bei Gorillas, den gerade die Gewerkschafter aufmerksam lesen sollten:
»Doch mit wem kommt man hier ins Gespräch? Die großen Gewerkschaften wie Ver.di oder die NGG sind bisher kaum in Erscheinung getreten. Der Grad der gewerkschaftlichen Organisation liegt bei Gorillas im homöopathischen Bereich. Stattdessen agiert das „Gorillas Workers Collective“, eine vor allem über Twitter vernetzte Gruppe von Fahrern. Diese unterhält offenbar Beziehungen zur Freien Arbeiter*innen-Union (FAU), die sich selbst als anarcho-syndikalistische Gewerkschaftsföderation bezeichnet. Arbeitsrechtler stufen die FAU nicht als „echte“, tariffähige Gewerkschaft ein, da sie keine sogenannte „soziale Mächtigkeit“ besitze. Die Gorillas-Geschäftsführung steht also vor der enormen Herausforderung, mit einem amorphen Kollektiv und einer anarchistischen Gewerkschaft kommunizieren zu müssen. Vor dem Hintergrund des wilden Streiks werden die Gespräche von Anfang an arg belastet sein.«