Sie ist atemberaubend, die Fluchtwelle aus der Ukraine, die sich vor unseren Augen in wenigen Tagen aufgebaut hat. Stündlich steigt die Zahl der Menschen, darunter sehr viele Frauen und Kinder, die aus ihrem Heimatland vertrieben wurden. Wir sind nun schon offiziell geschätzt bei 1,7 Millionen Menschen angekommen, eine Zahl, die sich beim Schreiben schon wieder verflüchtigt und nach oben korrigiert werden muss.
Die meisten versuchen noch, in unmittelbarer Nähe zur Ukraine zu bleiben und abzuwarten. Aber immer mehr verteilen sich auch auf die anderen europäischen Länder. Einer der Hotspots für in Deutschland ankommende Menschen aus der Ukraine ist Berlin, aber schon am 6. März wurde diese Meldung verbreitet: »Täglich kommen Tausende Menschen aus der Ukraine in Berlin an. Doch die Strukturen in der Hauptstadt sind mittlerweile überlastet. Vom Bund kommt deshalb Unterstützung: Geflüchtete werden in andere Bundesländer gebracht.« Und mit Blick auf den gestrigen Montag erreichen uns solche Zahlen: Berlin: Erneut 13.000 Ukraine-Flüchtlinge eingetroffen. An den folgenden Zahlen kann man die gewaltigen Herausforderungen in Umrissen erkennen, die sich hinsichtlich der Versorgung dieser vielen Menschen stellen: »Auf der Flucht vor dem Krieg in der Ukraine sind nach Angaben des Berliner Senats am Montag erneut mehr als 13.000 Menschen nach Berlin gekommen. Der Krisenstab habe 800 Menschen unterbringen können, teilte die Senatsverwaltung für Integration, Arbeit und Soziales am Dienstag mit.« Viele Menschen kommen auch privat in Berlin unter. Noch. Denn man rechnet mit noch größeren Zahlen in den Tagen, die vor uns liegen. Das wird nur zu stemmen ein, wenn die vielen Betroffenen verteilt werden in der ganzen Bundesrepublik, denn bisher sind viele gekommen, die familiäre oder persönliche Verbindungen haben in einem der europäischen Länder, aber es ist zu erwarten, das jetzt immer mehr Menschen kommen, die hier überhaupt keinen Bezugspunkt haben und die untergebracht und versorgt werden müssen.
Das wird zweifelsohne eine herkulische Aufgabe für viele Akteure und man kann da begrenzt zurückgreifen auf die Erfahrungen, die hier 2015 gemacht wurden. Aber angesichts der Ausmaße und des Tempos eben nur begrenzt. Und viele Folgefragen und -probleme werden sich zwangsläufigerweise erst in den kommenden Wochen, Monaten und – je nach Verlauf des kriegerischen russischen Überfalls auf die Ukraine und den Schäden, die dort angerichtet werden – in den vor uns liegenden Jahren ergeben.
Zumindest hat man auf der EU-Ebene schnell gehandelt und mit der Aktivierung der „Massenzustromrichtlinie“ einen flexiblen Rahmen zu schaffen, zu dem in Verbindung mit dem besonderen Flüchtlingsstatus auch gehört, dass die betroffenen Menschen eine Erwerbsarbeit aufnehmen können (vgl. dazu ausführlicher den Beitrag Millionen Menschen auf der Flucht, die Aktivierung der „Massenzustromrichtlinie“ und die zahlreichen Folgefragen mit Blick auf die in Deutschland ankommenden Opfer der russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine vom 5. März 2022). Dort wurde bereits am Ende des Beitrags auf einzelne Segmente des Arbeitsmarktes hingewiesen, in denen wir schon in der Vergangenheit erhebliche Probleme mit den Arbeitsbedingungen bis hin zu ausbeuterischen Verhältnissen gehabt haben – und in denen schon vor dem Krieg viele Ukrainerinnen tätig waren. Genannt wurde das Beispiel der hoch problematischen sogenannten „24-Stunden-Betreuung“ in privaten Haushalte. Und dort befürchtet man wohl nicht zu Unrecht, dass durch den Massenzustrom vieler Frauen in Not das „Reservoir“ zunimmt für Beschäftigungsverhältnisse mit unterirdischen Bedingungen (vgl. dazu auch den Beitrag Neues Pflegepersonal zum Dumpingpreis? von Gottlob Schober und Claudia Kaffanke).
Auch in einem anderen, hier mal wieder (hoffentlich rechtzeitig) in das Scheinwerferlicht zu rückenden Bereich des Arbeitsmarktes, wo es schon vor der aktuellen Fluchtwelle (zunehmend mehr) Ukrainer gab, wird sich der eine oder andere Arbeitgeber die Hände reiben angesichts des Zustroms an potenziellen Arbeitskräften, denn die vergangenen Jahre waren hier dadurch gekennzeichnet, dass es immer schwieriger wurde, ausreichend und dann auch noch geeignetes Personal für harte, schwere Arbeit zu finden. Gemeint sind die landwirtschaftlichen Betriebe, in denen zigtausende Erntehelfer für die Saisonarbeit benötigt werden – angefangen mit der Spargelernte im Frühjahr bis in den Herbst eines Jahres hinein.
An dieser Stelle interessant und hilfreich ein Blick zurück in das vergangene zweite Corona-Jahr, als sich keiner auch nur in schemenhaften Umrissen vorstellen konnte, was diese Tage über die Menschen in der Ukraine gekommen ist.
Zur Saisonarbeit in der Landwirtschaft im zweiten Corona-Jahr
Bereits vor dem ersten Corona-Jahr 2020 gab es die erkennbare Entwicklung, dass es immer schwieriger wurde, Saisonarbeiter in ausreichender Zahl für den deutschen Arbeitsmarkt aus den bisher dominierenden Lieferländern zu rekrutieren. 2020 und 2021 kam als besonderes Erschwernis die Corona-Pandemie und die damit verbundenen Restriktionen hinzu.
Eine wichtige Informationsquelle über die Saisonarbeiter sind die „Jahresberichte Saisonarbeit in der Landwirtschaft“ – herausgegeben von der „Initiative Faire Landarbeit“. Die 2016 ins Leben gerufene Initiative Faire Landarbeit ist ein Bündnis von den gewerkschaftsnahen Beratungsstellen Faire Mobilität, dem Europäischen Verein für Wanderarbeiterfragen und dem Beratungsnetzwerk „Gute Arbeit“ von Arbeit und Leben, der IG BAU sowie weiteren Organisationen. Schauen wir in den Jahresbericht 2021, der im Oktober 2021 veröffentlicht wurde. Vgl. dazu auch den Beitrag Auch 2021 waren einige da: Die Erntehelfer. Zur Saisonarbeit in der Landwirtschaft im zweiten Corona-Jahr vom 28. Oktober 2022.
Die Frage nach den Herkunftsländern der Saisonbeschäftigten ist nicht einfach zu beantworten, denn seit 2010 müssen die Betriebe keine Genehmigungen der Bundesagentur für Arbeit für die Anstellung von Saisonarbeitern mehr einholen. Klar ist jedoch, dass die große Mehrheit der Saisonarbeiter aus dem EU-Ausland kommt. Die Menschen kommen nach Einschätzung der Initiative Faire Landarbeit vor allem aus Rumänien und, zu einem etwas geringeren Anteil, aus Polen. Zunehmend werden auch Menschen aus Bulgarien auf den Feldern angetroffen.
Herkunftsländer außerhalb der EU, sogenannte Drittstaaten, gewinnen als Rekrutierungsräume mehr und mehr an Bedeutung. Hier kommt die Ukraine ins Spiel. Ein erheblicher Teil der Arbeitskräfte aus der Ukraine kommt offiziell entweder im Rahmen eines Ferienjobs oder im Rahmen eines studienfachbezogenen Praktikums zur Arbeit nach Deutschland. Allerdings dient das in der Realität wohl in den meisten Fällen nur dazu, um ein Geschäftsmodell zu realisieren, mit dem man die soziale Absicherung der Beschäftigten für teilweise erhebliche Einkommen und Zeitabschnitte umgehen kann. Das Vehikel hierfür ist die sogenannte „kurzfristige Beschäftigung“. Die Saisonarbeiter können die Arbeit in Deutschland kurzfristig „nicht berufsmäßig“ ausüben und müssen in diesem Fall nicht in Deutschland sozialversichert sein. Sie gelten als sog. kurzfristig Beschäftigte. Die kurzfristige Beschäftigung stellt eine Form der geringfügigen Beschäftigung dar. Anders als bei den ebenfalls sozialversicherungsfreien Minijobs auf 450-Euro-Basis, gibt es bei der kurzfristigen Beschäftigung keine monatlichen Einkommensgrenzen.
Durch die Ausweitung des Rekrutierungsraums auf Drittstaaten wird auf eine potenzielle Gruppe von Beschäftigten zugegriffen, die in Deutschland weniger Rechte als EU-Bürger haben und deren Aufenthaltsrecht direkt an das Arbeitsverhältnis geknüpft ist. Dies verschärft Abhängigkeiten von Arbeitgebern und erschwert es den Menschen aus Drittstaaten, sich gegen Arbeitsrechtsverletzungen zu wehren.
Im Frühjahr 2021 wurde hinsichtlich der Erntehelfer besonders kritisch diskutiert, dass seitens der damaligen Bundeslandwirtschaftsministerin Juli Klöckner ermöglicht wurde, dass der Nachschub an Saisonarbeitern möglichst kostengünstig erfolgen konnte. Schon als ein „Kompromiss“ mit dem skeptischen Bundesarbeitsministerium war dann diese Ausweitung zu verstehen (eigentlich wollte die Ministerin einen noch längeren Zeitraum – 180 Tage – durchsetzen): »Von März bis Ende Oktober 2021 können landwirtschaftliche Betriebe ihre ausländischen Saisonarbeitskräfte 102 statt 70 Tage (bzw. vier statt drei Monate) sozialversicherungsfrei beschäftigen.« Zu der kritischen Diskussion im vergangenen Jahr vgl. ausführlicher die Beiträge Bald werden sie wieder kommen sollen. Die Saisonarbeiter. Und erneut will man sie möglichst billig haben vom 23. Februar 2022 sowie Go East – auch mit Hilfe einer Nicht-Sozialversicherung hier. Die Erntehelfer aus dem Osten vom 31. März 2022.
Sparen bei den Sozialabgaben – und am Krankenversicherungsschutz der Erntehelfer
Bereits im vergangenen Jahr wurde hier die IG BAU mit ihrer Kritik an der Sonderregel für die landwirtschaftlichen Betriebe zitiert: Bei der sogenannten „kurzfristigen Beschäftigung“ müssen Arbeiter laut der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) beispielsweise im Fall einer Corona-Erkrankung die Behandlungskosten mitunter selbst zahlen. Dabei bekommen sie meist nur den gesetzlichen Mindestlohn von 9,50 Euro die Stunde – oft minus Abzügen für Unterkunft und Verpflegung. Zudem würden der deutschen Sozialversicherung hohe Summen an Beiträgen verloren gehen.
Aber die Arbeitgeberseite hatte doch eine „Kompensation“ durch private Krankenversicherungen in Aussicht gestellt. Dass die Betriebe für einen ausreichenden Krankenversicherungsschutz der versicherungsfrei beschäftigten Saisonkräfte durch private Erntehelferversicherungen sorgen, wie die Arbeitgeberseite argumentiert hat, war aber nur – aufgepasst – eine Empfehlung, der nicht alle folgen und oft deckt die private Versicherung auch nicht alles ab. Und dann bereits am 31.03.2021: »So werden gerade die Kosten durch eine mögliche Corona-Infektion und eine damit verbundene Behandlung von vornherein in vielen Verträgen ausgeschlossen.«
Alles nur graue Theorie? Am 28. Februar 2022 veröffentlicht Jost Maurin diesen Artikel: 80.000 Euro von armer Erntehelferin: »Während die erkrankte Ukrainerin um ihr Leben kämpfte, meldete der Bauer sie bei der Krankenkasse ab. Jetzt soll die Mindestlöhnerin selbst zahlen.«
Hier der Sachverhalt: »Die Ukrainerin Viktoria Szolomka ist eine arme Frau: Die 40-Jährige lebt von den Gelegenheitsjobs ihres Mannes. Deshalb arbeitete sie im Sommer 2020 auf einem Gurkenhof im niederbayerischen Mamming als Erntehelferin. Dafür sollte Szolomka den Mindestlohn von damals 9,35 Euro pro Stunde bekommen. Doch 250 MitarbeiterInnen vor allem aus Osteuropa steckten sich mit Corona an, auch bei der Ukrainerin wurde Covid-19 festgestellt. Die Lunge und die Nieren versagten, das Herz pumpte kein Blut mehr. Monatelang musst sie im Krankenhaus in Bayern behandelt werden. Fast wäre sie gestorben. „Ich kann nach der Krankheit nicht arbeiten“, schreibt Szolomka.«
Und jetzt kommt es richtig skandalös: Nun »soll sie rund 80.000 Euro für ihre Coronabehandlung an die Techniker Krankenkasse (TK) zahlen. „Das kann ich nicht bezahlen“, klagt die Frau, die im Westen der Ukraine lebt.« Das Krankenversicherungsunternehmen hat der Arbeiterin vor Kurzem geschrieben, genau 78.852,07 Euro seien zum Beispiel für stationäre Krankenhausbehandlungen fällig, die 2020 über ihre TK-Gesundheitskarte abgerechnet wurden, „obwohl Sie nicht bei uns versichert waren“.
Wie kann das sein?
»„Der Arbeitgeber hat die Patientin abgemeldet, noch während sie im Krankenhaus war“, erklärte TK-Sprecher Michael Ihly den Fall auf Nachfrage der taz. „Wir haben sie angeschrieben, melde dich wegen Krankengeld und so weiter. Weder der Brief noch irgendeine Reaktion ist zurückgekommen.“ Wer Krankengeld bekommt, ist weiter versichert, sogar nach einer Kündigung durch den Arbeitgeber.«
Die Betroffene sagt dazu: »Die TK hatte ihren Brief an den Großbauernhof in Mamming geschickt. „Der Chef hat uns diesen Brief erst gegeben, als wir nach dem Krankenhausaufenthalt in die Ukraine fuhren“, so Szlomoka. „Uns wurde gesagt, dass wir die Versicherungsgesellschaft online kontaktieren müssten, um einen Antrag elektronisch auszufüllen, was uns nicht möglich war.“ Sie hätten das Onlineformular nicht verstanden, weil es nur auf Deutsch verfasst gewesen sei. „Da wir kein Deutsch sprechen, versprach der Chef zu helfen, wir riefen mehrmals in der Firma an, aber sie ignorierten uns.“«
Hier kommt jetzt wieder die beschriebene „kurzfristige Beschäftigung“ ins Spiel und die darüber eigentlich angestrebte Sozialabgabenfreiheit, denn auch der Landwirt, der die Betroffene beschäftigt, hat diesen Weg vermutlich nutzen wollen. Aber: Als die Ukrainerin schwer erkrankte und damit hohe Kosten entstanden, meldete der Landwirt sie plötzlich doch bei der TK an. „Bis der Antrag auf die Versicherung bei uns einging, war sie schon im Krankenhaus“, so ein Sprecher der Krankenkasse TK. Übrigens: »Das ist sogar legal: Einer Verordnung zufolge hat der Arbeitgeber bis zu sechs Wochen Zeit, um den Beginn einer versicherungspflichtigen Beschäftigung zu melden. Anders als zum Beispiel die Baubranche muss die Landwirtschaft das nicht am ersten Arbeitstag erledigen.«
Und einige Tage später, am 6. März dieses Jahres, gab Jost Maurin in einem Folgeantrag dann scheinbar Entwarnung: Sie muss nicht zahlen. »78.000 Euro sollte eine ukrainische Erntehelferin ohne Versicherung für ihre Coronabehandlung zahlen. Nun erlässt ihr die Krankenkasse die Rechnung.«
Die Techniker Krankenkasse (TK) hat ihre Forderung an eine ukrainische Erntehelferin über fast 80.000 Euro für eine Coronabehandlung fallengelassen. Wie das nun? Nach der Veröffentlichung des Sachverhalts durch die taz hatte sich die Kasse aktiv um eine einvernehmliche Lösung bemüht. Offensichtlich erfolgreich. Dazu berichtet Jost Maurin über die Erläuterungen der Krankenkasse: »Nun sei es der TK gelungen, mit Szolomka zu telefonieren … Mit Hilfe einer ukrainisch-sprachigen Mitarbeiterin hätten alle offenen Versicherungsfragen geklärt werden können. „Wir konnten unsere Kundin informieren, dass sie aufgrund der im Telefonat geklärten Punkte nach dem Ende ihrer Beschäftigung Anspruch auf Krankengeld hatte.“ Sobald Szolomka der TK eine Bankverbindung mitteilt, werde sie diese Zahlung erhalten. Entscheidend ist aber vor allem: „Durch den Bezug von Krankengeld verlängert sich auch die TK-Mitgliedschaft.“ Damit war die Behandlung im Krankenhaus und einer Reha-Einrichtung von August bis Oktober 2020 abgedeckt.«
Halten wir fest: Die Solidargemeinschaft der Krankenversicherten übernimmt nun doch die Rechnung – aber der Arbeitgeber geht schadlos aus der ganzen Angelegenheit heraus. An solche Fälle sollte man in Berlin auch dann denken, wenn sie jetzt als Verbesserung für das bevorstehende Ernetjahr behauptet, dass doch die Landwirte anders als früher melden müssen, dass sie irgendeinen Krankenversicherungsschutz abgeschlossen haben. Was aber eben auch bedeuten kann, dass es sich um eine der mehr oder weniger halbseidenen privaten Versicherungen mit zahlreichen Leistungsausschlüssen handeln kann (und in vielen Fällen handelnwird, um Kosten zu sparen). Das Bundeslandwirtschaftsministerium hatte bereits im vergangenen Jahr zu der seit diesem Jahr geltenden Mitteilungspflicht der Arbeitgeber ausgeführt: »Als privat krankenversichert soll ein kurzfristig Beschäftigter auch gelten, wenn er über seinen Arbeitgeber für die Zeit der Beschäftigung über eine private Gruppenversicherung abgesichert ist und dadurch die notwendige Versorgung im Krankheitsfall gewährleistet ist.« Man muss sicher nicht lange auf neue Probleme in diesem Bereich warten.
Die eigentlich erforderliche Lösung wurde von der Initiative Faire Landarbeit bereits im vergangenen Jahr unmissverständlich auf den Punkt gebracht: »Kurzfristig Beschäftigte in der Landwirtschaft müssen in Deutschland vollumfänglich sozialversichert sein. Im Gegensatz zu anderen Branchen stellt die kurzfristige Beschäftigung in der Landwirtschaft keine Ausnahme dar, sondern wird von den Arbeitgebern systematisch im Bereich der Sonderkulturen genutzt. Dies entspricht nicht dem Sinn und Zweck der als Ausnahme gedachten Regelung und kann in vielen Fällen nur als missbräuchlich bezeichnet werden.«
Man kann es tatsächlich so ausdrücken: „Wer 14 Stunden am Tag in Schwerstarbeit auf unseren Feldern schuftet, muss fair bezahlt werden und in Deutschland krankenversichert sein.“
Und wenn wir schon dabei sind: Was ist eigentlich aus den vielen Georgiern geworden, die im vergangenen Jahr an die deutsche Erntefront zum Einsatz kommen sollten?
Der eine oder andere wird sich noch erinnern – im vergangenen Jahr tauchte eine scheinbare Erfolgsmeldung auf, als es um die Suche nach neuen Arbeitskräften für die Saisonarbeit auf deutschen Feldern ging. »Die Spargelernte war jahrelang eine Co-Produktion polnischer und rumänischer Helfer. Doch viele von ihnen wollen nicht mehr auf deutschen Feldern schuften. Arbeitskräfte aus Georgien sollen einspringen«, berichtet Ulrich Crüwell in seinem 2021 veröffentlichten Artikel Erntehilfe kommt diesmal aus Georgien. Um das besser einordnen zu können, muss man kurz wieder in Erinnerung, was hier am Anfang des Beitrags zu den Herkunftsländern der Saisonarbeiter ausgeführt wurde: (Immer weniger) Polen, Rumänen (auch weniger), (in der Vergangenheit zunehmend) Bulgaren und neuerdings aus Ukrainer. Aber insgesamt und schon vor Corona schwächelte der Nachschub aus diesen osteuropäischen Ländern.
Auch in diesem Schattenland der prekären Beschäftigung haben sich höchst unterschiedliche Hierarchien herausgebildet. Dazu aus dem Beitrag von Ulrich Crüwell:
»Heutzutage würde er nicht mehr nach Deutschland kommen, sagt Christof Kamedulski. Doch vor zwanzig Jahren war die wirtschaftliche Situation in seiner polnischen Heimat eine gänzlich andere. Damals habe er kaum eine andere Wahl gehabt, als sich in Deutschland als Spargelstecher zu verdingen. Für Polen wie ihn hat sich die Situation verbessert – auch auf hiesigen Spargelhöfen. „Wir machen die Logistik“, sagt Kamedulski, der zum fest angestellten Vorarbeiter aufgestiegen ist. Die harte Feldarbeit haben rumänische Frauen und Männer übernommen. Doch wie lange die sich das noch antun werden, ist eine Frage, die Spargelanbauer wie Jürgen Jakobs umtreibt. „Wir sind für Rumänen keine attraktiven Arbeitgeber mehr“, sagt der Verbandsvorsitzende der ostdeutschen Spargelanbauer. Denn mehr als den Mindestlohn von 9,50 Euro pro Stunde könnten er und seine Kollegen nicht zahlen.«
Also nicht mal mehr für die Rumänen sei man „attraktiv“. Die Lösung liegt nahe und zugleich ziemlich weit weg: Georgien. »Zunächst sei geplant gewesen, dass 500 Arbeitskräfte aus Georgien nach Deutschland kommen. Daraus seien mehr als 5.000 geworden«, berichtet Jürgen Jakobs von den ostdeutschen Spargelbauern. Und dahinter steht ein „wunderbares“ Potenzial, garniert mit einer weiteren staatlichen Hilfestellung: »Mehr als 80.000 Georgier hätten sich beworben, so der Landwirt. Dabei handele es sich um ein Pilotprojekt der Bundesagentur für Arbeit. Die Behörde kümmert sich um die Arbeitsverträge und auch die Anreise.« Was für ein Potenzial für die Zukunft, wo man doch ärgerlicherweise Geld in die Hand nehmen muss, um beispielsweise die Rumänen, die noch wollen, nach Deutschland zu bringen. »Die Georgier dagegen, die in den kommenden Tagen ins Flugzeug nach Deutschland steigen, sind da anspruchsloser: Sie bezahlen ihre Flüge selber.« So der damalige O-Ton des Landwirts.
Und was ist daraus geworden?
2021 sind über ein Drittstaatenabkommen etwa 180 Menschen aus Georgien für die Arbeit in der Landwirtschaft eingereist. Das nun waren weit weniger als das ursprünglich vereinbarte Kontingent. Man kann auch sagen: Ein Tiger, der als Bettvorleger gelandet ist.
nd dass man als Georgier vorsichtig sein sollte, wenn es um die Saisonarbeit in Deutschland geht, zeigt sich auch an solchen Meldungen: Seit letztem Jahr kämpfen georgische Erntehelfer für den ihnen vorenthaltenen Lohn, hier und in Georgien, berichtet Tiguan Petrosyan in seinem am 19. Februar 2022 veröffentlichten Artikel Rebellion der Saisonarbeiter:innen. Er schreibt: »Niemand hatte damit gerechnet, dass gerade Saisonarbeiter:innen aus der Südkaukasusrepublik Georgien in Deutschland rebellieren würden. Doch seit Juni 2021 kämpfen georgische Saisonarbeiter:innen für den ihnen vorenthaltenen Lohn für ihre Arbeit auf einem Erdbeerhof am Bodensee.« Inzwischen gehen die Erntehelfer in beiden Ländern juristisch gegen georgische Arbeitsagenturen und deutsche Arbeitgeber vor.
➔ »In vielen Arbeitsverträgen wird ein Mindestlohn von 9,35 Euro genannt. Das entspricht nicht dem gesetzlichen Mindestlohn. Allein das ist schon ein Verstoß gegen deutsches Recht. Die Betroffenen werden jedoch nach Gewicht der geernteten Erdbeeren bezahlt: Drei Euro erhalten sie für 5 Kilogramm. Viele schaffen maximal 10 Kilogramm in einer Stunde, das kommt einem Stundenlohn von 6 Euro gleich.«
18 georgische Saisonarbeiter haben das Arbeitsgericht Friedrichshafen ersucht, für sie eine Lohnklage einzureichen. Das Arbeitsgericht Ulm und die Kammer in Ravensburg haben die Lohnklage angenommen. Die mündliche Verhandlung ist auf den 4. März festgesetzt.
Auch der Gewerkschaftsbund Georgiens (GTUC) hat sich eingeschaltet – und möchte auch die georgische Regierung vor Gericht bringen. Denn die Arbeitsverträge hat die georgische Staatsagentur für Arbeitsförderung abgeschlossen. Was bedeutet, dass sich diese Behörde um korrekte und rechtskonforme Arbeitsverträge kümmern muss.
Was auch immer aus der konkreten Angelegenheit wird – es spricht sich selbst in Georgien herum, wie Erntehelfer in Deutschland nicht selten behandelt werden.
Aber möglicherweise „entspannt“ sich die Situation eines zunehmenden Arbeitskräftemangels für die Saisonbetriebe durch den russischen Krieg gegen die Ukraine. Denn wie beschrieben bekommen die in die EU geflüchteten Ukrainer durch die Anwendung der Massenzustromrichtlinie in Deutschland die nicht eingeschränkte Möglichkeit, einer Erwerbsarbeit auszuüben. Wir müssen damit rechnen, dass diese gut gemeinte und an sich auch richtige Maßnahme von den schwarzen Schafen unter den Arbeitgebern ausgenutzt werden, um ausbeuterisch auf diese Arbeitskräfte zugreifen zu können in der Annahme, dass sich die Betroffenen nicht wehren können und werden. Allein diese Möglichkeit (und ihre leider erwartbare Ausprägung) verpflichtet den Staat und seine Organe, besonders genau hinzuschauen und einen umfassenden Arbeitsschutz zu garantieren. Leider sehen die Voraussetzungen dafür schlecht aus, denn schon vor dem, was wir diese Tage erleben, musste an vielen Beispielen illustriert werden, dass wir bereits unter „Normalbedingungen“ an vielen Stellen mit einem massiven Staatsversagen konfrontiert sind. Es ist eher unwahrscheinlich, dass sich das unter erheblich verschärften Bedingungen einer millionenfachen Zuwanderung von Vertriebenen nun ändern wird. Eher im Gegenteil. Dennoch soll keiner sagen, dass auf das Problem nicht frühzeitig hingewiesen wurde.