Bald werden sie wieder kommen sollen. Die Saisonarbeiter. Und erneut will man sie möglichst billig haben

Der eine oder andere wird sich noch erinnern. Im Frühjahr des vergangenen Jahres gab es ein Problem. Mit den Saisonarbeitern, die Jahr für Jahr vor allem as osteuropäischen Staaten nach Deutschland kommen, um den deutschen Spargel und andere Genussmittel einzubringen. Aber im letzten Jahr war alles anders, denn die erste Corona-Welle kam im März 2020 über uns. Am 6. April 2020 wurde hier dieser Beitrag veröffentlicht: Erntehelfer: Die Unverzichtbaren unter den bislang „unsichtbaren“ Systemrelevanten. Erst nicht mehr rein, jetzt doch (einige) rein. Und eine bemerkenswerte Doppelmoral. Dort wurde über den 25. März 2020 berichtet: »Saisonarbeitskräfte dürfen ab Mittwoch-Nachmittag nicht mehr einreisen. Wie der Ausfall der Arbeitskräfte kompensiert werden soll, ist noch nicht klar.« Zur Eindämmung der Coronavirus-Pandemie hatte die Bundesregierung die Einreisebestimmungen weiter verschärft. Allerdings sogleich garniert mit einer interessanten Ausnahmeregelung: »Die Beschränkungen gelten demnach bis auf weiteres; nicht davon betroffen sind ausländische Pflegekräfte.« Offensichtlich waren die damals bereits immun gegen das Virus.

Aber wenige Tage später, am 2. April 2020, also nur kurz nach dem vom Bundesinnenministerium verhängten Einreiseverbot, gab es dann die für zahlreiche Arbeitgeber erlösende Botschaft: »Gute Nachrichten für die Bauern: Erntehelfer aus Polen und Rumänien dürfen jetzt doch nach Deutschland einreisen.«

Das Einreiseverbot wenige Tage vorher wurde doch mit Gesundheitsbedenken begründet. Hatten die sich nun plötzlich in Luft aufgelöst? Natürlich nicht – wir wurden Zeugen einer interessanten „Güterabwägung“ zwischen dem Schutz und der wirtschaftlichen Not(wendigkeit):

»Um eine Verbreitung des Coronavirus zu verhindern, haben sich Bundesinnen- und Bundesagrarministerium … jedoch auf enge Voraussetzungen für den Einsatz geeinigt. Danach dürfen die Erntehelfer nur mit dem Flugzeug anreisen und müssen am Flughafen von den Betrieben abgeholt werden. Die Helfer müssen einen Gesundheitscheck bestehen und werden in den ersten 14 Tagen von anderen Arbeitern getrennt. Zudem werden die Unterkünfte für die ausländischen Saisonarbeiter nur zur Hälfte belegt.«

Da kam man sich damals wohl besonders trickreich vor: eine faktische Quarantäne bei gleichzeitiger Arbeitsmöglichkeit sollte es also geben für die Erntehelfer aus dem Osten. Wie praktisch. Also für die importierende Seite.

Was dann in den folgenden Wochen auf vielen deutschen Feldern passiert ist, daran werden sich noch viele erinnern können. Zahlreiche Berichte über Verstöße gegen die Corona-Auflagen wurden veröffentlicht und die bereits vor Corona bekannte langjährige Geschichte der Ausbeutung auf dem einen oder anderen Hof musste um einen weiteren Jahresring erweitert werden.

Aus der Krise des vergangenen Jahres lernen. Allerdings nicht so, wie sich das viele wahrscheinlich vorstellen

Aber nun stehen wir vor einer neuen Saison und erneut stellt sich die Aufgabe, Hunderttausende Erntehelfer zu besorgen. Und da könnte man sich an die Ereignisse aus dem vergangenen Frühjahr erinnern, über die durchaus an vielen Stellen kritisch berichtet worden ist. Man kann das aber auch ausblenden und sich lieber an das erinnern, was damals tatsächlich gelaufen ist.

Dazu soll hier ein Beitrag erneut aufgerufen werden, der am 1. Mai 2020 veröffentlicht wurde: Was ist eigentlich aus den rumänischen Erntehelfern geworden, die zur Rettung des deutschen Spargels eingeflogen wurden? Von medialen Blitzlichtern und einer Ministerin, die für Landwirte alle Register zieht. Darin findet man dieses Zitat:

»Bundesministerin Julia Klöckner zieht … alle Register, um Bauern zu Lasten der Erntehelfer großzügige Geschenke zu machen. So wirbt sie inzwischen unter falscher Flagge für eine noch größere Ausweitung des Sozialversicherungsprivilegs der Bauern. Die ursprünglich nur für 70 Tage geltende Befreiung von Sozialabgaben für Erntehelfer*innen wurde wegen der Corona-Krise bereits auf 115 Tage verlängert. Laut Klöckner reicht das nicht und soll deshalb bald 180 Tage betragen. Die Ministerin verbreitet dabei irreführend, es gehe um eine maximale Aufenthaltsdauer. Das ist falsch, weil für hier arbeitende EU-Bürger ein unbegrenztes Aufenthaltsrecht gilt. Für betroffene Beschäftigte hat der fehlende Sozialversicherungsschutz aber größte Nachteile wie etwa bei einer Erkrankung oder bei Invalidität.« (Quelle: IG BAU:  Lückenhafter Infektionsschutz bei Erntehelfern. Bundesministerin Klöckner setzt falsche Prioritäten).

Daran sollten wir uns heute, im Februar 2021, wieder erinnern. Denn das gleiche Spiel beginnt derzeit und rechtzeitig vor der neuen Saison, erneut.

Grenzschließungen sollen in diesem Jahr kein Hindernis darstellen, heißt es aus dem Bundeslandwirtschaftsministerium. So gelte für Saisonarbeitskräfte etwa die Unterkunft beim Arbeitgeber als Wohnsitz, damit seien sie von den aktuellen Einreisebeschränkungen ausgenommen, ebenso die Grenzpendler. Das kann man dem Beitrag Streit um Saisonarbeit von Haidy Damm entnehmen. Aber wieso Streit? Lesen wir weiter: »Gewerkschaften warnen vor schlechten Arbeitsbedingungen auf den Feldern.« Um das besser einordnen zu können, muss man an das letzte Mangel-Jahr erinnern, denn es kamen damals weniger Saisonarbeitskräfte, als man gedacht hatte. Aber die damalige und heutige Bundesregierung hat die Notleidenden Bauern nicht im Stich gelassen:

»Arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) und Agrarministerin Julia Klöckner (CDU) (hatten sich) auf ein Konzept geeinigt, dass unter anderem längere Aufenthaltsdauer und – wie in anderen systemrelevanten Bereichen auch – längere Arbeitszeiten beinhaltete. Damit durfte bis zu 60 Stunden pro Woche und ohne Sondergenehmigung bis zu 12 Stunden täglich gearbeitet werden. In dringenden, nicht näher definierten Ausnahmen konnten es sogar sechs Tage à 12 Stunden sein. Und Saisonkräfte durften nun bis zu 115 Tagen statt wie zuvor 70 Tage sozialversicherungsfrei beschäftigt werden.«

Das hatte für die Erntehelfer handfeste Folgen: Der Arbeitsdruck stieg noch weiter an. Zu den aus den vergangenen Jahren bekannten Verstößen kam hinzu, dass Hygieneauflagen nicht eingehalten wurden und es wurde extrem lange gearbeitet. Durch Quarantäneregelungen und Reisebeschränkungen wurden die osteuropäischen Erntehelfer in eine noch stärkere Abhängigkeit von ihren Arbeitgebern als sowieso schon gedrängt.

Exkurs: Über das vergangene Jahr berichtet die IG Bauen-Agrar-Umwelt: »Im Jahr 2020 stand das Thema landwirtschaftliche Saisonarbeit aufgrund der Corona-Pandemie in der Öffentlichkeit wie nie zuvor. Auch wegen der Bedeutung der Nahrungsmittelproduktion wurden zu Beginn der Pandemie schnell zahlreiche Sonderregelungen für die Landwirtschaft geschaffen. Sie wurde im März als kritische Infrastruktur und systemrelevante Branche eingestuft. Die landwirtschaftlichen Arbeitgeberinnenverbände und die Bauernverbände instrumentalisierten die Pandemie in den folgenden Wochen sehr erfolgreich für weitere Sonderregelungen und die teilweise Aushebelung von Arbeitnehmerinnenrechten in der Landwirtschaft. Gleichzeitig standen Feldbesuche und der direkte Kontakt zu den Kolleg*innen auf den Betrieben, ein Kern der Tätigkeiten der Initiative Faire Landarbeit, zur Zeit des Lockdowns und aufgrund von Quarantäneregeln auf landwirtschaftlichen Betrieben aus Sicherheitsgründen in Frage.« Ausführliche Informationen zu dem Thema findet man in diesem Jahresbericht:
➔ Initiative Faire Landarbeit (2021): Bericht 2020. Saisonarbeit in der Landwirtschaft, Frankfurt am Main: Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt, 2021

Kurz vor der diesjährigen Erntezeit fordert nun ein Bündnis von Agrarverbänden, die im vergangenen Jahr beschlossenen Ausnahmen auch in diesem Jahr gelten zu lassen. Und sicherheitshalber wird sogleich (wieder) mit Versorgungsengpässen gedroht, wenn man den Arbeitgebern nicht entgegenkommt.

Das bleibt nicht unwidersprochen, berichtet Haidy Damm:

Die zuständige Gewerkschaft IG BAU warnt … vor einem möglichen »Fiasko«. Das Risiko einer Corona-Infektion sei unter den Arbeits- und Unterkunftsbedingungen in der Landwirtschaft nicht geringer geworden. »Im Gegenteil. Die Situation ist gerade durch die deutlich ansteckenderen Corona-Mutationen heute gefährlicher als noch vor einem Jahr«, so der stellvertretende Vorsitzende Harald Schaum. Er plädiert dafür, den »kompletten Ernteeinsatz auf solide Füße zu stellen – mit vollem Sozialversicherungsschutz ab dem ersten Tag auf dem Feld«.

Auch Benjamin Luig, Koordinator der Initiative »Faire Landarbeit« fordert »dringend einen gesetzlichen Sozialversicherungsschutz für die Saisonarbeiter*innen. In Zeiten von Corona ist vor allem eine angemessene Krankenversicherung notwendig, wie sie in Deutschland sonst für alle Beschäftigten gilt. Da reichen private Mini-Krankenversicherungen für 15 Euro im Monat einfach nicht aus.«

Man muss in diesem Zusammenhang wissen: Ursprünglich galt die Ausnahme von der Sozialversicherungspflicht nur für einen Monat. Saisonkräfte, die in ihren Heimatländern sozialversichert sind, sollten nicht hierzulande noch mal versichert werden müssen. Mit den neuen Ausnahmen sind es aber bereits fünf Monate, bei Arbeiten, die eigentlich unter die Sozialversicherung fallen.

Aus den Reihen der Arbeitgeberverbände kommen beschwichtigende Kommentierungen, so beispielsweise die, dass die Betriebe durch private Erntehelferversicherungen für einen »ausreichenden Krankenversicherungsschutz sorgen würden.

»Gewerkschaften befürchten …, dass die Kosten für diese Krankenversicherung vom Mindestlohn einbehalten werden könnten. Immer wieder gibt es solche Versuche, den gesetzlichen Mindestlohn zu unterlaufen. So werden Überstunden weder transparent erfasst noch konkret abgerechnet, hohe Summen für Verpflegung oder Unterkunft abgezogen.«

Auf mögliche Folgen weist Jost Maurin in seinem Artikel Erntehelfer sollen selber zahlen hin: Wenn auch 2021 eine versicherungsfreie Beschäftigung für bis zu 115 Tage zugelassen wird, dann müssen auf diesem Weg angestellte Osteuropäer »beispielsweise bei einer Corona-Erkrankung laut der Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt (IG BAU) die Behandlungskosten mitunter selbst zahlen. Zudem würden der deutschen Sozialversicherung hohe Summen an Beiträgen verloren gehen. 62 Prozent der Ende Juni 2019 registrierten rund 100.000 ausländischen Aushilfskräfte hatten nur eine Beschäftigung ohne reguläre Sozialversicherung, wie eine statistische Auswertung zeigt, die die Bundesagentur für Arbeit … erstellt hat … In normalen Jahren entfallen Beiträge zur Kranken-, Renten-, Pflege- und Arbeitslosenversicherung nur bei „kurzfristigen Beschäftigungen“ bis 3 Monaten oder 70 Arbeitstagen.« Dass die Betriebe für einen ausreichenden Krankenversicherungsschutz der versicherungsfrei beschäftigten Saisonkräfte durch private Erntehelferversicherungen sorgen, wie die Arbeitsgemeinschaft der gärtnerischen Arbeitgeberverbände argumentiert, sei nur eine Empfehlung, der nicht alle folgen und oft deckt die private Versicherung auch nicht alles ab.

Auch von anderer Stelle kommt Kritik: Die Grünen im Bundestag stemmen sich gegen Pläne von Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner, die sozialversicherungsfreie Beschäftigung für Saisonarbeiter wie im vergangenen Jahr wieder auf 115 Tage auszuweiten. „Wir kritisieren scharf, dass die Bundesregierung erneut versucht, die Sozialversicherungen auf Kosten der systemrelevanten Arbeitskräfte in der Landwirtschaft zu umgehen“, so der agrarpolitische Sprecher der Grünen-Fraktion, Friedrich Ostendorff, der in dieser Meldung zitiert wird: Grüne gegen beitragsfreie 115-Tage-Jobs für Saisonarbeiter. In der Zeit der Sozialversicherungsfreiheit müssen Arbeitgeber und Arbeitnehmer keine Sozialbeiträge zahlen, es besteht dann aber auch kein Sozialversicherungsschutz in der Kranken-, Arbeitslosen- und Rentenversicherung.

Man kann es tatsächlich so ausdrücken: „Wer 14 Stunden am Tag in Schwerstarbeit auf unseren Feldern schuftet, muss fair bezahlt werden und in Deutschland krankenversichert sein.“

Foto: © Stefan Sell