Vom individuellen und kollektiven Versagen: Wieder einmal ein Blick auf das würdelose Geschäft mit alten Menschen in Pflegeheimen

Nicht schon wieder einer dieser Pflegeskandal-Berichte mit abstoßenden Bildern, mag der eine oder andere gedacht haben, als am 10. Februar 2022 eine neue Folge von „Team Wallraff – Reporter Undercover“ via RTL ausgestrahlt wurde: „Abgeschoben und vergessen: Das würdelose Geschäft mit alten Menschen in unseren Pflegeheimen“, so ist die Sendung überschrieben. Und folgt man beispielsweise dieser Beschreibung, dann ahnt man, dass genau diese Bilder geliefert werden: Vernachlässigte Bewohner, mangelnde Hygiene: Reporter decken schockierende Zustände in Pflegeheimen auf: Für eine neue Investigativ-Reportage war das „Team Wallraff“ in vier privatwirtschaftlich geführten Pflegeeinrichtungen undercover und hat dabei zahlreiche Missstände dokumentiert. Was die „Team Wallraff“-Reporter vor Ort erleben, wirkt erschreckend. Sie begegnen verängstigten, einsamen und vernachlässigten Heimbewohnern, die unter teils fragwürdigen Hygienebedingungen zu leiden haben. Und sie erleben überlastetes Pflegepersonal, Personalmangel und Führungskräfte, die aus dem Kostendruck der Konzerne keinen Hehl machen.

Der Beitrag von „Team Wallraff“ bewegt sich zwischen der im wahrsten Sinne des Wortes unerträglichen bildgestützten Präsentation eines würdelosen Umgangs mit alten Menschen, die in den ausgewählten Pflegeheimen den dort arbeitenden Menschen und den Bedingungen vor Ort vollständig ausgeliefert sind – und es werden massive individuelle Pflegefehler und individuelles Fehlverhalten dokumentiert. Zugleich versucht man immer wieder, auf strukturelle Hintergründe zu verweisen, auf die Durchschlagskraft einer nach ihren Gesetzmäßigkeiten agierenden Profitorientierung eines Teils der Heimbetreiber.

Die im Wallraff-Beitrag vor dem Hintergrund der Träger der in der Reportage unter die Lupe genommenen Heime problematisierten Privat Equity-geführten Pflegeheimketten sind nur die Speerspitze eines außer Kontrolle geratenen renditeorientierten Geschäftsmodells, das betriebswirtschaftlich durchaus konsequent die alten Menschen behandeln muss wie Kühlschränke oder Waffen in „normalen“ produzierenden Unternehmen (vgl. hierzu den Beitrag Betriebswirtschaft schlägt Sorge um Senioren von Solveig Bach sowie die zahlreichen Beiträge speziell zu den Private-Equity-Unternehmen, die in diesem Blog veröffentlicht wurden).

Hingewiesen wurde auch auf die erschütternden Vorkommnisse im bayerischen Schliersee in den ersten Monaten der Corona-Pandemie. Auch deshalb, weil diejenige, die das damals an der Front erlebt und entsprechende Hilfemaßnahmen eingeleitet hat, die später ihren Job gekündigt hat und dann in ihrer Not ob des Nicht-Handelns zahlreicher politischer und administrativer Institutionen und Personen an die Medien gegangen ist, in der Wallraff-Sendung die Bilder aus den Pflegeheimen kommentiert und einordnet: Andrea Würtz. Mit ihr wurde dieses lesenswerte Interview über den Preis des Whistleblowings und die Verantwortung der Pflegekräfte veröffentlicht: Missstände in der Pflege: „Das sind Menschenrechtsverletzungen, die da stattgefunden haben“. Ihre Rolle und das, was da im Frühjahr 2020 in Schliersee passiert ist, war am 21. Januar 2022 Thema einer großen Reportage von Rainer Stadler in der Süddeutschen Zeitung unter der schlichten Überschrift: Pflegebedürftig: »Abgemagerte Bewohner, verzweifeltes Personal, profitgierige Konzerne: Nicht erst seit Beginn der Pandemie herrscht in Deutschlands Altenheimen der Notstand. Über den Irrsinn im System.«

»Als die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr Anfang Mai 2020 ausrücken, sind sie mit einem Faltblatt auf ihren Sondereinsatz vorbereitet. „Verschlusssache“ steht auf der Vorderseite. Sie müssten damit rechnen, „mit belastenden Situationen konfrontiert“ zu werden, mit Kranken und Toten. Um das Erlebte zu bewältigen, empfiehlt das Faltblatt unter anderem besondere Atemübungen.
Das Einsatzziel ist nicht Afghanistan oder Mali, sondern Schliersee, ein Markt mit 6500 Einwohnern in den bayerischen Alpen, 60 Kilometer südlich von München. In einem Hotelkomplex mit Park und Seeblick aus den Siebzigerjahren, der zum Pflegeheim umfunktioniert wurde und nun Seniorenresidenz Schliersee heißt, herrscht nach einem Corona-Ausbruch der Ausnahmezustand.
Andrea Würtz, damals 43, eine Frau mit halblangen, brünetten Haaren und blauer Brille, arbeitet im Gesundheitsamt Miesbach und macht sich ein Bild von der Lage. Nach ihrem Besuch schlägt sie Alarm. 15 der knapp 90 Bewohner und sechs Mitarbeiter haben sich mit dem Virus angesteckt. Ein Bewohner und eine Pflegerin sind bereits gestorben. Es gibt kein Hygienekonzept, Infizierte laufen ungehindert durch das Heim, das Personal trägt keine Schutzausrüstung und billig hergestellte Masken aus dünnem Papier. Die S.O. Nursing Homes GmbH, eine deutsche Tochtergesellschaft des italienischen Konzerns Sereni Orizzonti, betreibt das Heim, in dem 65 Mitarbeiter die alten Menschen versorgen – allerdings nur auf dem Papier. Tatsächlich sind dort im Frühjahr 2020 nur etwa 30 Beschäftigte im Dienst. Sie sprechen kaum Deutsch, sind mit der Situation heillos überfordert.«

In Schliersee erkennt Andrea Würtz vom Gesundheitsamt Miesbach sehr schnell, dass es sich nicht nur um eine Corona-Notsituation handelt. Sie ist selbst examinierte Pflegekraft, hat mehr als 20 Jahre Berufserfahrung. Zustände wie in Schliersee, sagt sie, habe sie noch nie erlebt, Zustände völliger Verwahrlosung.

»Würtz ist die treibende Kraft im Krisenstab, der umgehend eingerichtet wurde. Ihm gehören auch das Rote Kreuz und der Katastrophenschutz an. Akribisch protokolliert sie, was sie in der Seniorenresidenz sieht und macht Fotos mit ihrer Handykamera.
Auf ihnen sind bis auf die Knochen abgemagerte Bewohnerinnen und Bewohner zu erkennen, mit zentimeterlangen Finger- und Fußnägeln, mit eitrigen und blutenden Wunden. Würtz fotografiert Aufenthaltsräume, in denen Bewohner nach vorn gekippt in ihren Rollstühlen sitzen, die sich nicht aus eigener Kraft aufrichten können. Manche Zimmerwände sind mit Exkrementen verschmiert, Böden voller Flecken von Urin, Blut und Erbrochenem. Bei einem Bewohner ist seit Wochen der Urinbeutel nicht ausgewechselt worden, die Flüssigkeit hat sich braun verfärbt, ist flockig.
Würtz‘ Berichte lösen den Bundeswehreinsatz aus. Bis zu 50 Soldatinnen und Soldaten desinfizieren Zimmer, entsorgen Müll, der sich schon in den Fluren türmt, 40 Kilo abgelaufene Lebensmittel – und tote Mäuse aus der Küche.«

Es möge aber keiner behaupten, dass das alles von einem Moment auf den anderen vom Himmel gefallen ist und uns auf dem falschen Fuß erwischt hat: Der Personalmangel in den Heimen und die kräftezehrenden, desillusionierenden Arbeitsbedingungen sind seit Jahrzehnten bekannt, so Rainer Stadler in seiner Reportage. Regelmäßig dringen Skandale aus Pflegeheimen an die Öffentlichkeit. Die aktuelle Berichterstattung des „Team Wallraff“ reiht sich ein in eine lange Kette an entsprechenden Dokumentationen.

Zurück nach Schliersee. Der Alptraum, über den da berichtet wurde und wird, fand statt im Frühjahr 2020: »Bis heute ermitteln Polizei und Staatsanwaltschaft im Fall Schliersee, wegen fahrlässiger Tötung in 17 Fällen und Körperverletzung in 88 Fällen, außerdem besteht Verdacht auf Abrechnungsbetrug. Viele Bewohner waren in einem so verheerenden Zustand, dass die Polizei zeitweise jeden Leichnam gerade gestorbener Bewohner beschlagnahmen ließ, um die Todesursache zu klären. Zwei Leichen von früheren Bewohnern wurden exhumiert. Andrea Würtz sagt, sie sei insgesamt 17 Stunden vernommen worden. Der Fall ist monströs und außergewöhnlich.«

Stadler legt den Finger auf eine der ganz großen und seit Jahren offenen Wunden: »Warum dulden Pflegekräfte solche Missstände? Warum versagen die Kontrollen? Und woher rührt das öffentliche Desinteresse für das Schicksal alter, wehrloser Menschen?«

Es geht um individuelles Versagen, das aber nie im luftleeren Raum stattfinden kann, sondern eingebettet ist in ein massives kollektives Versagen. Und das in einem Bereich, in dem es nicht um die Herstellung von Wäscheklammern oder Kondomen geht, sondern um die „Produktion“ von Pflege und Betreuung der verletzlichsten Menschen, die oftmals völlig wehr- und schutzlos denen ausgeliefert sind, die sich eigentlich um sie „sorgen“ sollen, was weit mehr ist als die „Produktion“ von Pflege- und Betreuungsverrichtungen, deren Organisation man durchaus dem Modell einer Schraubenfabrik anpassen kann (und es offensichtlich auch versucht).

An dieser Stelle soll vor allem eine der Dimensionen des kollektiven Versagens aufgerufen werden, die (nicht nur) im Beispielfall Schliersee (und seiner Fortsetzungsgeschichte bis in diese Tage, wie wir gleich noch sehen werden) ein mehr als unrühmliche Rolle gespielt haben: die Kontrolle der Lebensorte Heime. Schauen wir vorher noch einmal in die Reportage von Rainer Stadler über die Ereignisse in Schliersee im Frühjahr 2020 – denn auch in diesem Zusammenhang wird das Thema Aufsicht und Kontrolle angesprochen:

»Als Andrea Würtz in Schliersee eintrifft, will sie sich anhand der Dienstpläne einen Überblick über die Personalsituation verschaffen. Ihr fällt schnell auf, dass die Unterlagen nicht korrekt sind.
Die Seniorenresidenz besteht aus sechs Wohnbereichen. An manchen Tagen tauchen die Namen von Pflegekräften auf, die zu einer Schicht eingetragen und gleichzeitig auf Fortbildung sind. Auch eine Pflegekraft, die Anfang Mai 2020 an Corona gestorben ist, taucht im Laufe des Monats immer wieder im aktuellen Dienstplan auf. Der vorgeschriebene Fachkräfteschlüssel wird ebenfalls nicht ansatzweise eingehalten. Laut Gesetz soll mindestens die Hälfte der Beschäftigten über eine dreijährige Ausbildung verfügen. In Schliersee sind es fünf von 65 Mitarbeitern.
Bei den jährlichen Kontrollen durch die Heimaufsicht sind diese Unregelmäßigkeiten nicht aufgefallen. Hinter vorgehaltener Hand erzählen viele Pflegekräfte wie auch Heimleiter aus verschiedenen Regionen Deutschlands, dass die Kontrollen oft oberflächlich verliefen. Häufig fände nicht einmal eine Plausibilitätsprüfung statt, ob die in den Unterlagen angegebenen Leistungen mit dem vorhandenen Personal rechnerisch überhaupt zu schaffen sind.
Zudem bewertet der Medizinische Dienst der Krankenkassen seit einigen Jahren die Qualität der Heime. Der sogenannte Pflege-TÜV wurde eingeführt, um Pflegebedürftigen und Angehörigen die Auswahl des richtigen Pflegeheims zu erleichtern. Jede Einrichtung erhielt Noten. Sie waren allerdings begrenzt aussagefähig, weil sie allein auf den Unterlagen der Heime beruhten. Die Seniorenresidenz Schliersee etwa bekam bei der letzten Prüfung 2019 vom Pflege-TÜV die Note 1,2.«

Und dann das hier: »Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek musste einräumen, dass die Seniorenresidenz Schliersee in den vergangenen fünf Jahren 41 Mal geprüft worden sei, ohne vorherige Ankündigung. Laut Medien entstanden dabei lange Mängellisten, trotzdem blieb das Heim geöffnet.«

Selbst als tonnenweise Material geliefert wurde, dass das Heim in Schliersee ein Ort des Schreckens und manifester Menschenrechtsverletzungen war – passierte seitens des Landratsamtes nichts. Jeder normal denkende Mensch würde annehmen, dass diese Einrichtungen selbstverständlich geschlossen wird. Das war der nicht der Fall, was u.a. dazu geführt hat, dass Andrea Würtz kapitulierte und den Job aufgegeben hat. Man achte mal auf die Zeiträume, die genannt werden (Hervorhebungen nicht im Original):

»Im Spätsommer 2021 verkündete die Pflegekasse, die einen wesentlichen Teil der Heimkosten beisteuert, dass sie nicht weiter für die Versorgung der alten Menschen in Schliersee bezahlen werde. Die Gründe dafür waren dieselben, die bereits Andrea Würtz und die beiden Mediziner im Mai 2020 aufgezählt hatten: dehydrierte, unterernährte Bewohner, schlechte Pflege, zu wenige Fachkräfte. Daraufhin verfügte auch die Heimaufsicht des Landratsamts, dass die Seniorenresidenz Schliersee nun schließen müsse.«

Und natürlich gibt es strukturelle Faktoren, die zu diesem Alptraum geführt haben, die wieder auf die ökonomische Dimension verweisen. Beispiel Schliersee:

»Das Heim unterbot die Preise der Konkurrenz um bis zu 1000 Euro im Monat. Im Bayerischen Fernsehen erklärte ein ehemaliger Manager des italienischen Trägers, warum das Geschäftsmodell dennoch aufging: „Wenn du Gewinne machen willst, musst du die Kosten reduzieren. Das heißt: weniger Betreuung. Oder du betreust mit nicht qualifizierten Hilfskräften. Du bietest weniger Essen an. Du wechselst die Bettwäsche seltener.“ Im System der Pflege, das viele für unterfinanziert halten, sehen Unternehmen noch viel Raum, um ihre Profite zu maximieren.«

Erinnerung: Von einem seit langem bekannten eklatanten Staatsversagen in Form einer Nicht-Umsetzung des Schutzauftrags staatlicher Institutionen

Nicht nur der Fall Schliersee hat ein erschreckendes Versagen beim staatlichen Schutzauftrag in Form der Heimaufsicht offenbart. Ich zitiere aus dem Beitrag Ein albtraumhaftes Dilemma in Zeiten von Corona: Menschen in Pflegeheimen, der hier am 2. September 2020 (!) veröffentlicht wurde:

Nun ist das mit den Heimaufsichten so eine Sache. Schon in der Zeit vor Corona gab es eine aufgeladene Debatte über das Kontrollversagen mancher Heimaufsichten – als besonderes und für viele kommunalisierte System so typische Problem kommt hinzu, dass wir mit einer enormen Streuung hinsichtlich der strukturellen Voraussetzungen beispielsweise für Kontrollen konfrontiert sind … „Erhebliche Personalengpässe“ bei der Heimaufsicht ist ein wichtiges Thema – bei dem man zugleich zeigen kann, wie unerträglich groß die Spannweite ist hinsichtlich der Personalausstattung zwischen den Kommunen für diese so bedeutsame Arbeit.

➔ Beispiel Niedersachsen: »Die Heimaufsicht in Niedersachsen ist in einigen Landkreisen offenbar unterbesetzt. Das geht aus einer Antwort des Sozialministeriums auf eine Anfrage der FDP hervor. Nach Berichten über Patienten in einem Celler Pflegeheim, die brutal fixiert worden sein sollen und in ihren Ausscheidungen liegen gelassen wurden, fragte die FDP die Landesregierung, wie es um die Heimaufsicht im Land bestellt sei. In der Antwort wird deutlich, wie unterschiedlich die Heimaufsichten in Niedersachsen personell aufgestellt sind. Zwar schreibt das Sozialministerium, im Mittel sei ein Mitarbeiter einer Heimaufsicht für 30 Einrichtungen zuständig. Bei genauem Hinsehen allerdings offenbaren sich die Differenzen«, berichtet Christina Harland in ihrem Beitrag Heimaufsicht außer Kontrolle? Die folgende Abbildung visualisiert einmal die angesprochene Streubreite hinsichtlich der Personalausstattung der Heimaufsichten in einem Bundesland:

Das muss man nicht wirklich weiter kommentieren. 60 oder mehr als 70 Einrichtungen für eine Vollzeitstelle bei der Heimaufsicht – da kann man sich vorstellen, was dabei (nicht) herauskommt. Wir sind hier übrigens mit einem Phänomen konfrontiert, das wir auch in anderen Bereichen diskutieren bzw. beklagen müssen: einem eklatanten Staatsversagen bei der (Nicht-)Umsetzung der Schutzaufträge staatlicher Institutionen, wie wir es beispielsweise auch aus dem Arbeitsschutz kennen, man denke hier nur an die „Tönnies-Debatte“ (vgl. dazu den Beitrag Wenn man ein Kind groß ziehen kann, bis die Kontrolleure wieder vorbeikommen. Das Staatsversagen beim Arbeitsschutz geht weiter vom 5. Mai 2020 sowie bereits Der Arbeitsschutz zwischen Staatsversagen und „Vision Zero“, ein Beitrag, der hier am 23. August 2018 veröffentlicht wurde).

Es ist, das sei hier nur angemerkt, vollkommen klar, dass Kontrollen immer als eine zusätzliche Belastung und Einschränkung verstanden werden – gerade von denen, die versuchen, eine gute Arbeit abzuliefern. Was dann noch verstärkt wird, wenn die Art und Weise der Kontrollen, beispielsweise nur eine Aktenprüfung, als sinnwidrig verstanden wird. Aber zur Professionalität gehört eben auch, dass man in der Altenpflege zur Kenntnis nehmen muss, dass es neben den vielen unter den herrschenden Bedingungen gut arbeitenden Heimen eben auch so einige ziemlich schwarze Schafe gibt, aus denen immer wieder von eklatanten Verletzungen einer halbwegs menschenwürdigen Pflege berichtet wird.

Soweit der Rückblick auf Ausführungen aus dem Herbst 2020.

Zurück in die Gegenwart: Schliersee 2.0?

In der Reportage des „Team Wallraff“ taucht nun aus diesen Tagen ein weiteres Heim an einem anderen Ort auf, bei dem es einen unmittelbaren Zusammenhang zu dem nach einer quälend langen Hängepartie nun endlich geschlossenen „Skandal-Heim“ in Schliersee gibt:

Am 9. Februar 2022 veröffentlichen Claudia Gürkov und Melanie Marks diesen Beitrag: „Das war ein Gefängnis“: Massive Pflegemängel in Augsburger Heim. Und man kann es gar nicht glauben, das lesen zu müssen: »Vier Monate nach Schließung der Seniorenresidenz Schliersee belegen BR-Recherchen: Auch im Augsburger Heim des Trägers gibt es massive Pflegemängel. Wieder geht es um unversorgte Wunden, falsche Medikamente, zu wenig Essen und Trinken und um Gewalt.«

»“Albtraum“ ist das erste Wort, das Nico in den Kopf schießt, wenn er an das Seniorenheim Ebnerstraße in Augsburg denkt. Nico war Pflegehelfer dort. Nach den Berichten zur Seniorenresidenz Schliersee hat er sich an BR Recherche gewendet, denn beide Heime haben denselben Träger und laut Nico dieselben Probleme. Wie in der inzwischen geschlossenen Einrichtung am Schliersee, erzählt er, hatten Bewohner in der Augsburger Einrichtung etwa meist Hunger, weil es zu wenig zu essen gab.
Nico kommt aus einem Kriegsgebiet, ist als Kind zu Fuß nach Deutschland geflüchtet. Was er in dem Augsburger Heim gesehen hat, wird er nie vergessen: „Das war einfach kein Altenheim, das war ein Gefängnis.“
Nico heißt eigentlich anders. Er ist einer von 14 Ex-Mitarbeitern des Heims, mit denen BR-Reporterinnen gesprochen haben. Sie alle haben Angst und wollen anonym bleiben. Sie alle schildern vergleichbare, schwere Missstände. Es sind Missstände, von denen auch bayerische Behörden wissen.«

Sind das mehr als Erzählungen einzelner „Ex-Mitarbeiter“? »Im Oktober 2021 kommt der Medizinische Dienst (MD Bayern) unangemeldet ins Heim. Die Prüfer wählen neun Bewohner für ihre Stichprobe aus. Das Ergebnis: Die Senioren bekommen teils zu wenig Essen und Trinken, einige sind ungepflegt und ungewaschen. Auch bei Medikamenten gibt es Defizite: Die Prüfer stoßen auf falsche oder fehlende Arzneimittel. Sie entdecken bei einem Patienten eine unversorgte Wunde, bei einem weiteren Schwellungen an den Unterschenkeln und verfärbte Füße. Die gravierenden Mängel sind aus Sicht der Prüfer nicht nur gefährlich für die Bewohner, sondern haben bereits Schäden verursacht. Das nichtöffentliche Protokoll liegt dem BR vor. Das Fazit: Die Pflege in dem Heim sei noch nicht sichergestellt.«

Das war im Oktober 2021. Es geht weiter: »Anfang Januar prüft der Medizinische Dienst das Heim erneut, auch dieser Bericht liegt dem BR vor: Die Prüfer protokollieren 22 sogenannte D-Bewertungen. Das steht für „Defizite mit eingetretenen negativen Folgen für die versorgte Person“. Bei der Prüfung im Oktober waren es noch zwölf.«

Die Prüfer sehen „Handlungsbedarf“. Das kann man wohl sagen.

Wo ist der Bezug zu Schliersee?

»Betreiber des Seniorenheims Ebnerstraße ist die S.O.Nursing Homes GmbH. Sie gehört zu Sereni Orizzonti, einem Konzern, der in Italien immer wieder Negativschlagzeilen macht. Die Firma betrieb auch die inzwischen geschlossene Seniorenresidenz Schliersee. Dieses Heim beschäftigt derzeit zwei Staatsanwaltschaften, die Zentralstelle zur Bekämpfung von Korruption und Betrug im Gesundheitswesen (ZKG) in Nürnberg sowie die Staatsanwaltschaft München II. Es geht um den Verdacht auf Abrechnungsbetrug und um mutmaßliche Körperverletzungsdelikte an 88 Bewohnern sowie 17 Todesfälle.«

Und nicht nur die Trägerschaft: »Rund 20 ehemalige Bewohner der Seniorenresidenz Schliersee sind in das Augsburger Heim gezogen. Der Träger hatte im Vorfeld mit Rabatten geworben, entsprechende Schreiben liegen dem BR vor. Auch das Personal ist teils identisch: Der derzeitige Heimleiter in Augsburg war über Monate hinweg für die Seniorenresidenz Schliersee verantwortlich. Außerdem sind einige Mitarbeiter nach BR-Informationen nach Augsburg gewechselt.«

Moment, was ist eigentlich mit den Aufsichtsbehörden? Auch die tauchen in dem Bericht wieder auf, in der altbekannten Verhaltensweise des Nichts-Tun und erneut werden wir Zeugen des Dauer-Verweis auf die Verantwortlichkeit einer anderen Stelle:

»Seit Mai 2021, schreibt die Fachstelle Pflege- und Behinderteneinrichtungen – Qualitätsentwicklung und Aufsicht (FQA), werde das Seniorenheim Ebnerstraße intensiv mit Beratungen begleitet. Angesiedelt ist die Heimaufsicht bei der Stadt Augsburg. Wie oft die Heimaufsicht kontrollierte, beantwortet die Stadt Augsburg nicht. Sie verweist darauf, dass Kontrollbesuche unangekündigt stattfinden.
Doch wie im Fall der Seniorenresidenz Schliersee berichten frühere Mitarbeiter, dass die Heimleitung vorab wusste, wann die Heimaufsicht und der Medizinische Dienst zur Kontrolle kommen würden. Dann wurde das Heim für die Prüfer vorbereitet, sagen sie.
Die Regierung von Schwaben als direkte Aufsichtsbehörde der Heimaufsicht bestätigt auf Anfrage die Missstände in dem Heim: Diese seien bekannt, die Zuständigkeit aber liege bei der Heimaufsicht.«

Wieder einmal erleben wir dieses fatale System organisierter Nicht-Verantwortlichkeit in unserem Land. Wohlgemerkt, bei wahrhaft existenziellen Fragen.

Das Problem wird auch von anderen auf- und angegriffen: Die Pflegewissenschaftlerin Martina Hasseler wird mit den Worten zitiert, »dass es ein systemisches und strukturelles Problem ist, das wir dringend angehen müssen.« So der Beitrag Pflegemängel: Expertin beklagt strukturelles Problem. »Der Medizinische Dienst im Auftrag der Pflegekassen, und die Heimaufsicht als behördliche Institution der Länder sollten bei der Prüfung zusammenwirken, um eine schlechte Pflege eigentlich zu verhindern, so Hasseler. Aber: „Sie sehen ja auch nur das, was dokumentiert ist und was sie in den ein oder zwei Tagen auch nur sehen.“ Sie hätten auch nicht die Instrumente, um sofort zu verhindern, dass ein Heim so weiterarbeitet wie bisher.«

Florian Fuchs und Matthias Köpf zitieren schon in der Überschrift ihres Artikels über die aktuellen Ereignisse in Augsburg den pflegepolitischer Sprecher der Landtags-Grünen in Bayern, Andreas Krahl: „Wie viele Skandale will die Staatsregierung noch abwarten, bis sie handelt?“ Laut Krahl sei es ein „Armutszeugnis, dass es ein Jahr nach dem Fall Schliersee noch immer keine konkreten Verbesserungsvorschläge für die Kontrolle von Pflegeeinrichtungen gibt“.

Wohlgemerkt – die Problematik des offensichtlichen und seit Jahren beklagten Staatsversagens beim Schutz der ausgelieferten Bewohner von Pflegeeinrichtungen (und der Fokus liegt dabei immer auf den „klassischen“ Pflegeheimen, aber das Problem stellt sich ebenfalls und möglicherweise (?) noch weitaus dramatischer in den „unsichtbaren“ Bereichen der stark expandierenden Wohnformen zwischen ambulant und stationär oder der häuslichen Pflege) ist nur eine Dimension des großen Ganzen, das hier endlich auch in seiner Gesamtheit angegangen werden muss.

Und eine offene, vor allem kritische Diskussion und Diagnose, wer wie und wo beiträgt zu den von allen beklagten, dann aber gerne schnell wieder verdrängten Schreckensbildern aus den Einrichtungen in Verbindung mit endlich verbindlichen Entscheidungen, wie auf diese komplizierte Gemengelage reagiert werden kann und muss, ist mehr als überfällig. Dabei geht es auch, aber eben nicht nur um die Frage, wie man die toxischen Effekte außer Kontrolle geratener Geschäftsmodelle einer renditeorientierten Ausgestaltung der Pflege und Betreuung in den Griff bekommen bzw. schlichtweg unterbinden kann, oder wie man endlich eine klare Verantwortlichkeit (vor Ort) für den Zustand der pflegerischen Versorgung hinbekommt, sondern angesichts der Verschränkung des individuellen und kollektiven Versagens, die ganzheitlich in den Blick genommen werden muss, sollte auch die individuelle Verantwortung derjenigen adressiert werden, die rund um die Uhr an jedem Tag eines Jahres am und mit den Bewohnern arbeiten müssen. Und dabei sind dann eben auch solche Zusammenhänge zu diskutieren: Aufgrund der Veränderung der Bewohnerschaft in vielen Heimen (ein immer späterer Heimeintritt, eine deutliche Verschiebung hin zu höheren Pflegeintensitäten, oftmals nur noch kurze Verweildauer in den Heimen, ein sehr großer Anteil demenziell erkrankter Menschen) muss die Fachlichkeit in den Einrichtungen der Langzeitpflege deutlich steigen – aber nicht noch weiter als sowieso schon passiert abgesenkt werden! Genau diesen falschen Weg befördert man aber, wenn auch von wissenschaftlicher Seite aus in Auftragsstudien behauptet wird, man brauche zwar deutlich mehr Personal in den Pflegeheimen, aber das könnte auch Un- und Angelernte sein, die weniger werdenden Fachkräfte könnten sich dann auf ihre (tayloristisch ermittelten) angeblichen Kernaufgaben konzentrieren und würden „entlastet“. Damit kann und wird man sich im Ergebnis ins eigene Knie schießen. Und bereits heute ist doch die wirkliche Wirklichkeit von einem ständigen Unterlaufen der minimalen Standards geprägt, was auch beiträgt zu den an anderer Stelle dann beklagten strukturellen Missständen. Man nehme nur als eines von vielen Beispielen diese Meldung: Viele Pflegeheime unterschreiten Fachkräftequote. Am Beispiel Thüringen erfahren wir: »Der für Pflegeheime geltende Mindestanteil von Fachkräften unter den Beschäftigten wird in Thüringen nach Angaben des Sozialministeriums in fast 40 Prozent der Einrichtungen nicht erreicht. In 129 der 328 Heime sind weniger als die Hälfte des dortigen Pflegepersonals ausgebildete Fachkräfte, wie das Ministerium auf Anfrage … mitteilte. Darunter sind 49 Einrichtungen, die sogar nur zwischen 30 und 45 Prozent Fachpersonal beschäftigen.« Die Werte stammen aus dem Januar dieses Jahres. Zur Einordnung: »Das Pflegepersonal in Altenheimen muss normalerweise zu 50 Prozent aus Fachkräften bestehen.« Wie ist die Reaktion eines Teils der Betreiber von Pflegeeinrichtungen? »Die privaten Pflegeanbieter in Thüringen fordern seit Jahren eine Lockerung der Quote und plädieren stattdessen für den verstärkten Einsatz von Hilfspersonal. Die Thüringer Arbeiterwohlfahrt (AWO) kann sich nach Angaben einer Sprecherin perspektivisch auch eine vom Pflegebedarf der Heimbewohner abhängige flexible Personalbesetzung statt einer starren Quote vorstellen.«