Am 23. September 2018 konnte man hier in dem Beitrag Der Arbeitsschutz zwischen Staatsversagen und „Vision Zero“ lesen: »Das sind harte Vorwürfe: Deutschland gehöre beim Arbeitsschutz zu den Schlusslichtern in Europa. Das habe der Sachverständigen-Ausschuss des Europarates festgestellt, der in allen Ländern die Einhaltung der sozialen Standards überprüft: „2014 hat der Sachverständigen-Ausschuss zum ersten Mal festgestellt, dass Deutschland im Arbeitsschutz nicht mehr den vorgeschriebenen Standard erreicht. Und wir haben uns eingereiht bei Bulgarien und Ungarn. Und das ist allerdings in Deutschland wenig zur Kenntnis genommen worden.“ So … Wolfhard Kohrte von der Universität Halle-Wittenberg. Er sieht darin ein Staatsversagen.«
Und damals wurde berichtet: »In allen Bundesländern – die für den Arbeitsschutz zuständig sind – wurden bei den Arbeitsschutzbehörden massiv Stellen abgebaut. Folge: Von Jahr zu Jahr finden weniger Betriebskontrollen statt. Seit Mitte der 1990er Jahre ging die Zahl um zwei Drittel zurück, obwohl es immer mehr Betriebe und Vorschriften gibt.«
Man könnte hoffen, dass sich zwischenzeitlich die Dinge in diesem für Arbeitnehmer so wichtigen Bereich zum Besseren entwickelt haben. Haben sie aber nicht, wenn man sich die Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage im Bundestag anschaut.
»Die Zahl der Arbeitsschutzkontrollen in deutschen Betrieben ist weiter gesunken. Im Jahr 2018 machten die zuständigen Länderbehörden 167.000 Betriebsbesichtigungen – nach 183.000 Kontrollen im Jahr 2017. Das geht aus einer Antwort der Bundesregierung auf eine Kleine Anfrage der Linksfraktion hervor«, so diese Meldung: Zahl der Arbeitsschutzkontrollen in Betrieben sinkt weiter. »Der Abstand bis zu einer erneuten Kontrolle eines Betriebs verlängerte sich im Schnitt von zuvor 22,5 Jahren auf 25 Jahre.« Bis dahin könnte man ein Kind aufziehen und aus dem Hotel Mama entlassen. Wobei man sich wie bei so vielen anderen Dingen auch, sehr gut überlegen sollte, in welchem Bundesland man das Kind groß ziehen will: »Am kürzesten ist der Takt nach den jüngsten Daten für 2018 in Mecklenburg-Vorpommern mit im Schnitt 5,5 Jahren. Am längsten ist der Abstand bis zum nächsten Kontrollbesuch im Saarland mit zuletzt durchschnittlich 47 Jahren.« Da kann man im Saarland nur hoffen, dass es sich nicht um einen Nesthocker handelt.
Und man muss zur Kenntnis nehmen, dass sich das in den vergangenen Jahren kontinuierlich verschlechtert hat:
Das sind mehr als erschreckende Zahlen. Eine detaillierte Übersicht zu den aktuellen Werten findet man in dieser Antwort der Bundesregierung auf eine Anfrage der Bundestagsfraktion der Linken:
➔ Entwicklung der Arbeitsschutzkontrollen in Deutschland, Bundestags-Drucksache 19/18811 vom 22.04.2020
Aber was ist dieser Arbeitsschutz eigentlich?
»Historisch bedingt ruht der Arbeitsschutz in Deutschland auf zwei Säulen: dem staatlichen System des Arbeitsschutzes … und dem System der Unfallversicherungsträger. Auch letztere überwachen die Einhaltung des Arbeitsschutzes und wirken über Unfallverhütungsvorschriften sowie die entsprechenden technischen Richtlinien und Regeln normsetzend … Als Versicherer haben sie ein originäres Interesse an der Senkung von Kosten für Rehabilitationsmaßnahmen und Entschädigungen. Beide Säulen entwickelten sich im 19. Jahrhundert in der Reaktion auf die Gesundheitsgefahren und Unfallrisiken der neu entstehenden Großindustrie. Der Arbeitsschutz fällt in die Zuständigkeit des Bundesarbeitsministeriums, gehört jedoch zu den föderal organisierten Politikfeldern, d. h. vollzogen werden die Überwachungs- und Beratungsaufgaben der Aufsicht von unterschiedlich institutionalisierten Gewerbeaufsichtsämtern oder Ämtern für Arbeitsschutz auf Landesebene … Die Arbeit der Bundesländer wird über den Länderausschuss für Arbeitsschutz und Sicherheitstechnik (LASI) koordiniert, der unter anderem die Beratungen der Arbeits- und Sozialministerkonferenz (ASMK) vorbereitet. Als staatliche Behörde darf die Arbeitsschutzaufsicht jederzeit unangemeldet Betriebe besichtigen, Betriebsanlagen, Arbeitsmittel, Arbeitsabläufe und Schutzausrüstungen prüfen sowie Messungen durchführen. Auf Arbeitsschutzmängel und Rechtsverstöße kann sie mit abgestuften Maßnahmen reagieren, die bis zu Ordnungswidrigkeitenverfahren bzw. der Abgabe an die Staatsanwaltschaft reichen … Außerdem gibt es Kontrollrechte für angeordnete Maßnahmen zur Mängelbehebung. (Anne Goedicke et al.: Was ist heute noch ein Tagewerk? Hohe Arbeitsintensität und Arbeitsschutz, in: WSI-Mitteilungen, Heft 1/2020, S. 57).
Mit dem Arbeitsschutzgesetz (ArbSchG) wurde im Jahr 1996 ein System der Rechtssetzung für den Arbeitsschutz in Deutschland geschaffen. Konkretisiert wird das Gesetz durch Verordnungen, die verschiedene Aspekte des Arbeitsschutzes regeln. In der gemeinsamen Deutschen Arbeitsschutzstrategie (GDA) werden die geltenden Gesetze in Form von Leitlinien für die Anwender in den Betrieben handhabbar gemacht. Die Einhaltung dieser Regeln muss durch ein effektives Aufsichtssystem sichergestellt werden – aber da hapert es ordentlich: Schon seit Jahren gibt es Hinweise auf Missstände bei den Arbeitsschutzkontrollen in Deutschland: Immer weniger Personal führt in immer weniger Betrieben immer seltener Arbeitsschutzkontrollen durch.
Das ist auch nicht überraschend, wenn man sich einmal das Personal für den staatlichen Arbeitsschutz in den Bundesländern anschaut – und das vergleicht mit den Beschäftigten, die durch die Arbeit geschützt werden sollen:
Übrigens: 2007 gab es noch 3.340 Aufsichtsbeamte in den Bundesländern (für weniger Beschäftigte), so die Bundestags-Drucksache 19/7218 vom 22.01.2020, Tabelle 1, S. 5. Und bekanntlich sollte man sich nicht nur auf die nackten Zahlen verlassen, wenn auch die schon allein traurig genug sind. »Die Bundesregierung beobachtet, dass das Personal der Aufsichtsbehörden der Länder zunehmend – je nach Land in unterschiedlichem Umfang – Aufgaben ergänzend zum Arbeitsschutz bzw. außerhalb des Arbeitsschutzes wahrnimmt, z. B. Umweltschutz, Immissionsschutz, Marktüberwachung.« (S. 3). Wohlgemerkt, das ist die Antwort der Bundesregierung.
Und nicht nur das. Die Bundesregierung hat bereits im vergangenen Jahr hervorgehoben: »Es ist in den letzten 20 Jahren zu einer erheblichen Expansion der Aufgaben der Arbeits(schutz)aufsicht gekommen.« Also bei rückläufigen Zahlen im Aufsichtsbereich und gleichzeitig einer Verwässerung der Kerntätigkeiten des Personals.
Vor diesem Hintergrund bleibt es dabei, was bereits 2018 bilanziert wurde: »… dass die enorme Zersplitterung der Arbeitsschutzlandschaft und das föderale Durcheinander mit dazu beitragen, dass wir erhebliche strukturelle Probleme zuungunsten der Arbeitnehmer zu verzeichnen haben und dass wir wieder einmal lernen müssen, wie wichtig eine „große Lösung“ wäre, also eine schlagkräftige Arbeitsbehörde zu schaffen und zu haben, die alle Teilbereiche vernünftig und mit entsprechendem Organisationswissen hinterlegt bearbeiten müsste. Das wäre eigentlich eine Aufgabe für eine große Koalition (gewesen), aber die ist ja mit anderen Dingen beschäftigt.«