Das sind harte Vorwürfe: Deutschland gehöre beim Arbeitsschutz zu den Schlusslichtern in Europa. Das habe der Sachverständigen-Ausschuss des Europarates festgestellt, der in allen Ländern die Einhaltung der sozialen Standards überprüft: „2014 hat der Sachverständigen-Ausschuss zum ersten Mal festgestellt, dass Deutschland im Arbeitsschutz nicht mehr den vorgeschriebenen Standard erreicht. Und wir haben uns eingereiht bei Bulgarien und Ungarn. Und das ist allerdings in Deutschland wenig zur Kenntnis genommen worden.“ So ein O-Ton von Wolfhard Kohrte von der Universität Halle-Wittenberg. Er sieht darin ein Staatsversagen.
Es geht hier im wahrsten Sinne des Wortes um Leben oder Tod, denn der Arbeitsschutz hat auch die Aufgabe, tödliche Arbeitsunfälle zu vermeiden. Deutschlandweit kommen durchschnittlich an jedem Arbeitstag zwei Menschen bei Betriebsunfällen ums Leben. Ihre Zahl ist 2017 gegenüber dem Vorjahr um sechs Prozent gestiegen. Und das muss auch vor diesem Hintergrund gesehen werden: In allen Bundesländern – die für den Arbeitsschutz zuständig sind – wurden bei den Arbeitsschutzbehörden massiv Stellen abgebaut. Folge: Von Jahr zu Jahr finden weniger Betriebskontrollen statt. Seit Mitte der 1990er Jahre ging die Zahl um zwei Drittel zurück, obwohl es immer mehr Betriebe und Vorschriften gibt.
Darüber hat das ARD-Wirtschaftsmagazin „Plusminus“ in dem Beitrag Arbeitsschutz: Sparen auf Kosten der Sicherheit berichtet. Darin findet man auch dieses Beispiel: Auf dem Bau kann ein Unfall schnell schlimme Folgen haben. Doch Kontrollen finden nur selten statt, denn das nötige Personal fehlt, wie Michael von Koch, Leiter der Gewerbeaufsicht Stuttgart, erläutert: „Ich fühle mich ziemlich hilflos, weil ich nicht die nötige Aufsicht durchführen kann. Wir haben in Stuttgart 21.000 Baustellen im Jahr und davon können wir 30 kontrollieren. Das ist kein Verhältnis, wo man sagen kann, da gibt es einen Überwachungsdruck auf die Bauunternehmer.“
Die Berichterstattung hat einige Wellen geschlagen. So berichtet der SWR unter der Überschrift Versagt der staatliche Arbeitsschutz in Rheinland-Pfalz?: »Zu wenig Personal, zu wenig Kontrollen: Der Arbeitsschutz in rheinland-pfälzischen Firmen wird laut Experten zu wenig kontrolliert – mit fatalen Folgen für die Gesundheit.« Und: 2017 starben nach Angaben der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung bei Arbeitsunfällen in Rheinland-Pfalz 20 Menschen. »An Arbeitsschutzgesetzen mangelt es in Rheinland-Pfalz wie auch in anderen Teilen Deutschlands zwar nicht. Doch Experten beklagen, dass es an Personal mangele, um deren Einhaltung systematisch kontrollieren zu können. „In Rheinland-Pfalz ist über viele Jahre Personal abgebaut worden“, kritisiert der Vorsitzende des Bundes der technischen Beamten, Jens Seidel. Die Kontrollen des Arbeitsschutzes könnten „nicht mehr angemessen“ wahrgenommen werden. Vor allem kleinere und mittlere Firmen müssten kaum noch mit einer Revision rechnen. Darum brauche es mehr Personal in den Gewerbeaufsichtsämtern, fordert Seidel. Und zwar mit einer hochqualifizierten Ausbildung. „Trainee on the Job reicht da nicht aus“, so Seidel.« Zuständig für den Arbeitsschutz sind die Bundesländer – was also sagt die Landesregierung von Rheinland-Pfalz? »Die Landesregierung teilte dem SWR auf Anfrage mit, aufgrund der finanziellen Haushaltssituation und Sparvorgaben sei die Zahl der für die Gewerbeaufsicht zuständigen Beschäftigten in den vergangenen Jahren zurückgegangen. Zugleich seien aber im Zuge neuer Richtlinien und Verordnungen neue Aufgaben hinzugekommen. Im nächsten Doppelhaushalt plane die Landesregierung eine personelle Verstärkung bei den Gewerbeaufsichten ein, die auch für den Arbeitsschutz vorgesehen seien.« Also irgendwann wird (vielleicht) mal wieder was besser. Aber darauf wetten sollte man nicht.
Nun ist der Arbeitsschutz, über den das ARD-Wirtschaftsmagazin „Plusminus“ berichtet hat, eingebettet in eines dieser für Deutschland so typischen vielgestaltigen Systeme mit mehreren Akteuren, die alle irgendwie beteiligt sind oder sein sollen an der Aufgabe, ein Auge auf den Arbeitsschutz zu werfen. Da gibt es ja auch noch die Gesetzliche Unfallversicherung – und die ist offensichtlich not amused über die Vorwürfe in den Medien. Also hat der stellvertretende Hauptgeschäftsführer der Deutschen Gesetzlichen Unfallversicherung (DGUV), Walter Eichendorf, ein Statement abgegeben, von seinem Haus unter diese Überschrift gestellt: Eichendorf: „Deutschland keinesfalls Schlusslicht beim Arbeitsschutz“, die sich mal wieder dadurch auszeichnet, dass man nichts zu den konkreten und mit Zahlen hinterlegten Vorwürfen eines Staatsversagens sagt, sondern stattdessen auf die (tatsächlichen oder angeblichen) Aktivitäten der eigenen Organisation hinweist, die als Teil der Sozialversicherung neben dem staatlichen Arbeitsschutz steht: Die Aussage, »Deutschland sei das Schlusslicht in Sachen Arbeitsschutz, ist jedoch unseriös. Laut einer weltweiten Recherche des Arbeitsministeriums von Singapur ist Deutschland nur eines von vier Ländern auf der Welt, die nachhaltig über mehrere Jahre weniger als einen tödlichen Arbeitsunfall pro 100.000 Beschäftigte erreicht haben.« Und was die Arbeitsunfälle angeht, hat man sich offensichtlich sogar eine „Vision Zero“ als Zielmarke gesetzt: Für »die Vision Zero gehen allein auf Seiten der Berufsgenossenschaften und Unfallkassen jeden Tag über 2.500 Präventionsfachleute in die Betriebe. Die gesetzliche Unfallversicherung schult jedes Jahr fast 400.000 Menschen in Fragen der Sicherheit und Gesundheit und weitere 2 Millionen in Fragen der Ersten Hilfe am Arbeitsplatz.«
Das mag ja alles sein und ist sicher prima facie ohne Kenntnis der Effektivität der Arbeit der angesprochenen Aktivitäten lobenswert – aber es ändert nichts an dem Befund, dass auf Seiten der staatlichen Aufsicht ein eklatantes Aufsichtsversagen zu diagnostizieren ist. Aufgrund einer primär haushaltspolitisch motivierten Sparpolitik der vielen letzten Jahre, die man auch aus ganz anderen Bereichen kennt.
Man könnte an dieser Stelle den gesetzlichen Mindestlohn als Beispiel nennen. Auch dort wird seit langem ein erhebliches Kontrolldefizit beklagt – dafür zuständig ist die Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) des Zolls. Und schon vor Jahren wurden dem Zoll zusätzliche Stellen versprochen, um die massive Zunahme der eigentlich erforderlichen Prüfungen bewältigen zu können. Das ist u.a. Thema einer öffentlichen Anhörung im Ausschuss für Arbeit und Soziales des Deutschen Bundestages am 24. September 2018. Da geht es neben Anträgen der Linksfraktion auch um einen Antrag der Grünen: „Mindestlohn erhöhen und für alle konsequent durchsetzen“, so ist der überschrieben (BT-Drs. 19/975 vom 28.02.2018). Darin findet man diese Hinweise:
»Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung geht in seiner Studie (Dezember 2017) davon aus, dass 1,8 Millionen Beschäftigte den Mindestlohn nicht erhalten, und eine weitere Studie der Hans-Böckler-Stiftung (Januar 2018) spricht sogar von 2,7 Millionen Beschäftigen. Das macht deutlich, dass der Mindestlohn endlich konsequent durchgesetzt werden muss. Entscheidend dafür sind effektive Kontrollen und dafür ist eine ausreichende Personalausstattung bei der Finanzkontrolle Schwarzarbeit (FKS) erforderlich. Aktuell verfügt die FKS nur über 7.211 Planstellen, von denen aber nur 6.429 besetzt sind … Damit sind erst 200 der versprochenen 1.600 neuen Stellen zur Kontrolle des Mindestlohns bei der FKS angekommen. Es ist höchste Zeit, dass die FKS personell besser ausgestattet wird und die Kontrollen intensiviert werden, denn nur so können Kontrollen ihre präventive Wirkung entfalten.« Die Stellungnahmen der geladenen Sachverständigen dazu findet man in der Ausschussdrucksache 19(11)117 vom 20.09.2018.
Zum Themenfeld Arbeitsschutz gehört natürlich auch der Schutz der Arbeitnehmer im Bereich der Arbeitszeiten – was dann nicht selten in einem Zusammenhang steht mit dem Thema Einhaltung der Mindestlohnvorschriften. Dazu dann solche Meldungen: Millionen unbezahlte Überstunden: Schutzvorschriften im Arbeitsrecht massiv missachtet. So seien im ersten Halbjahr 2018 bundesweit etwa 500 Millionen unbezahlte Überstunden geleistet, kritisiert die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG) unter Verweis auf aktuelle Zahlen des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung. Häufig diene die Mehrarbeit ohne Entgelt dazu, das Mindestlohngesetz zu unterlaufen.
»Zwar sieht das Mindestlohngesetz für solche Verstöße Bußgelder von bis zu 500.000 Euro vor, der Abschreckungseffekt geht nach Ansicht der NGG-Vorsitzenden Michaela Rosenberger aber dennoch gegen Null. Denn die Zahl der Kontrollen nimmt nicht zu, sondern ab, wie die Bundesregierung auf Anfrage der Linken im Bundestag einräumen musste. Danach haben die Arbeitsschutzbehörden der Bundesländer im vergangenen Jahr nur mehr 15 200 Kontrollen des Arbeitszeitgesetzes durchgeführt. Das waren 21 Prozent weniger als 2016 und sogar 41 Prozent weniger als 2010 vor Einführung des Mindestlohns.
Rein rechnerisch habe damit jedes der rund 3,5 Millionen Unternehmen in Deutschland nur alle 230 Jahre mit einer amtlichen Kontrolle der Arbeitszeitbestimmungen zu rechnen. „Das Arbeitszeitgesetz als eines der wichtigsten Schutzgesetze für Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer in Deutschland wird so zu einem zahnlosen Papiertiger“, kritisiert Rosenberger.«
Und mit Blick auf die Zukunft muss man eindeutig konstatieren, dass wir nicht ein weniger an Kontrollen brauchen, sondern mehr davon. Man denke nur an die Folgen der Digitalisierung und des damit verbundenen Zugriffs auf einen Teil der Beschäftigten, für die sich Arbeitsorte und Arbeitszeiten immer mehr auflösen. Oder an die Tatsache, dass die Baby Boomer in den Belegschaften schon heute die Mehrheit bilden und angesichts der rentenrechtlichen Restriktionen wie der Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters auch überwiegend gezwungen sein werden, in den kommenden Jahren bis 67 oder vielleicht noch länger arbeiten zu müssen. Hier besteht ein ganz erheblicher Schutzbedarf, zu dem eben auch ausreichende Prüfungen und Kontrollen gehören – gerade um die schwarzen Schafe auf der Unternehmensseite beeindrucken zu können. Heute kann man das sicher nicht, heute werden die nur ein müdes Lächeln übrig haben.
Schlussendlich könnte man in der Bilanz auch darauf hinweisen, dass die enorme Zersplitterung der Arbeitsschutzlandschaft und das föderale Durcheinander mit dazu beitragen, dass wir erhebliche strukturelle Probleme zuungunsten der Arbeitnehmer zu verzeichnen haben und dass wir wieder einmal lernen müssen, wie wichtig eine „große Lösung“ wäre, also eine schlagkräftige Arbeitsbehörde zu schaffen und zu haben, die alle Teilbereiche vernünftig und mit entsprechendem Organisationswissen hinterlegt bearbeiten müsste. Das wäre eigentlich eine Aufgabe für eine große Koalition (gewesen), aber die ist ja mit anderen Dingen beschäftigt.