Großbritannien: Der Markt regelt das (nicht). Personalvermittler für Pflegekräfte treiben ihre Preise für den Verleih von Pflegekräften nach oben

Der eine oder andere wird sich daran erinnern – noch vor dem Ausbruch der Corona-Krise gab es hier bei uns in Deutschland eine Debatte über die sich ausbreitende Leiharbeit in der Pflege. Kliniken und Pflegeheime berichteten, dass sie zunehmend darauf angewiesen seien, Personallücken über Zeit- bzw. Leiharbeit zu füllen. Und zugleich gab es zahlreiche Berichte, dass Pflegekräfte bewusst in die Leiharbeit abgewandert sind, weil sie dort – entgegen dem üblichen Image der Branche – bessere Arbeitsbedingungen für sich selbst finden, also was sowohl die Bezahlung, wie auch die Dienstzeiten angeht. Zugleich standen und stehen die Betreiber von Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen vor dem Problem, dass die Kosten für die Leiharbeitskräfte ganz erheblich sind, denn die Verleiher lassen sich das einschließlich ihrer Gewinne entsprechend bezahlen. Die Debatte im Herbst 2019 und Anfang 2020 mündete dann in Forderungen an den und aus dem politischen Raum, Leiharbeit in der Pflege zu verbieten.

➔ Wer die damalige Diskussion nachvollziehen möchte, dem seien die Beiträge „Gute Leiharbeit“? Zur medialen und tatsächlichen Bedeutung der Leiharbeit in der Kranken- und Altenpflege vom 23.09.2021, Ein Teil der Pflegekräfte „flieht“ in die Leiharbeit, Betreiber von Kliniken und Pflegeheimen sind sauer und die Berliner Gesundheitssenatorin will Leiharbeit in der Pflege verbieten? Ein Lehrstück vom 01.11.2019 sowie Aus der mal nicht eindeutigen Welt der Leiharbeit. In der Pflege. Oder: Wenn ausnahmsweise Arbeitgeber vor Leiharbeitern geschützt werden sollen vom 23.01.2020 empfohlen.

Aus einem Verbot der Leiharbeit in der Pflege ist – wie bereits damals vorausgesagt – nichts geworden. Und man kann sich gut vorstellen, dass die Belastungen und Verwerfungen durch die Corona-Pandemie den Trend in die Leiharbeit sogar noch vorangetrieben haben.

Aber nicht nur bei uns ist das und die damit verbundenen Probleme ein Thema. Auch auf der Insel, in Großbritannien, wird darüber intensiv diskutiert.

Personalvermittlungsagenturen verdreifachen die Tarife, während Pflegeheime und der NHS um Pflegekräfte kämpfen

Der Mangel an Pflegekräften ermöglicht es gewinnorientierten Personalvermittlungsagenturen, ihre Preise zu verdreifachen. Dadurch steigt das Risiko, dass schutzbedürftige Patienten gezwungen sind, in ein anderes Pflegeheim umzuziehen, und die Belastung für den staatlichen Gesundheitsdienst steigt. Das berichtet James Tapper in seinem Artikel Staffing agencies triple rates as care homes and NHS fight over nurses. Dort findet man nicht nur ein englisches Pendant zur deutschen Debatte über Leiharbeit in der Pflege, sondern auch einige aufschlussreiche Zahlen, einschließlich der Folgen der Corona-Pandemie, die dem schon vorher auch im Vereinigten Königreich vorhandenen Mangel an Pflegekräften einen weiteren Schub gegeben haben.

Tapper berichtet: Die Personalkrise zwingt einige Pflegeheime dazu, sich zu „standard residential care homes“ herunterzustufen, ohne eine pflegerische Unterstützung für entsprechend pflegebedürftige Menschen. Das wiederum hat Folgen in den Krankenhäusern, denn für die wird es schwieriger, pflegebedürftige Patienten zu entlassen, da die Kapazitäten im Pflegeheimbereich verringert werden.

Einige Krankenhäuser haben ihr eigenes Personal in Pflegeheime verlagert, um Betten in Krankenhäusern freizumachen. An anderen Orten konkurrieren die regionalen Ableger des National Health Service (NHS) mit Pflegeanbietern um Personal.

Tapper nennt in seinem Artikel ein Beispiel: Geoff Butcher von der Blackadder Corporation, die sechs Heime in den West Midlands betreibt, wird mit den Worten zitiert, »er zahle dem Pflegepersonal etwa 19,50 Pfund pro Stunde, etwas mehr als der NHS-Satz von 16,52 Pfund. „Zwei unserer Krankenschwestern haben kürzlich gekündigt und sind für 35 Pfund pro Stunde zu einer Agentur gegangen“, sagte er. „Und diese Agentur kam dann zu uns und sagte, dass wir diese Mitarbeiter für 52 Pfund pro Stunde wieder einstellen können. Sie wollen 95 Pfund pro Stunde für diese Krankenschwestern in der Nachtschicht an einem Feiertag. Das ist völlig unerschwinglich.«

Der NHS müsse für die Kliniken selbst auf die Agenturen zurückgreifen. »Der NHS bietet also gegen uns, was die Preise in die Höhe treibt, und das Ganze hat sich zu einer völlig verrückten Spirale entwickelt. Die Agenturen ziehen daraus einen riesigen Profit.«

„Wir müssen das vorhandene Personal bitten, mehr Schichten zu übernehmen und mit Leiharbeitern aufzufüllen. Wir versuchen, einen Weg zu finden, Leute aus dem Ausland anzuwerben, aber das dauert“, so Geoff Butcher von der Blackadder Corporation.

In ihrem Jahresbericht 2020/21* hat die Care Quality Commission auf den Fall eines „etablierten Pflegeheims“ hingewiesen, das sich abgemeldet hatte, weil es nicht genügend Pflegekräfte finden konnte, so dass 15 schutzbedürftige Bewohner gezwungen waren, ein neues Zuhause zu finden. In dem Bericht heißt es: „Sie sagten, dass es einen derartigen Mangel an Pflegekräften gebe (und die Gebühren für die Vermittlung von Pflegekräften gingen wöchentlich in die Tausende), dass es unhaltbar sei, die Pflege weiterhin anzubieten.“

*) Care Quality Commission (2021): The state of health care and adult social care in England 2020/21, London, October 2021

Nadra Ahmed, die Vorsitzende der National Care Association, wird mit den Worten zitiert: „Ich denke, die Agenturen haben die Gelegenheit genutzt, um ihre Preise in die Höhe zu treiben. Das ist der Effekt der Marktkräfte, und das ist wirklich besorgniserregend. Das ist Geschäftemacherei. Die Regierung muss eingreifen und das Geschehen eindämmen.“

Aber auch Nadra Ahmed von der National Care Association sieht die Ambivalenz der Flucht eines Teils der Pflegekräfte in die Leiharbeit: „You have an exhausted workforce, having come through Covid, when they were pretty much left on their own, and they have the option not to do it any more. They can choose not to work on Saturdays, or on nights. Agencies are aggressively recruiting and making money out of this, but you can see that some people do want a work-life balance.“

Und falls jemand auf den besonderen Brexit-Aspekt gewartet hat, hier kommt er: Sie sagt, der Sektor habe immer versucht, vor Ort zu rekrutieren, sei aber auf Arbeitskräfte aus dem Ausland angewiesen – und fügt hinzu: „Dieser Weg ist jetzt geschlossen und wir bekommen keine Leute mehr rein. Pflegekräfte stehen nicht auf der Liste der Mangelberufe“.

Die Personalnot wird auch auf der Insel durch Corona immer größer: Aus Daten von Skills for Care geht hervor, dass in den letzten zwölf Monaten 410.000 Menschen ihren Arbeitsplatz in der Pflege aufgegeben haben, ein gewaltiger Aderlass.

Pflegeanbieter sagen, dass sie nicht in der Lage sind, die Löhne zu erhöhen, um mit Einzelhändlern wie Amazon zu konkurrieren, da die Finanzierung für viele Menschen in der Pflege von der Regierung kommt. Das kennen wir aus Deutschland auch – mit den öffentlichen Mitteln, die den Pflegebedürftigen gewährt werden, können die höheren Kosten nicht refinanziert werden.

Der NHS England hat 2016 damit begonnen, die Kosten für Leiharbeitskräfte zu begrenzen, indem er zugelassene „Rahmen“-Agenturen einsetzt und die Rekrutierung über eine zentrale Stelle, dem NHS Professionals, abwickelt, obwohl die Kosten während der Pandemie erheblich gestiegen sind. Eddy McDowall, Geschäftsführer der Oxfordshire Association of Care Providers, wird in dem Artikel von Tapper mit dem Vorschlag zitiert, ein ähnliches System könne vom Ministerium für Gesundheit und Soziales auch für die Pflegeheime eingeführt werden, die bislang dem freien Markt ausgesetzt sind.

Und die auf dem „Markt“ verlangten Preise sind auch das Resultat des Wettbewerbs um das knappe Gut Pflegekräfte: „Ein verstecktes Problem ist die Abwerbung von Pflegekräften durch den NHS, entweder durch subtile Ermutigung oder durch offene Anwerbung“, so Eddy McDowall. „Eine wachsende Zahl von Pflegeheimen berichtet, dass Pflegekräfte aller Ebenen einfach kündigen und zu Akutkrankenhäusern gehen, die sie einstellen.“ Das nun ist ein Phänomen, das auch aus Deutschland berichtet wird, vor allem, seitdem die Kliniken jede zusätzliche Pflegekraft, die sie einstellen (können), auch voll gegenfinanziert bekommen (können).

Bleibt abschließend die Frage, was denn von den Verantwortlichen in der Regierung zu der Problematik gesagt wird und welche Lösungen präsentiert werden. Die in dem Artikel zitierten Ausführungen des zuständigen britischen Gesundheitsministeriums kommen einem in Deutschland irgendwie sehr bekannt vor:

„Wir arbeiten daran, sicherzustellen, dass wir über die richtige Anzahl von Pflegekräften verfügen, die über die nötigen Fähigkeiten verfügen, um eine qualitativ hochwertige Pflege zu leisten und den steigenden Anforderungen gerecht zu werden. Pflegeheime und Anbieter von häuslicher Pflege werden von einem neuen Fonds für Personalbindung und -rekrutierung in Höhe von 162,5 Mio. Pfund profitieren, um die Zahl der engagierten Pflegekräfte zu erhöhen.
Außerdem haben wir vor kurzem unsere Einstellungskampagne Made with Care gestartet, um Menschen für eine Karriere in der Pflege zu begeistern. Dies folgt auf die Ankündigung zusätzlicher Mittel in Höhe von 5,4 Mrd. Pfund für die Reform der Sozialfürsorge in den nächsten drei Jahren, einschließlich 500 Mio. Pfund zur Förderung der Ausbildung und der beruflichen Entwicklung der Arbeitskräfte.“