Selbstständig oder doch nicht? Von abhängigen Not- und weiteren Ärzten auf der einen und Chefdirigenten auf der anderen Seite

»Seit vielen, sehr vielen Jahren wird immer wieder auch vor Gericht darüber gestritten, ob jemand als „freier Mitarbeiter“ und damit als Selbstständiger arbeitet bzw. arbeiten kann – oder aber nicht. Denn dann handelt es sich um einen abhängig beschäftigten Arbeitnehmer, für den andere Spielregel gelten, beispielsweise müssen Sozialabgaben gezahlt werden und es wird ein Arbeitsverhältnis begründet, mit dem für den Arbeitgeber ganz andere Pflichten verbunden sind als wenn der einen Auftrag vergeben würde an einen (formal) selbstständigen Unternehmer (seiner selbst).« So beginnt der Beitrag Über einen unfreien, als freien Mitarbeiter deklarierten Physiotherapeuten und die Bedeutung eines Urteils für andere (nicht nur) Gesundheitsberufe, der hier am 1. Oktober 2021 veröffentlicht wurde. Darin ging es nicht nur um (scheinselbstständige) Physiotherapeuten, sondern auch um den allerdings gerichtlich zurückgewiesenen Versuch, „freiberufliche“ Pflegekräfte in Pflegeheimen und Kliniken, eingebettet in „normale“ Belegschaften und Abläufe, zu nutzen (vgl. dazu z.B. BSG Urteil vom 7.6.2019 – B 12 R 6/18 R – BSGE 128, 205 = SozR 4-2400 § 7 Nr 44).

Man ahnt bereits hier, dass wir uns in einer höchst umstrittenen, weil ganz unterschiedliche Interessen betreffende Zone befinden. Aus einer sozialstaatlichen Perspektive und damit nicht nur, aber auch mit Blick auf die immer noch überwiegend an die Löhne aus abhängiger Erwerbsarbeit gekoppelten Sozialversicherungsbeiträge wird man verhindern wollen, dass sich Arbeitgeber ihren Pflichten aus einem abhängigen Beschäftigungsverhältnis – und das sind nicht nur Finanzierungspflichten – dadurch zu entziehen versuchen, in dem sie an sich abhängige Arbeit in eine „selbstständige“ umetikettieren. Dahinter steht das legitime Interesse, Scheinselbstständigkeit zu verhindern.

Auf der anderen Seite geht es hierbei immer auch um die Perspektive von Selbstständigen, vor allem Solo-Selbstständigen, die nicht beschnitten werden möchten in ihrer Art und Weise der Erwerbsarbeit, die sich als Unternehmer ihrer selbst verstehen und die letztendlich auf die Freiheit der Wahl abstellen. Und dazu gehöre auch die Wahl, sich selbst zu verkaufen und eben nicht in ein von zahlreichen Regulierungen eingebettetes Arbeitsverhältnis bei einem „Arbeitgeber“ gezwungen zu werden.

Insofern kommt der Frage, ob es sich um ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis handelt oder eben nicht, eine entscheidende Bedeutung zu. Und für die Beantwortung dieser Frage hat man ein sogenanntes „Statusfeststellungsverfahren“ eingeführt.

➔ Mit dem Statusfeststellungsverfahren nach § 7a Abs. 1 Satz 1 SGB IV soll den Beteiligten Rechtssicherheit darüber verschafft werden, ob sie selbstständig tätig oder abhängig beschäftigt sind. Das Verfahren wird von einer Clearingstelle der Deutschen Rentenversicherung Bund durchgeführt. Beteiligte, die eine Statusfeststellung beantragen können, sind die Vertragspartner (z. B. Auftragnehmer und Auftraggeber). Jeder Beteiligte kann das Anfrageverfahren allein beantragen, die Beteiligten brauchen sich in der Beurteilung der Erwerbstätigkeit nicht einig zu sein.
➔ Über den sozialversicherungsrechtlichen Status einer Erwerbsperson kann aber auch im Rahmen einer einer Betriebsprüfung nach § 28p SGB IV entschieden werden, dann allerdings gibt es andere Bedingungen, was beispielsweise nachzuzahlende Sozialbeiträge aufgrund einer festgestellten Sozialversicherungspflicht der Beschäftigung angeht.

Man kann sich gut vorstellen, dass es bei solchen Verfahren immer jemanden gibt, der das Ergebnis für falsch halten wird. Deshalb überrascht es auch nicht (vor allem angesichts der teilweise erheblichen Kostenfolgen), dass immer wieder gegen Entscheidungen der Clearingstelle geklagt wird. Und manche Fälle erreichen dann das Ende des Instanzenzuges und landen vor dem Bundessozialgericht. Genau davon muss auch hier berichtet werden.

Welchen Charakter hat die Notärztin bzw. der Notarzt, also aus sozialversicherungsrechtlicher Sicht?

Sind Ärztinnen und Ärzte, die im Nebenjob immer wieder als Notärztin oder Notarzt im Rettungsdienst tätig sind, in dieser Tätigkeit sozialversicherungspflichtig beschäftigt? Diese Frage ist nach der Auseinandersetzung damit auf unteren Instanzen nunmehr beim Bundessozialgericht (BSG) gelandet.

Zum Sachverhalt berichtet das BSG: »Die beteiligten Ärztinnen und Ärzte übernahmen ab 2014 im Nebenjob immer wieder Dienste als Notärztin oder Notarzt. Grundlage waren Vereinbarungen zwischen ihnen und den Trägern des öffentlichen Rettungsdienstes. Dabei gingen die Beteiligten davon aus, dass die Tätigkeit freiberuflich beziehungsweise selbstständig erfolgen sollte. Während des Dienstes arbeiteten die Ärztinnen und Ärzte mit Personal der Kläger beziehungsweise Kommunen zusammen und nutzten deren Mittel, insbesondere Notarztfahrzeuge. Die beklagte Deutsche Rentenversicherung Bund stellte in allen Fällen Versicherungspflicht aufgrund Beschäftigung mit der Begründung fest, die Ärztinnen und Ärzte seien in den öffentlich-rechtlichen Notarztdienst eingegliedert gewesen.«

Nunmehr teilt uns das Bundessozialgericht am 19.10.2021 unter dieser Überschrift seine Entscheidung mit: Nebenjob als Notärztin oder Notarzt regelmäßig versicherungspflichtig aufgrund Beschäftigung. Also keine selbstständige Tätigkeit. Mit welcher Begründung?

»Ausschlaggebend ist, dass die Ärztinnen und Ärzte während ihrer Tätigkeit als Notärztin und Notarzt in den öffentlichen Rettungsdienst eingegliedert waren. Sie unterlagen Verpflichtungen, zum Beispiel der Pflicht, sich während des Dienstes örtlich in der Nähe des Notarztfahrzeuges aufzuhalten und nach einer Einsatzalarmierung durch die Leitstelle innerhalb einer bestimmten Zeit auszurücken. Dabei ist unerheblich, dass dies durch öffentlich-rechtliche Vorschriften vorgegeben ist. Zudem nutzten sie überwiegend fremdes Personal und Rettungsmittel. Dass es sich dabei in einem Fall nicht um Rettungsmittel des betroffenen Landkreises als Arbeitgeber, sondern der Stadt handelte, rechtfertigt keine andere Entscheidung. Denn der Arzt setzte jedenfalls keine eigenen Mittel in einem wesentlichen Umfang ein.«

Anhaltspunkte für eine selbstständige Tätigkeit wurden vom Gericht geprüft, fielen aber nicht entscheidend ins Gewicht.
➞ »Dass die Beteiligten davon ausgingen, die Tätigkeit erfolge freiberuflich beziehungsweise selbstständig, ist angesichts der Vereinbarungen und der tatsächlichen Durchführung der Tätigkeit irrelevant.«
➞ »Zudem konnten die Ärztinnen und Ärzte nur dadurch ihren Verdienst vergrößern und damit unternehmerisch tätig werden, indem sie mehr Dienste übernahmen. Während der einzelnen Dienste – und nur darauf kommt es an – hatten sie insbesondere aufgrund ihrer Eingliederung in eine fremde Organisation keine Möglichkeit, ihren eigenen Gewinn durch unternehmerisches Handeln zu steigern.«

Ganz offensichtlich hat das BSG die entsprechende Norm im Sozialgesetzbuch als zutreffend für den Sachverhalt der Notarzt-Tätigkeit interpretiert. Die findet man hier und wird auch vom Gericht zitiert:

§ 7 Abs. 1 SGB IV Beschäftigung
Beschäftigung ist die nichtselbständige Arbeit, insbesondere in einem Arbeitsverhältnis.
Anhaltspunkte für eine Beschäftigung sind eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers.

Immer wieder die Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers. Die spielt auch eine Rolle in einer anderen Fallkonstellation, die vom BSG entschieden wurde: Hier ging es um eine Ärztin, die in einer Gemeinschaftspraxis als Vertretungskraft selbstständig tätig sein wollte bzw. sollte. Das wurde seitens der Rentenversicherung verneint und ein abhängiges Arbeitsverhältnis festgestellt. Dagegen hatte die Gemeinschaftspraxis und auch die betroffene Ärztin geklagt. Von der Vorinstanz (Sozialgericht Frankfurt am Main – S 20 R 97/16, 02.11.2020) wurde das Verfahren per Sprungrevision dem BSG vorgelegt. Und das hat nun im Sinne der Rentenversicherung entschieden:

»Die Ärztin war insbesondere hinsichtlich der Zuweisung bestimmter Patienten weisungsgebunden. Aufgrund des arbeitsteiligen Zusammenwirkens mit dem Praxispersonal und der kostenfreien Nutzung von Einrichtungen und Mitteln der Gemeinschaftspraxis war sie in deren Arbeitsabläufe eingegliedert. Das ausschließliche Tätigwerden in einer Vertretungssituation ändert daran nichts. Der Eingliederung in einen fremden „Arztbetrieb“ kann es zwar entgegenstehen, wenn ein Arztvertreter für die Dauer seiner Tätigkeit die Stelle des Praxisinhabers einnimmt und zeitweilig selbst dessen Arbeitgeberfunktionen erfüllt. Das war hier aber nicht der Fall … (Die Ärztin) hat lediglich die ärztlichen Leistungen vertretungsweise erbracht und keine Vertretung in der Rechtsstellung der Mitglieder der Gemeinschaftspraxis geleistet.«

Auch hier erkennen wir erneut die Bedeutung des Aspekts „Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers“.

Ebenfalls im Sinne einer eindeutig abhängigen Beschäftigung entschied das BSG in zwei anderen Fällen, in denen es um Pflegekräfte ging – zum einen eine Altenpflegerin in der ambulanten Intensivpflege, die bei einem Pflegedienst beschäftigt ist (und die sich eben nicht selbstständig dort verkauft), zum anderen ging es um eine Pflegehelferin ebenfalls bei einem ambulanten Pflegedienst, bei der darauf hingewiesen wurde, dass sie privat versicherte Patienten versorgen würde, was aber seitens des BSG als nicht relevant für die statusrechtliche Frage beurteilt wurde.

Zu allen Fällen und den Entscheidungen des BSG vgl. den Terminbericht Nr. 37/21 des Bundessozialgerichts vom 20.10.2021.

Die Entscheidungen des BSG zu den Notärzten abrundet hier noch der Hinweis auf ein scheinbares Paradox. Hatte der Gesetzgeber nicht eine Sonderregelung für Notarzt-Tätigkeiten extra in das Sozialgesetzbuch geschrieben? Doch hat er, das wird auch vom BSG explizit zitiert:

§ 23c Abs. 2 Satz 1 SGB IV Sonstige nicht beitragspflichtige Einnahmen (gültig ab 11. April 2017)
Einnahmen aus Tätigkeiten als Notärztin oder Notarzt im Rettungsdienst sind nicht beitragspflichtig, wenn diese Tätigkeiten neben
1. einer Beschäftigung mit einem Umfang von regelmäßig mindestens 15 Stunden wöchentlich außerhalb des Rettungsdienstes oder
2. einer Tätigkeit als zugelassener Vertragsarzt oder als Arzt in privater Niederlassung ausgeübt werden.

Dazu das BSG: »Die ab 11. April 2017 geltende Vorschrift des § 23c Abs 2 Satz 1 Nr 1 SGB IV regelt ausschließlich die Beitragspflicht, die hier nicht Streitgegenstand ist.« Streitgegenstand war die Frage: abhängig oder selbstständig. Die ist in den vorliegenden unterschiedlichen Fällen eindeutig entschieden worden. Und das immer vor allem mit Bezug auf das Kriterium „Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers“.

Ein Dirigent kann zeigen, dass das gar nicht so eindeutig ist, wie man meinen könnte

Das Sozialgerichte auch mal ganz anders entscheiden können, also für eine selbstständige Tätigkeit, zeigt dieser Fall, mit dem sich das Landessozialgericht Baden-Württemberg beschäftigen musste – und das dann zu dieser Entscheidung gekommen ist:

»Der 5. Senat des Landessozialgerichts Baden-Württemberg (LSG) hat entschieden, dass der Dirigent des Philharmonieorchesters Konstanz selbständig ist und kein Beschäftigungsverhältnis mit dem Musikhaus besteht (Urt. v. 02.06.2021, Az. L 5 BA 142/20).«

Wie kann das denn nun sein, wenn man bedenkt, dass ein Dirigent nun vielleicht menschlich-psychisch gesehen ein Solitär sein mag, wie auch viele Hochschullehrer, aber ein Dirigent ohne sein Orchester ist ein Nichts und er kann nur eingebunden in die Arbeit des gesamten Orchesters seine Tätigkeit ausüben, er muss sich an die Aufführungszeiten halten und die Proben finden zu festgelegten Zeiten statt. Er ist auf die Räumlichkeiten für Aufführungen und Proben angewiesen, auf die Ausstattung der Musiker usw. Der Dirigent kommt nun ziemlich eingegliedert in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers daher. Oder?

Dem Artikel Der Chef­di­ri­gent ist selb­ständig können wir zum Sachverhalt entnehmen:

»Seit September 2016 leitet der klagende Dirigent das Philharmonieorchester der Stadt Konstanz auf der Grundlage eines fünfjährigen Dirigentenvertrages. Daraufin hatte die Stadt Konstanz beim Rentenversicherungsträger angefragt, den sozialversicherungsrechtlichen Status des Chefdirigenten festzustellen.
Mit Bescheid hatte dann der Rentenversicherungsträger ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis des Dirigenten zur Stadt Konstanz festgestellt mit der Begründung, dieser habe den organisatorischen Rahmen einzuhalten, der durch die Stadt einseitig vorgegeben wird. Laut Dirigentenvertrag hat die Stadt die Rechtsmacht, die Durchführung der Beschäftigung einseitig zu bestimmen, so die Versicherung weiter. Ein unternehmerisches Risiko trage der Dirigent daher nicht.«

Diesen Bescheid hatte das Sozialgericht Konstanz aufgehoben und festgestellt, dass die Tätigkeit als Chefdirigent bei der Stadt nicht der Versicherungspflicht unterliegt. Nach Gesamtabwägung aller Umstände sei er selbständig für die Stadt tätig.

Nun musste das Landessozialgericht über den Fall und die Entscheidung des SG Konstanz richten – mit dem bereits bekannten Ergebnis, dass man sich der Vorinstanz angeschlossen hat. Die Begründung des LSG geht so:

»Die Tätigkeit eines Dirigenten könne zwar grundsätzlich sowohl als Beschäftigung als auch im Rahmen eines freien Dienstverhältnisses ausgeübt werden. Im Fall des klagenden Chefdirigenten überwögen jedoch die Indizien für eine selbständige Tätigkeit. So fehle es in wesentlichen Bereichen an einem Weisungsrecht der Stadt Konstanz und an einer relevanten betrieblichen Eingliederung. Eine Eingliederung könne die Stadt auch nicht damit begründen, dass der Dirigent sich verpflichtet habe, die Stadt bei wichtigen Veranstaltungen zu repräsentieren. Dies sei lediglich als Werbung zu verstehen.
Außerdem trage der Dirigent das volle Ausfallrisiko für Konzerte. Könne er die Konzerte nicht aufführen, gingen ihm rund 80 Prozent seines Honorars verloren. Hinzu komme, dass er die Konzerttermine festlege und das Letztentscheidungsrecht über die Probetermine habe. An Arbeitszeiten sei er auch nicht gebunden. Nur etwa ein Drittel der von ihm international dirigierten Konzerte erbringe er im Auftrag der Stadt. Zudem habe die Stadt nur ein Vetorecht bei der Auswahl von Stücken, die nicht im Einklang mit dem Charakter oder den finanziellen Mitteln der Philharmonie stehen.«

Es kommt eben darauf an – und was genau das „darauf“ ist, darüber lässt sich offensichtlich trefflich streiten, auch vor den Gerichten.