Seit vielen, sehr vielen Jahren wird immer wieder auch vor Gericht darüber gestritten, ob jemand als „freier Mitarbeiter“ und damit als Selbstständiger arbeitet bzw. arbeiten kann – oder aber nicht. Denn dann handelt es sich um einen abhängig beschäftigten Arbeitnehmer, für den andere Spielregel gelten, beispielsweise müssen Sozialabgaben gezahlt werden und es wird ein Arbeitsverhältnis begründet, mit dem für den Arbeitgeber ganz andere Pflichten verbunden sind als wenn der einen Auftrag vergeben würde an einen (formal) selbstständigen Unternehmer (seiner selbst).
Denn wenn es sich um einen Selbstständigen handelt würde, dann muss der oder die eben selbst für sich sorgen, also für sowas wie Krankenversicherungsschutz oder eine wie auch immer ausgestaltete Altersvorsorge. Und wenn der oder die Urlaub machen will, dann ist das kein Anspruch, den ein Arbeitgeber einlösen muss, sondern das muss der Selbstständige selbst hinbekommen (oder eben nicht).
Und schon sind wir mitten auf einem Schlachtfeld, auf dem das Interesse vor allem auf einzelne Reiter ohne Fußtruppen gerichtet ist, die sogenannten Solo-Selbstständigen. Die für sich und mit sich alleine unterwegs sind und sich auf dem Markt für Beschäftigung verkaufen, wie normale Arbeitnehmer auch, allerdings mit dem Unterschied, dass sie als rechtlich selbstständige Unternehmen sich selbst gegen Geld verkaufen und nicht als abhängig Angestellte bei einem Arbeitgeber einen Vertrag unterschreiben, der ihnen eine Vielzahl auch an substanziellen Rechten eröffnet, wie der Entgeltfortzahlung im Krankheitsfall, der Absicherung in den großen Zweigen der gesetzlichen Sozialversicherung, dem Kündigungsschutz usw.
Es erschließt sich an dieser Stelle sofort, dass der „klassische“ Arbeitgeber aufgrund der herkömmlichen Verpflichtungen, die mit der Begründung eines Arbeitsverhältnisses verbunden sind, durchaus ein nachvollziehbares betriebswirtschaftliches Interesse daran haben kann, statt einen unfreien Abhängigen einen „freien Mitarbeiter“ zu beschäftigen, wenn a) dessen „Honorar“ nicht deutlich höher ist als das, was man bei einer „normalen“, also abhängigen Beschäftigung zahlen muss („idealerweise“ sind die Kosten sogar niedriger) und b) der „freie“ Mitarbeiter aufgrund bestimmter ökonomischer Zwänge gar nicht wirklich so „frei“ ist, sondern als scheinbar Freier faktisch abhängig („idealerweise“ bei einem) arbeiten muss. Und schon geraten wir auf die (mögliche) schiefe Ebene, die uns in die weite Welt der „Scheinselbstständigkeit“ führt.
Von einer schiefen Ebene ist dann zu sprechen, wenn man ein an und für sich abhängiges (und damit auch mit Arbeitgeberpflichten verbundenes) Arbeitsverhältnis in ein (von vielen ansonsten anfallenden Pflichten und damit Kosten befreites) Auftragsverhältnis mit einem (angeblich) Selbstständigen umwandelt, um sich der „Arbeitgeberrisiken“ (also der Pflichten) zu entledigen, ohne auf die Nutzung der Arbeitskraft verzichten zu müssen. Es handelt sich also um eine einseitige Lastenverschiebung, deren betriebswirtschaftlichen Vorteile für die vom Arbeitgeber zum Auftragnehmer transformierte eine Seite offensichtlich, aber die nicht ohne einer Verlagerung der „Risiken“ auf die andere Seite zu haben sind. Und wenn man nun von einem „normalen“, also abhängigen Arbeitsverhältnis zu einem auf dem Papier „freien“ Verhältnis mit einem (weiterhin) Abhängigen wechselt, dann kann man eine Menge Arbeitgeberkosten einsparen und der nun angeblich Freie muss die Risiken, denen sich der bisherige Arbeitgeber entledigt hat, alleine tragen.
➔ Ein Beispiel dazu: Ein Getränkehersteller beschäftigte bislang bei ihm angestellte Lkw-Fahrer, die mit vom Getränkehersteller zur Verfügung gestellten Fahrzeugen das Produkt des Unternehmens zu den Abnehmern transportiert haben. Wie sieht die betriebliche Realität aus? Der eine oder andere Lkw-Fahrer wird mal krank, die Beschäftigten haben Anspruch auf bezahlten Erholungsurlaub oder sie organisieren sich im Betrieb und wählen einen Betriebsrat, der auf die Einhaltung des Arbeitszeitgesetzes achtet. Zugleich muss das Unternehmen die Fahrzeuge zur Verfügung stellen, diese warten und ersetzen. Alles eine Menge Kosten. Nun kommt der Getränkehersteller auf eine „geniale“ Idee. Er überzeugt (oder zwingt) die bisher abhängig Beschäftigten in die „Selbstständigkeit“. Die fahren dann für das Unternehmen auf eigene Rechnung, sie bekommen die Möglichkeit, die bisher unternehmenseigenen Lkw zu kaufen und als ihr „Betriebskapital“ zu nutzen, für das man selbstverständlich nun selbst zuständig ist. Aus dem vormals abhängig Beschäftigten ist ein selbstständiger Fuhrunternehmer geworden. So einer hat normalerweise mehrere Kunden, die er bedient. Also mehrere Auftraggeber, so dass er das unternehmerische Risiko verkleinern kann. Was aber, wenn unsere bislang abhängig Beschäftigten, die zu Solo-Selbstständigen transformiert wurden, zwar Unternehmer ihrer selbst geworden sind, einen eigenen statt einen als Arbeitsmittel zur Verfügung gestellten Lkw haben – aber nur ein Auftraggeber für ihre Einkünfte sorgt (oder auch nicht, wenn der den Auftrag kündigt)? Also in diesem Fall der Getränkehersteller, bei dem man bislang auf der Payroll stand? Und wenn der auf dem Papier selbstständige Fahrer in den Betriebsablauf des Getränkeherstellers genau eingebunden ist, also die möglichen Lenkzeiten werden vollumfänglich in den Transportplan des Auftraggebers eingebunden (er könnte also gar nicht für einen zweiten und dritten Auftraggeber arbeiten)? Wenn er die Touren vom Hersteller genau vorgegeben bekommt? Man ahnt, was hier passiert: Eine bislang korrekt als abhängiges Arbeitsverhältnis geführte Beschäftigung wird transformiert in eine offensichtliche Scheinselbstständigkeit, die vor allem dem bisherigen Arbeitgeber nutzt, der sich darüber zahlreicher Arbeitgeber-Pflichten und -Kosten entledigen kann. Und die vielen kleinen „Solo-Selbstständigen“ bleiben nicht nur auf den Risiken sitzen, sondern je nach den Preisen, die sie realisieren können, sind sie gezwungen, zahlreiche neue Kosten zu stemmen, die bislang von der Arbeitgeberseite voll- oder teilfinanziert wurden, vor allem im Bereich der sozialen Sicherung.
Aber mit Blick auf die hier skizzierte Problematik einer faktischen Scheinselbstständigkeit der „Solo-Selbstständigen“ muss angemerkt werden, dass es zum einen Schutzmechanismen gibt, mit denen der beschriebene Prozess einer Flucht aus dem an sich gegebenen abhängigen Beschäftigungsverhältnis in eine für den Auftraggeber vorteilhafte scheinbare Selbstständigkeit verhindert werden soll (dies immer mit der Begründung, es gebe ein Schutzbedürfnis des angeblich „freien“, faktisch aber abhängig arbeitenden Selbstständigen). Zum anderen wird sich dem einen oder anderen sofort erschließen, dass es auch Fallkonstellationen geben kann, bei denen selbst eine Solo-Selbstständigkeit bei nur einem Auftraggeber und die auch noch unter ziemlich weitreichender Integration in dessen Betriebsabläufe, nicht dazu führen muss, dass der Solo-Selbstständige in ein Sicherungsloch fällt, weil er oder sie für das, was da verkauft wird, einen guten Preis bekommt, man also von den Einnahmen nicht nur einen ordentlichen Lebensstandard realisieren kann, sondern auch selbst vorsorgen kann gegenüber den großen Lebensrisiken, die bei den Abhängigen über die aus dem Arbeitsverhältnis abgeleitete Einbettung in die gesetzlichen Sozialversicherungssystem abgesichert sind.
Wie dem auch sei. Die entscheidende Frage, deren konkrete Beantwortung dann auch oft strittig vor Gericht landet, lautet: Handelt es sich um eine „echte“ selbstständige Tätigkeit oder nicht doch um eine abhängige Beschäftigung. Es geht also um eine Statusfeststellung.
Freie Mitarbeiter sind nicht immer „frei“, sagt ein Gericht mit Blick auf ein Beispiel aus der Welt der Gesundheitsberufe
»Sogenannte freie Mitarbeiter in einer Physiotherapiepraxis können einem Urteil zufolge als abhängig beschäftigt und damit sozialversicherungspflichtig gelten. Das ist … jedenfalls dann der Fall, wenn sie in die Praxisabläufe stark integriert seien und dort etwa Telefon, Behandlungsräume und EDV-Ausstattung mitbenutzten. Das Urteil hat nach Worten eines Gerichtssprechers Signalwirkung – auch für andere Berufsgruppen wie etwa Logopäden, Ergotherapeuten oder Masseure«, kann man dieser Meldung entnehmen: Landessozialgericht: Freie Mitarbeiter sind nicht immer „frei“: »Beschäftigte in einer Physiotherapiepraxis können als sozialversicherungspflichtig gelten, wenn sie in die Praxisabläufe stark integriert sind.«
Diese Meldung bezieht sich auf diese Entscheidung des baden-württembergischen Landessozialgerichts: LSG Baden-Württemberg, Urteil des 4. Senats vom 16.7.2021, L 4 BA 75/20. Geklärt werden musste der sozialversicherungsrechtliche Status eines Physiotherapeuten. Schauen wir uns in einem ersten Schritt erst einmal den Sachverhalt an, mit sich das LSG beschäftigen musste:
➔ Sachverhalt: Es geht um eine Praxis für Physiotherapie in Form einer Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR), die u.a. Krankengymnastik, manuelle Therapie, Massagen, Elektrotherapie, Heißluft- und Schlingentischbehandlungen und auch Hausbesuche anbietet. Gesellschafter sind zwei Physiotherapeuten, die in Vollzeit in der Praxis tätig waren. Es gab eine Zulassung zur Erbringung von Leistungen der Physiotherapie nach § 124 Abs. 1 SGB V – und zwar mit einer Praxiskapazität von fünf Physiotherapeuten. Die Praxis besteht aus sechs Behandlungsräumen mit entsprechender Ausstattung, wie Behandlungsliegen, Lagerungsmaterial und Trainingsgeräten, wobei einzelne Räume über eine darüberhinausgehende Ausstattung für spezielle Behandlungsarten, wie bspw. Rotlicht- oder Schlingentischbehandlungen verfügen. Die Praxis beschäftigt keine Mitarbeiter, auch keine Rezeptionskräfte.
Die Terminvergabe an Patienten, die an die Praxis herantraten, erfolgte organisatorisch so, dass Name, Telefonnummer und gewünschte Behandlung des Patienten in einer Liste erfasst und nachfolgend auf die tätigen Physiotherapeuten jeweils abhängig von ihrer fachlichen Qualifikation verteilt wurden. Die Physiotherapeuten traten dann telefonisch an die jeweiligen Patienten heran und vereinbarten mit diesen einen konkreten Behandlungstermin. Soweit Patienten die Behandlung durch einen ganz bestimmten Physiotherapeuten wünschten, wurde die Behandlung von diesem übernommen. Teilweise setzten sich die Patienten zur Vereinbarung eines Termins auch unmittelbar mit dem gewünschten Physiotherapeuten in Verbindung. Es gab einen Terminplan, der tageweise auswies, zu welcher Zeit jeder einzelne Therapeut für welche Behandlungsart am jeweiligen Tag einen Termin vereinbart hatte.
Und jetzt kommen wir zu dem „freien“ Mitarbeiter. Es handelt sich um einen ausgebildeten Physiotherapeuten, der seit 1. Mai 2017eine Privatpraxis für biokybernetische Physiotherapie betreibt. Der hat 2017 mit der Praxis einen „Vertrag über freie Mitarbeit“ abgeschlossen (der Vertrag ist in der Urteilsbegründung vollständig dokumentiert, darin enthalten auch eine Regelung der „Vergütung“ des freien Mitarbeiters: »Die Praxisinhaber zahlen dem/der freien Mitarbeiter/in für die … Leistungen ein Entgelt pro erbrachte Behandlungsleistung in Höhe von 70 % der abgerechneten Vergütungen mit den gesetzlichen Kostenträgern oder Privatpatienten.« Laufende Kosten der Praxis wie Miete, Praxisausstattung, Praxissoftware und Abrechnung über das Abrechnungszentrum würden mit 30 % der Heilmittelvergütung beglichen). Der „freie Mitarbeiter“ hat dann selbst eine Feststellung des sozialversicherungsrechtlichen Status seiner Tätigkeit als Physiotherapeut für die Praxis bei der Clearingstelle der Gesetzlichen Rentenversicherung beantragt mit dem Ziel festzustellen, dass eine Beschäftigung nicht vorliege.
Mit diesem Begehr hatte der Physiotherapeut – der über seine „freie Mitarbeit“ in der Praxis, die eine entsprechende Zulassung zur Abrechnung von Leistungen nach dem SGB V hat, offensichtlich partizipieren wollte an ebendieser Behandlung, die ihm ansonsten mangels Zulassung verweht war bzw. ist – bei der Clearingstelle der Rentenversicherung keinen Erfolg.
Erst Daumen hoch und dann aber Daumen runter für den Antrag auf Anerkennung einer selbstständigen Tätigkeit
Die Clearingstelle der Rentenversicherung teilte dem Antragsteller mit, »dass sie beabsichtige, einen Bescheid über das Vorliegen einer abhängigen Beschäftigung zu erlassen. Sie legte die Kriterien für die Abgrenzung einer Beschäftigung und einer selbstständigen Tätigkeit dar und führte die Merkmale auf, die für ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis sprächen (Übernahme der Behandlung von Patienten des Auftraggebers in dessen Räumlichkeiten im Wesentlichen mit der dort zur Verfügung stehenden Betriebsausstattung; die freien Räumlichkeiten könnten nur nach Absprache mit der Praxis genutzt werden; die Terminierung der Patienten erfolge über die Praxis des Auftraggebers, ein eigenes Terminbuch werde nicht geführt; die Tätigkeit werde unter betrieblicher Eingliederung in die Praxis des Auftraggebers ausgeübt; angestellte Mitarbeiter führten die gleiche Tätigkeit aus, er übernehme Auftragsspitzen der Praxis; Abrechnung und Forderungsmanagement erfolgten über den Auftraggeber; umfangreiches eigenes Kapital, das ein unternehmerisches Handeln begründe, werde nicht eingesetzt; für Privatpatienten schließe der Auftraggeber die Behandlungsverträge und rechne diese ab). Als Merkmale für eine selbstständige Tätigkeit führte sie an, dass Aufträge abgelehnt werden könnten und Termine im Verhinderungsfall selbst abgesagt würden. Nach einer Gesamtwürdigung aller zur Beurteilung der Tätigkeit relevanten Tatsachen überwögen die Merkmale für ein abhängiges Beschäftigungsverhältnis.«
Dagegen wurden von dem Betroffenen und der Praxis Widerspruch eingelegt und dann auch Klage erhoben. Mit Urteil vom 28. November 2019 stellte das Sozialgericht (SG) Mannheim, also die erste Instanz, antragsgemäß fest, dass die Tätigkeit als Physiotherapeut in der Praxis nicht der Versicherungspflicht in der gesetzlichen Rentenversicherung und nach dem Recht der Arbeitsförderung unterlag. Die wesentliche Argumentation des SG: »Die für eine selbstständige Tätigkeit sprechenden Merkmale überwögen. Nach der vertraglichen Vereinbarung habe … keine Pflicht zur Erbringung einer Arbeitsleistung bestanden. Vielmehr habe er seine Arbeitszeit sowohl nach Umfang und Lage selbst bestimmen können und ihm angetragene Behandlungen von Patienten auch ohne Angabe von Gründen ablehnen können. Vertretungsregelungen für Krankheits- und Urlaubszeiten habe es nicht gegeben, so dass auch insoweit keine Einbindung in eine fremde Arbeitsorganisation erfolgt sei … Für eine selbstständige Tätigkeit … spreche zudem, dass er über eine eigene Patientenkartei verfügt habe und durch die Ausgabe seiner Visitenkarten als selbstständiger Physiotherapeut in Erscheinung getreten sei, damit sich die Patienten bei späteren Behandlungen ohne Umwege … an ihn direkt hätten wenden können … Die Abrechnungspraxis stelle lediglich ein Indiz für eine abhängige Beschäftigung dar, sie führe jedoch nicht zwingend zur Annahme einer Beschäftigung. Das … angenommene fehlende unternehmerische Risiko spreche nicht für eine abhängige Beschäftigung …, da auch betriebsmittelarme Tätigkeiten selbstständig ausgeführt werden könnten.«
Mit dieser Entscheidung der ersten Instanz wollte sich die Clearingstelle der Gesetzlichen Rentenversicherung nicht zufrieden geben und hat Berufung beim Landessozialgericht Baden-Württemberg eingelegt und geltend gemacht, entgegen der Beurteilung des SG überwögen vorliegend die für eine Beschäftigung sprechenden Merkmale.
Und das LSG Baden-Württemberg hat nun der Berufung entsprochen und die Entscheidung des SG Mannheim aufgehoben. Das hätte nicht feststellen dürfen, dass keine Versicherungspflicht vorliegt. Warum?
Dazu das LSG: Gemäß § 7 Abs. 1 Satz 2 SGB IV sind Anhaltspunkte für eine Beschäftigung eine Tätigkeit nach Weisungen und eine Eingliederung in die Arbeitsorganisation des Weisungsgebers. Nach der ständigen Rechtsprechung des BSG setzt eine Beschäftigung voraus, dass der Arbeitnehmer vom Arbeitgeber persönlich abhängig ist. Bei einer Beschäftigung in einem fremden Betrieb ist dies der Fall, wenn der Beschäftigte in den Betrieb eingegliedert ist und dabei einem nach Zeit, Dauer, Ort und Art der Ausführung umfassenden Weisungsrecht des Arbeitgebers unterliegt … Demgegenüber ist eine selbständige Tätigkeit vornehmlich durch das eigene Unternehmerrisiko, das Vorhandensein einer eigenen Betriebsstätte, die Verfügungsmöglichkeit über die eigene Arbeitskraft sowie die im Wesentlichen frei gestaltete Tätigkeit und Arbeitszeit gekennzeichnet. Ob jemand abhängig beschäftigt oder selbständig tätig ist, hängt davon ab, welche Merkmale überwiegen.« Ausgehend von diesen Grundsätzen kam das LSG nun zu der Schlussfolgerung, dass es sich bei dem Physiotherapeuten im vorliegenden Fall um eine abhängige Beschäftigung gehandelt hat.
Maßgebliches Indiz für eine abhängige Beschäftigung sei die Eingliederung in die Organisationsstruktur der Praxis, so das LSG. Das Zustandekommen des Therapeuten-/Patientenkontakts stellt sich nicht anders dar als im Falle von beschäftigten Physiotherapeuten. Der Physiotherapeut »war nach Übernahme einer ihm angetragenen Behandlung in die Ordnung … (der Praxis) eingegliedert. So nutzte er die in der Praxis … vorgehaltene Ausstattung und dabei zur Durchführung der übernommenen Behandlungen insbesondere die für die angebotenen verschiedenen Behandlungsarten ausgestatteten Behandlungsräume. Er nutzte die Telefonanlage zur Vereinbarung von Terminen mit den Patienten und darüber hinaus die vorgehaltene EDV-Ausstattung mit dem Praxisverwaltungsprogramm, insbesondere den elektronisch geführten Terminplan. Insoweit war er in die Arbeitsabläufe der Praxis und deren Organisation eingebunden. Der Physiotherapeut verfügte in der Praxis nicht über eigene Behandlungsräume, die er jederzeit ohne weiteres und ohne Abstimmung mit anderen in der Praxis tätigen Physiotherapeuten für die Durchführung seiner Behandlungen hätte in Anspruch nehmen können. Er war daher zweifellos eingebunden in die Organisationsstruktur und Arbeitsabläufe der Praxis. Er trat im Zusammenhang mit seiner Tätigkeit für die Praxis nach außen „am Markt“ nicht als in eigener Praxis tätiger Physiotherapeut in Erscheinung.
Erhebliche Indizien, die für das Vorliegen einer selbständigen Tätigkeit sprechen, vermag der Senat des LSG Baden-Württemberg nicht zu erkennen.
Eine Revision zum Bundessozialgericht wurde nicht zugelassen. Dagegen legte die Klägerseite Beschwerde ein. Entschieden ist darüber noch nicht.
Das Urteil ist auch relevant für andere Gesundheitsberufe – etwa für Logopäden, Ergotherapeuten oder Masseure. Und für die Pflege
Man kann sich sofort vergleichbare Fallkonstellationen in anderen Berufsgruppen vorstellen, wie den Logopäden, Ergotherapeuten oder Masseuren. Und auch in der Pflege wird man immer wieder mit diesen Abgrenzungsfragen zwischen abhängiger oder selbstständiger Beschäftigung konfrontiert. Dazu aus der umfangreichen Literatur hier nur der Hinweis auf diesen Beitrag:
➔ Martina Weber (2021): Arbeitnehmer? Honorarkraft? Scheinselbstständig?, in: Heilberufe, Heft 3/2021, S. 42-43
Ausgangspunkt ihrer Ausführungen: Seit Jahren sind Pflegefachkräfte auch auf freiberuflicher Basis in Pflegeheimen, Krankenhäusern und ambulanten Pflegediensten tätig. Gerichte haben die Frage, ob sie Honorarkräfte oder Arbeitnehmer sind, unterschiedlich beurteilt. Am 7. Juni 2019 hat das Bundessozialgericht eine Grundsatzentscheidung zum Status von Pflegekräften in stationären Einrichtungen getroffen (vgl. BSG, Urteil vom 07.06.2019, B 12 R 6/18 R).
Dazu berichtet Martina Weber: »In dem Fall, über den das Bundessozialgericht (BSG) … entschieden hat, ging es um die Sozialversicherungspflicht eines Altenpflegers, der auch Fachkraft für Leitungsaufgaben in der Pflege war, in jeweils mehrtätigen Einsätzen in einem Pflegeheim in der Zeit von November 2012 bis Januar 2013.
Da das Pflegeheim in diesem Zeitraum keine Fachkräfte zur Festanstellung finden konnte, beschäftigte es im Umfang bis zu 85% Leiharbeitnehmer und Honorarkräfte. Das Pflegeheim schloss zunächst mit einer Vermittlungsagentur einen Vertrag ab, wodurch der Altenpfleger für „ein befristetes Arbeitsverhältnis“ vermittelt wurde, in dem er als „selbstständige Pflegekraft für alle Sozialversicherungsabgaben verantwortlich“ sei. Dann schloss der Altenpfleger mit dem Pflegeheim auf seinen Vorschlag hin einen „Dienstleistungsvertrag“ für die Zeit vom 6.11. bis 14.11.2012 und 21.11. bis 28.11.2012 ab. Vereinbart wurden ein fester Stundenlohn und eine Arbeitszeit von täglich zehn Stunden bei möglicher Mehrarbeit … Im Oktober 2013 stellte der Altenpfleger einen Antrag auf Statusfeststellung bei der Deutschen Rentenversicherung. Im Lauf des Verfahrensgangs wurde teilweise die Versicherungspflicht in der Sozialversicherung, also Arbeitnehmereigenschaft, bejaht, teilweise verneint. Das BSG schließlich stellte fest, dass der Altenpfleger bei seiner Tätigkeit im Pflegeheim als Arbeitnehmer sozialversicherungspflichtig war.«
Wie begründet das BSG seine Entscheidung? »Ausgangspunkt der Argumentation des Bundessozialgerichts ist, dass das SGB XI (Pflegeversicherung) einen hohen Organisationsgrad zur Qualitätssicherung voraussetzt. Es sind diese organisatorischen Rahmenbedingungen, die im Regelfall zur Folge haben, dass Pflegefachkräfte in die Organisations- und Weisungsstruktur einer stationären Pflegeeinrichtung eingegliedert sind. Selbstständigkeit im sozialversicherungsrechtlichen Sinn kann nur ausnahmsweise in Betracht kommen. Für eine Selbstständigkeit müssten gewichtige Indizien sprechen.«
Und weiter: »Im Fall, über den das BSG entschied, hatte der Altenpfleger seine Tätigkeit nach Maßgabe der Pflegeplanung und im arbeitsteiligen Zusammenwirken mit anderen Mitarbeitenden zu erbringen. Er war in die Arbeitsabläufe des Pflegeheims eingegliedert. Er hatte keine ins Gewicht fallende Freiheit im Hinblick auf die Gestaltung und den Umfang seiner Arbeitsleistung innerhalb einer einzelnen Schicht. Er trug kein nennenswertes Unternehmerrisiko: Da ein fester Stundenlohn vereinbart war, trug der Altenpfleger zu keinem Zeitpunkt das Risiko, für seine Arbeit bzw. seine Bereitschaft zur Arbeit nicht bezahlt zu werden. Auf der anderen Seite bestand für ihn auch nicht die Chance, durch unternehmerisches Geschick seine Arbeit so zu gestalten, dass er das Verhältnis von Aufwand und Ertrag zu seinen Gunsten hätte entscheidend beeinflussen können. Im Kern erhielt der Altenpfleger für seine Arbeit risikolos ein fest definiertes Honorar.«
Man muss auf die erheblichen Risiken hinweisen, die sich für den Auftraggeber bzw. dann Arbeitgeber ergeben: »Stellt sich im Nachhinein heraus, dass eine vermeintlich freiberuflich tätige Person in Wirklichkeit einen Arbeitnehmerstatus hat, kommen auf den Arbeitgeber Zahlungsansprüche in bedeutender Höhe zu: Das an den Scheinselbstständigen gezahlte Honorar gilt nun als sozialversicherungspflichtiger Arbeitslohn. Nach § 28e Absatz 1 Satz 1 SGB IV ist der Arbeitgeber der Haftungsschuldner für sämtliche Beiträge zur Sozialversicherung.«