Die Eigenanteile der Pflegebedürftigen in Heimen steigen – und warum eine (angebliche) gesetzliche Bremse ganz schnell heiß laufen wird

Seit Jahren wird über beständig steigende Eigenanteile der Pflegebedürftigen bei stationärer Unterbringung umfassend berichtet und eine Reform als überfällig angemahnt. Aber noch sind wir weit weg von dem, was schon seit Jahren immer wieder vorgeschlagen und angemahnt wird, stattdessen ist eines sicher: der Anstieg der Eigenanteile, die sich mittlerweile in Größenordnungen gefressen haben, die für viele Menschen eine völlige Überforderung darstellen.

Jeweils zum 1. Januar und zum 1. Juli eines Jahres wird vom Verband der Ersatzkassen (vdek) erhoben und veröffentlicht, wie sich die Eigenanteile in den einzelnen Bundesländern und in Abhängigkeit von den Pflegegraden darstellen.

Schon auf der Ebene der Bundesländer ist die Streuung der Werte enorm. Hinzu kommt, dass die Werte dann auch noch zwischen den einzelnen Pflegeheimen – und davon gibt es mehr als 14.000 in Deutschland -, teilweise erheblich schwanken.

Im Juli 2021 sind wir nun mit dem Blick von ganz oben bei einem Eigenanteil von 2.125 Euro pro Monat angekommen – im Bundesdurchschnitt. Das waren 57 Euro mehr als zu Jahresbeginn und 110 Euro mehr als im Juli 2020. Zwischen den Bundesländern reicht die Spannweite dann von 1.539 Euro bis rauf auf 2.496 Euro in Nordrhein-Westfalen.

Dass die in einem Heim untergebrachten und versorgten Menschen für Unterkunft und Verpflegung zahlen müssen (was ja ansonsten bei einer anderen Unterbringung auch der Fall wäre), erscheint plausibel. Dass die Heimbewohner auch noch die gesamten Investitionskosten der Heimbetreiber für das konkrete Pflegeheim tragen müssen, macht den einen oder anderen schon skeptischer, denn durch die vollständige Überwälzung der hier auftauchenden Kosten auf die Bewohner kann der Heimbetreiber durchaus Gewinne realisieren, beispielsweise durch überhöhte Mietzahlungen der Betriebs- an eine Immobiliengesellschaft. Richtig problematisch ist aber der ominöse „Einrichtungseinheitliche Eigenanteil“ (EEE), der bundesdurchschnittlich im Juli 2021 den Betrag von 873 Euro erreicht hat, denn diese Geldsumme dient der Finanzierung der pflegebedingten Kosten (vor allem der Personalkosten), die nicht durch den Anteil der Pflegeversicherung gedeckt werden können. In den Anfangstagen des jüngsten Zweigs der deutschen Sozialversicherung, also der Sozialen Pflegeversicherung, wurden alle pflegebedingte Aufwendungen durch Leistungen aus den Pflegekassen finanziert. Genau das war auch das Versprechen der neuen Versicherung gewesen. Aber durch Nicht-Dynamisierung der Leistungsbeträge ist der Realwert des Anteils der Pflegeversicherung immer weiter abgesunken und besonders erschwerend kommt hinzu, dass die Pflegeversicherung anders als beispielsweise die Gesetzliche Krankenversicherung eine Teilleistungsversicherung ist, was bedeutet, dass sie in Abhängigkeit vom jeweiligen Pflegegrad einen festen Betrag gewährt, aber alle darüber hinausgehenden Kosten müssen dann eben aus anderen Finanzquellen gedeckt werden.

➔ Beispiel: Wenn jemand in den höchsten Pflegegrad eingestuft wurde (= Pflegegrad 5), dann beläuft sich der Anteil der Pflegekasse auf 2.005 Euro pro Monat bei einem durchschnittlichen Gesamtheimentgelt (bundesweit) von 4.130 Euro pro Monat. Wenn nun das Gesamtheimentgelt steigt, weil beispielsweise die Personalkosten steigen (durch Lohnerhöhungen und/oder mehr Personal), dann würde im bestehenden System jeder einzelne Euro über den genannten 2.005 Euro von den Pflegebedürftigen selbst zu finanzieren sein, man müsste also den EEE, den Eigenanteil für die pflegebedingten Kosten, entsprechend anheben.

Aber bald wird doch alles gut – die Noch-Bundesregierung hat doch eine Pflegerreform beschlossen, die genau das Problem mit diesen Eigenanteilen lösen soll

Der Druck auf die Politik, nun endlich zu handeln und den fortwährenden Anstieg der Eigenanteile zu begrenzen, war offensichtlich von Erfolg gekrönt, liest man die Verlautbarung des Bundesgesundheitsministeriums vom 2. Juni 2021 zu den pflegeversicherungsrechtlichen Änderungen, die man in dem damaligen Entwurf eines Gesetzes zur Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung (das mittlerweile von Bundestag und Bundesrat verabschiedet wurde) eingebaut hat:

»Wir entlasten die Pflegebedürftigen nach mehr als 24 Monaten Pflege durchschnittlich um rund 410 Euro im Monat, nach mehr als 36 Monaten Pflege sogar um rund 638 Euro im Monat.«

Das sind doch mal Euro-Beträge.

Aber die unmittelbaren Reaktionen auf das, was die Noch-Groko als Pflegereform vorgelegt hat, waren weitgehend und zutreffend verheerend. So auch die kritischen Ausführungen in meinem Blog-Beitrag Kurz vor dem „Nichts geht mehr“: Die „Pflegereform“ auf der Zielgeraden. Anmerkungen zu einem Etikettenschwindel mit Luftbuchungen inmitten von Flickschusterei vom 4. Juni 2021. Darin wurde darauf hingewiesen, dass der Bundesgesundheitsminister ursprünglich, im Herbst des vergangenen Jahres, einen anderen, weitreichenderen Reformvorschlag gemacht hat: Heimbewohner sollten für die stationäre Pflege künftig für längstens 36 Monate maximal 700 Euro pro Monat zahlen. Danach wäre dieser einer der drei Eigenanteile (also der EEE) komplett weggefallen. Aber in den ersten drei Jahren des Heimaufenthalts wäre sicher gewesen, dass man nicht mehr als 700 Euro pro Monat für die pflegebedingten Kosten zuzahlen muss. Zukünftige Kostenanstiege, die ansonsten zu 100 Prozent auf den EEE umgelegt worden wären, würden bei diesem Modell an die Zuzahlungsobergrenze stoßen und müssten aus anderen Quellen gedeckt werden.

Das, was dann im Bundestag verabschiedet wurde, ist aber ein ganz anderes Modell:

Von einer absoluten Deckelung des Eigenanteils in Höhe von 700 Euro ist man wieder weg. Stattdessen findet man eine solche anteilige „Entlastungs“regelung: In einem neuen § 43c SGB XI wird unter der Überschrift „Begrenzung des Eigenanteils an den pflegebedingten Aufwendungen“ ausgeführt:

»Pflegebedürftige der Pflegegrade 2 bis 5, die bis einschließlich 12 Monate Leistungen …, erhalten einen Leistungszuschlag in Höhe von 5 Prozent ihres zu zahlenden Eigenanteils an den pflegebedingten Aufwendungen.« Und dann geht es richtig ab mit der Entlastung nach dem ersten Jahr: »Im zweiten Jahr erhöht sich der Leistungszuschlag auf 25 Prozent des zu zahlenden Eigenanteils an den pflegebedingten Aufwendungen, im dritten Jahr sind es dann 45 Prozent und ab dem vierten Jahr durchgängig 70 Prozent.«

Das aber hat handfeste Folgen: Eine wirkliche Entlastung (ab dem dritten Jahr, denn nicht umsonst ist in der Werbebotschaft des Ministeriums erst die Entlastung ab dem dritten Jahr der Heimunterbringung angegeben, weil die 5 Prozent bzw. 25 Prozent im 1. und 2 Jahr kaum der Rede wert sind – und man das auch vor dem Hintergrund der Tatsache sehen muss, dass die meisten Bewohner gar nicht drei oder mehr Jahre in den Heimen erleben) würde es nur geben, wenn der EEE konstant auf die Niveau bliebe, das wir erreicht haben. Aber die seit Jahren ununterbrochen gestiegenen Werte für den EEE zeigen, dass man davon im bestehenden System wohl kaum ausgehen kann. Und noch schlimmer:

»Wenn die Bundesregierung wirklich erfolgreich sein sollte bei den beiden anderen so prominent herausgestellten Punkten, also einer höheren Vergütung und mehr Pflegekräfte, dann stiegen wie beschrieben die Eigenanteile für pflegebedingte Kosten, denn darauf werden die umgelegt, erheblich. Folge: Ich entlaste, gerade in den ersten beiden Jahren in einer überschaubaren Größenordnung die Pflegebedürftigen bei einem der drei Eigenanteile, der aber gleichzeitig ganz erheblich ansteigen muss bzw. wird. Man könnte so etwas auch als Luftbuchung bezeichnen.«

Und die schildbürgerstreichartige Luftbuchung und Zahlenverdreherei wird noch an einem anderen, besonders dreisten Punkt deutlich erkennbar: Man steckt Geld rein und spart an anderer Stelle mehr, als man angeblich für die Pflege „zusätzlich“ ausgibt. Konkreter: Wenn aus 1,4 Milliarden Euro mehr am Ende 400 Millionen weniger werden. Pflegepolitik am Ende (der Legislaturperiode), so der Titel meines Beitrags vom 19. Juni 2021.

➔ Die Pflegeversicherung bekommt ab dem kommenden Jahr einen Steuerzuschuss von jährlich einer Milliarde Euro. Außerdem steigt der Pflegebeitrag von gesetzlich Versicherten, die keine Kinder haben, um 0,1 Prozentpunkte. Das bringt laut Bundesregierung rund 400 Millionen Euro Mehreinnahmen pro Jahr. Folglich werden 1,4 Mrd. Euro zusätzlich ins Pflegesystem gegeben, u.a. um die Entlastung der Heimbewohner bei dem Eigenanteil finanzieren zu können. 1,4 Mrd. Euro? Nicht so schnell. Es wurde bereits auf die Festbeträge hingewiesen, die aus der Pflegekasse geleistet werden in Abhängigkeit vom Grad der Pflegebedürftigkeit. Die sind seit 2017 eingefroren. Nun hätten sie dieses Jahr eigentlich dynamisiert werden müssen, die Bundesregierung ist dazu nach § 30 SGB XI alle drei Jahre gesetzlich verpflichtet. Und bereits im Dezember 2020 hatte die Bundesregierung das geprüft und ist zu dem Ergebnis gekommen, dass ein Anstieg der Leistungsbeträge um 5 Prozent angemessen erscheint. Nun aber hat die Bundesregierung beschlossen, »dass die Pflegepauschalen doch nicht generell erhöht werden – und damit nicht einmal der Preisanstieg von 2017 bis 2019 ausgeglichen wird. Lediglich für Sachleistungen in der ambulanten Pflege und für die Kurzzeitpflege soll es ein bisschen mehr Geld geben. Wegen des Verzichts auf eine generelle Anhebung der Pflegeleistungen sparen die Kassen laut Gesundheitsministerium jährlich 1,8 Milliarden Euro. Und siehe da: Dank dieser Einsparung lassen sich die Zuschüsse für Heimbewohner und etwas höhere Gehälter dem Ministerium zufolge zumindest im kommenden Jahr finanzieren.«

Man muss sich das verdeutlichen: Für die Pflege sind nunmehr weniger Mittel eingeplant als noch im Dezember 2020: Einerseits erhält die Pflegeversicherung 1,4 Milliarden Euro mehr aus Steuermitteln und Beiträgen. Andererseits gibt es 1,8 Milliarden Euro weniger, weil Kassenleistungen eingefroren werden.

Das aber wird nun natürlich in einer zweiten, dritten, vierten Runde dazu führen (müssen), dass die Eigenanteile steigen werden, zum einen, weil der Realwert der gedeckelten Zuschüsse weiter abnimmt und zum anderen, weil alle zusätzlichen Kostenanstiege beispielsweise durch eine bessere Vergütung für die Pflegekräfte und bessere Personalschlüssel voll auf die Pflegebedürftigen umgelegt werden (müssen).

Keiner kann später sagen, dass man das doch nicht hat wissen können

Am 7. Juni 2021 fand eine öffentliche Anhörung des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestages statt (vgl. dazu den Bericht des Bundestages: Heftige Kritik an der geplanten Pflegereform; dort findet man auch die schriftlichen Stellungnahmen der Sachverständigen). Aus der schriftlichen Stellungnahme des Pflegeexperten Heinz Rothgang von der Universität Bremen:

»Die vorgesehenen Leistungszuschläge zu den Eigenanteilen gemäß dem neuen § 43c SGB XI sind dem Grunde nach ungeeignet, die Eigenanteile zu begrenzen. Bei einer derartigen Zuschlagsregelung steigen die Eigenanteile auch in Zukunft, wenn sich die pflegebedingten Aufwendungen erhöhen, der Anstieg wird lediglich abgemildert … Wie saldierte Berechnungen zeigen, greift der Reformvorschlag auch der Höhe nach zu kurz. Die Entlastung der Heimbewohnerinnen ist nur temporär. Sobald alle Reformelemente zum Tragen kommen, verbleibt für Heimbewohnerinnen eine Entlastung von lediglich 1 % des derzeitigen Gesamteigenanteils und im Zeitverlauf wird bereits in der zweiten Jahreshälfte 2023 wieder ein Eigenanteilsvolumen erreicht, das dem im 1. Quartal 2021 entspricht. Die Reform erkauft damit lediglich Zeit, statt das Problem final zu lösen.« (S. 3)

Rothgang führt aus: »Eine nachhaltige Begrenzung der Eigenanteile, die zudem individuelle Vorsorge ermöglicht, erfordert stattdessen eine absolute Deckelung der Eigenanteile – so wie es im ursprünglichen Reformvorschlag des Bundesgesundheitsministers vorgesehen war.« Wobei man anmerken muss, dass sich auch der ursprüngliche Vorschlag des Bundesgesundheitsministers Jens Spahn nur auf einen der drei Eigenanteile bezogen hat, also den für die pflegebedingten Kosten (EEE).

Der Effekt der Reformvorschläge auf die Eigenanteile der Heimbewohner wird dann auf den S. 5-8 der schriftlichen Stellungnahme genauer quantifiziert.

Und ebenso kritisiert auch Rothgang die Chuzpe mit der Finanzierung: »Zentrales Element der Gegenfinanzierung ist der Verzicht auf die Umsetzung der eingeplanten Leistungsdynamisierung, deren Volumen im Dezember 2020 auf 5 % festgelegt worden war. Durch diesen Verzicht werden 2021 alle Pflegebedürftigen im Vergleich zu einer Situation ohne diese Reform belastet. Pflegegeldbezieher werden sogar dauerhaft belastet, da die bei ihnen eingesparten Mittel der Leistungsdynamisierung zur Finanzierung der Leistungszuschläge für Heimbewohner:innen verwendet werden. Die vorgeschlagene Gegenfinanzierung ist nicht ausreichend. Bei Berücksichtigung aller Reformfolgen zeigt sich vielmehr ein Defizit. Dies ist insbesondere darauf zurückzuführen, dass der Steuerzuschuss nur 1 Mrd. Euro beträgt und nicht – wie ursprünglich geplant – rund 6 Mrd. Euro.« (S. 3)

Aber die Bundesregierung in Auflösung hat Zeit gewonnen und den Ball ins Feld der nächsten Bundesregierung, wie die auch immer zusammengesetzt sein wird, geschossen. Derweil wird der Druck im Pflegekessel beständig weiter ansteigen.