Wenn aus 1,4 Milliarden Euro mehr am Ende 400 Millionen weniger werden. Pflegepolitik am Ende (der Legislaturperiode)

Die »Betrachtung der Kernelemente der sogenannten „Pflegereform“ zeigt mehr als deutlich: Das ist gesetzgeberische Flickschusterei und im Ergebnis werden wir mit Luftbuchungen abgespeist, hinter der sich eine ausgewachsene Rosstäuscherei verbirgt. Bezahlen werden müssen das wieder einmal Dritte.« So mein Fazit in dem Beitrag Kurz vor dem „Nichts geht mehr“: Die „Pflegereform“ auf der Zielgeraden. Anmerkungen zu einem Etikettenschwindel mit Luftbuchungen inmitten von Flickschusterei, der hier am 4. Juni 2021 veröffentlicht wurde. Und wenige Tage später musste dann mit Blick auf viele andere Kommentierungen dessen, was die Noch-Bundesregierung uns da präsentiert hat, zusammenfassend bilanziert werden: Stückwerk, weit unter den Erwartungen, laute Kritik, das grenzt an Betrug. Eine eindeutige Bewertung dessen, was als „Pflegereform“ durch das Parlament bugsiert wird. Auch der Pflegeforscher Heinz Rothgang von der Universität Bremen kritisiert die Reform in einer Stellungnahme scharf. In einem Interview – „Bestenfalls ein Reförmchen“: Bremer Experte kritisiert Pflegereform – weist er zutreffend auf eine Umkehrung des ursprünglich seiner Meinung nach „völlig angemessenen Vorschlages“ einer Entlastung bei Eigenanteilen für pflegebedingte Kosten bei stationärer Pflege im ursprünglichen Entwurf einer Pflegereform hin, die sich noch bitter rächen wird für die betroffenen Pflegebedürftigen.

»Der ursprüngliche Plan von Jens Spahn war sehr weitgehend und vollkommen richtig. Demnach sollte es nicht mehr so sein, dass die Pflegeversicherung einen festen Zuschuss gibt und die Heimbewohner den Rest zahlen – darunter auch weitere Kostensteigerungen durch Personalmehrung und höhere Gehälter. Stattdessen wollte Spahn das umkehren: Der Heimbewohnende zahlt einen festen Betrag für die pflegebedingten Aufwände und alles, was darüber hinaus geht, zahlt die Versicherung.« Letztendlich wäre das der Übergang von einer Teilleistungsversicherung hin zu einer echten Teilkaskoversicherung. Aber dieser Ansatz ist nun kassiert worden, „weil er mittelfristig zu teuer wird“, so Rothgang. Er wurde durch die sogenannten Zuschläge zu den Eigenanteilen ersetzt. »weil er mittelfristig zu teuer wird. Er wurde durch die sogenannten Zuschläge zu den Eigenanteilen ersetzt.«

Aber es kommt noch dreister: Die jetzt im Bundestag beschlossene „Pflegereform“ ist unterm Strich sogar ein Sparprogramm. Man steckt Geld rein und spart an anderer Stelle mehr, als man angeblich für die Pflege „zusätzlich“ ausgibt. Man ahnt schon, dass der Mechanismus, mehr Geld zu „sparen“ als man ausgibt, nicht für die Pflegebedürftigen gilt, denn einer muss immer die Rechnung bezahlen. Auf dieses Husarenstück hat beispielsweise Eva Roth in ihrem Artikel Der pflegepolitische Trick hingewiesen. Die Rechnung geht so:

Eine Vorbemerkung: Es ist das erklärte Ziel der Bundesregierung, dass zum einen die Pflegekräfte in der Langzeitpflege besser bezahlt werden (sollen), dazu ist eine ziemlich wackelige „Tarifbindung“ vorgesehen. Zum anderen soll es auch perspektivisch mehr Personal geben. Nehmen wir mal an, diese Ziele werden – und sei es partiell – auch erreicht, dann steigen natürlich die Kosten, die seitens der Betreiber von Pflegeeinrichtungen refinanziert werden müssen. Im bestehenden System mit einer als Teillleistungsversicherung ausgestalteten Pflegeversicherung, die in Abhängigkeit vom Pflegegrad feste Pauschalen übernimmt (so sind das im höchsten Pflegegrad 5 derzeit 2.005 Euro monatlich bei vollstationärer Pflege), mit denen die pflegebedingten Kosten abgedeckt werden sollen, haben wir bereits jetzt die Situation, dass diese Pauschalen eben nicht die gesamten pflegebedingten Kosten (unter denen die Personalkosten natürlich ein sehr großes Gewicht haben) umfassen, so dass die Differenz von den Heimbewohnern in Form einer der drei „Eigenanteile“, also durch Zuzahlungen, ausgeglichen werden muss. Aktuell sind das im Bundesdurchschnitt mit einer durchaus erheblichen regionalen Streuung mehr als 900 Euro pro Monat – hinzu kommen noch die voll von den Pflegebedürftigen zu tragenden Eigenanteile für Unterkunft und Pflege sowie für die Investitionskosten, so dass sich derzeit die monatlichen Zuzahlungen (neben dem Geld aus der Pflegeversicherung) auf über 2.100 Euro belaufen.

Das Ausgangsproblem war (und wird sein): Im bestehenden System führt jeder Kostenanstieg durch eine von allen in Sonntagsreden geforderte bessere Bezahlung des Personals und/oder mehr Personal dazu, dass aufgrund der gedeckelten pauschalen Erstattung aus der Pflegeversicherung die von den Pflegeheimbetreibern zu refinanzierenden höheren Kosten vollständig an die Pflegebedürftigen weitergegeben werden, so dass der „EEE“, also der einrichtungseinheitliche Eigenanteil für die nicht über Pflegeversicherungsmittel gedeckten pflegebedingten Kosten angehoben werden muss.

Aber neben einer besseren Bezahlung und mehr Personal hat man sich gleichzeitig das Ziel gesetzt, eine (noch) höhere Belastung der Pflegebedürftigen zu vermeiden. Im ursprünglichen „Arbeitsentwurf“ für eine Pflegereform aus dem Bundesgesundheitsministerium, der im Oktober 2020 vorgelegt wurde, hatte man beabsichtigt, den Eigenanteil der Bewohner von Pflegeeinrichtungen auf 700 Euro pro Monat und das maximal drei Jahre lang zu deckeln – alle weiteren Kostenanstiege wären in diesem Modell dann von der Pflegeversicherung zu tragen gewesen. Vgl. zu den damaligen Überlegungen den Beitrag Die Grundlinien der Pflegereform 2021 werden in Umrissen erkennbar. Man will die Pflegeversicherung „neu denken“ vom 15. November 2020. Aber das ist Geschichte, denn so Rothgang: »Dieser vollkommen angemessene Vorschlag wurde jetzt kassiert, weil er mittelfristig zu teuer wird. Er wurde durch die sogenannten Zuschläge zu den Eigenanteilen ersetzt.«

Quelle: Bundesgesundheitsministerium: Pflegereform – Altenpflege wird besser bezahlt und der Beruf attraktiver, 02.06.2021; 2. Fassung der Pressemitteilung, in einer ersten war die Tabelle noch nicht enthalten. In dem Beitrag Kurz vor dem „Nichts geht mehr“: Die „Pflegereform“ auf der Zielgeraden. Anmerkungen zu einem Etikettenschwindel mit Luftbuchungen inmitten von Flickschusterei vom 4. Juni 2021 wurde u.a. angemerkt, dass der vom Verband der Ersatzkassen (vdek) ausgewiesene bundesdurchschnittlichen Eigenanteil für die pflegebedingten Kosten mit Stand 1. Januar 2021 „nur“ bei 831 Euro pro Monat lag, es also nicht ersichtlich ist, woher die 911 Euro, die das BMG Anfang Juni 2021 verwendet, kommen, es sei denn, der EEE ist in wenigen Wochen um 10 Prozent und mehr bis Mitte 2021 angestiegen.

Der Ansatz mit den am Anfang sehr niedrigen Zuschlägen zum Eigenanteil für pflegebedingte Kosten würde also rechnerisch bedeuten: Wenn der Eigenanteil aufgrund steigender Löhne für die Pflegekräfte um 100 Euro angehoben werden müsste, dann könnten 45,55 Euro davon über den Zuschuss gedeckt werden, 54,45 Euro hingegen müssten die Bewohner im ersten Jahr ihres Aufenthalts in der Pflegeeinrichtung zusätzlich zum bestehenden Eigenanteil aufbringen, denn der fällt ja nicht weg oder ist auch nicht gedeckelt. Mit der vom BMG versprochenen „Entlastung“ der pflegebedürftigen Bewohner ist es also nicht weit her.

Eva Roth hat in ihrem Beitrag die Finanzierungsseite betrachtet. Hier das Ergebnis: »Nach dem Beschluss des Bundestags erhält die gesetzliche Pflegeversicherung, die offiziell soziale Pflegeversicherung heißt, ab dem kommenden Jahr einen Steuerzuschuss von jährlich einer Milliarde Euro. Außerdem steigt der Pflegebeitrag von gesetzlich Versicherten, die keine Kinder haben, um 0,1 Prozentpunkte. Das bringt laut Bundesregierung rund 400 Millionen Euro Mehreinnahmen pro Jahr.« Das ist doch mal eine Ansage: 1,4 Milliarden Euro mehr.

Schauen wir genauer hin: »Beides zusammen reicht aber nicht, um die höheren Personalkosten und die Zuschüsse zu finanzieren. Also hat sich die Bundesregierung einen Trick ausgedacht … Die soziale Pflegeversicherung zahlt lediglich Pauschalen für die Betreuung der Menschen. Bei Personen in Heimen mit »Pflegegrad 2« sind es beispielsweise 770 Euro. Diese Festbeträge sind zuletzt 2017 angehoben worden. Weil die tatsächlichen Kosten gestiegen sind, müssen Pflegebedürftige immer mehr selbst zahlen.«

Aber die Festbeträge müssen doch regelmäßig überprüft und angehoben werden, wird der eine oder andere an dieser Stelle anmerken. Richtig, da gibt es diesen § 30 SGB XI mit der hier einschlägigen Überschrift „Dynamisierung“. Im Absatz 1 heißt es:

»Die Bundesregierung prüft alle drei Jahre, erneut im Jahre 2020, Notwendigkeit und Höhe einer Anpassung der Leistungen der Pflegeversicherung. Als ein Orientierungswert für die Anpassungsnotwendigkeit dient die kumulierte Preisentwicklung in den letzten drei abgeschlossenen Kalenderjahren; dabei ist sicherzustellen, dass der Anstieg der Leistungsbeträge nicht höher ausfällt als die Bruttolohnentwicklung im gleichen Zeitraum. Bei der Prüfung können die gesamtwirtschaftlichen Rahmenbedingungen mit berücksichtigt werden.«

Das hat die Bundesregierung auch gemacht – das Ergebnis findet man in dieser Bundestags-Drucksache 19/25283 vom 09.12.2020: „Bericht der Bundesregierung über die Dynamisierung der Leistungen der Pflegeversicherung“. Dieser Bericht besteht nur aus zwei Absätzen und das Ergebnis der Prüfung findet man in diesem Satz:

»Der kumulierte Anstieg des Verbraucherpreisindexes in den Jahren 2017 bis 2019 betrug 4,8 Prozent. Die Bruttolohn- und -gehaltssumme je abhängig beschäftigten Arbeitnehmer stieg im gleichen Zeitraum um 8,9 Prozent. Vor diesem Hintergrund erscheint aus Sicht der Bundesregierung ein Anstieg der Leistungsbeträge um 5 Prozent angemessen.«

Und wir wurden dann mit diesem Satz in das neue Jahr 2021 entlassen: »Die Bundesregierung wird zeitnah über die Umsetzung der Dynamisierung entscheiden.«

Das hat sie nun auch getan – womit wir wieder bei dem Trick angelangt wären, von dem Eva Roth berichtet:

»… nun hat Schwarz-Rot beschlossen, dass die Pflegepauschalen doch nicht generell erhöht werden – und damit nicht einmal der Preisanstieg von 2017 bis 2019 ausgeglichen wird. Lediglich für Sachleistungen in der ambulanten Pflege und für die Kurzzeitpflege soll es ein bisschen mehr Geld geben. Wegen des Verzichts auf eine generelle Anhebung der Pflegeleistungen sparen die Kassen laut Gesundheitsministerium jährlich 1,8 Milliarden Euro. Und siehe da: Dank dieser Einsparung lassen sich die Zuschüsse für Heimbewohner und etwas höhere Gehälter dem Ministerium zufolge zumindest im kommenden Jahr finanzieren.«

Das muss man erst einmal sacken lassen, denn »für hilfebedürftige Menschen bedeutet dies unterm Strich ein Kürzungsprogramm. Denn für ihre Pflege sind nunmehr weniger Mittel eingeplant als noch im Dezember 2020: Einerseits erhält die Pflegeversicherung 1,4 Milliarden Euro mehr aus Steuermitteln und Beiträgen. Andererseits gibt es 1,8 Milliarden Euro weniger, weil Kassenleistungen eingefroren werden.«

Alles klar? Die Pflegebedürftigen finanzieren die sogenannte „Pflegereform“ selbst. Und wenn sie das zunehmend nicht mehr selbst finanzieren können, dann muss die Sozialhilfe nach SGB XI einspringen – bereits 2019 waren rund ein Drittel der in Heimen Lebenden auf Sozialhilfe angewiesen.

Eva Roth bilanziert: »Der sozialpolitische Skandal ist: Wenn – wie politisch gewollt – die Gehälter deutlich steigen und Personal aufgebaut wird, steigen nach den nun beschlossenen Regeln auch die Eigenbeträge deutlich, die Pflegebedürftige zahlen müssen. Zudem wird das Ziel der Sozialversicherung, Armut wegen Pflegebedürftigkeit in der Regel zu verhindern, verfehlt.«

Sollte sich der Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU), aber auch die noch mitregierende SPD, in den nächsten Wochen hinstellen und was von einer Entlastung der Pflegebedürftigen faseln und dass man doch mehr Geld für die Pflege zur Verfügung stellen würde, dann sollte jeder an die Weisheit aus dem Buch der Politik-Beobachtungen denken: „Frechheit siegt“. Es sei denn, man legt das offen, wie wir hier an der Nase herumgeführt werden (sollen).