Von der „Stärkung“ zur „Modernisierung“ der Betriebsräte. Eine der letzten Operationen der schwarz-roten Bundesregierung. Und was wird aus dem Patienten?

Eigentlich ist die Frage nach Betriebsräten im maßgeblichen Betriebsverfassungsgesetz eindeutig ausformuliert, denn im  § 1 Abs. 1 BetrVG heißt es unmissverständlich: „In Betrieben mit in der Regel mindestens fünf ständigen wahlberechtigten Arbeitnehmern, von denen drei wählbar sind, werden Betriebsräte gewählt.“ Sie werden gebildet, da steht nicht, sie man könnte sie möglicherweise und unter bestimmten Umständen bilden. Allerdings entspricht die forsch daherkommende Ansage nicht der Wirklichkeit in sehr vielen Betrieben. Nur in 8% der betriebsratsfähigen Betriebe* (in Ostdeutschland sind es 9%) haben überhaupt einen Betriebsrat, hinsichtlich der Beschäftigten sah es im vergangenen Jahr so aus, dass 40% (in Ostdeutschland sogar nur 36%) der Beschäftigten in einem Betrieb gearbeitet haben, in dem es auch einen Betriebsrat gegeben hat.

* Hier werden ausschließlich Betriebe mit fünf und mehr Beschäftigten berücksichtigt: Die Betrachtung der Betriebe ab fünf Beschäftigte ergibt sich aufgrund der Gesetzeslage, die erst ab dieser Betriebsgröße die Wahl eines Betriebsrats zulässt. Damit sind immerhin rund 37% der privatwirtschaftlichen Betriebe im Westen und 42 % im Osten per se ohne eine gesetzlich legitimierte Interessenvertretung. Allerdings stellt sich die Situation weniger dramatisch dar, wenn man von der Betriebs- zur Beschäftigtenperspektive wechselt. Da in der großen Anzahl Kleinstbetriebe nur ein relativ kleiner Teil der Gesamtbeschäftigten arbeitet, ergibt sich ein Anteil an Arbeitnehmern, die qua Gesetz ohne einen Betriebsrat bleiben, von 6% im Westen und 8% im Osten.
➞ Das IAB-Betriebspanel ist eine repräsentative Arbeitgeberbefragung. Jährlich werden von Ende Juni bis Oktober bundesweit rund 15.500 Betriebe aller Wirtschaftszweige und Größenklassen befragt. Die Befragung wird in persönlich-mündlichen Interviews durchgeführt. Mittlerweile existiert das IAB-Betriebspanel als umfassender Längsschnittdatensatz in Westdeutschland seit 1993 und in Ostdeutschland seit 1996

Nun nähert sich die noch laufende Legislaturperiode ihrem Ende und im September 2021 stehen Bundestagswahlen vor der Tür. Da lohnt sich der Blick in das Vertragswerk, auf dem die Zusammenarbeit von SPD und CDU/CSU seit 2018 basiert: dem Koalitionsvertrag. Dort findet man diese ziemlich präzise Zielsetzung, was Betriebsräte angeht:

»Wir wollen die Gründung und Wahl von Betriebsräten erleichtern. Dazu werden wir das vereinfachte Wahlverfahren für alle Betriebe mit 5 bis 100 wahlberechtigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern verpflichtend machen. Für Betriebe mit 101 bis 200 wahlberechtigten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ermöglichen wir die Wahl zwischen dem vereinfachten und allgemeinen Wahlverfahren. 
Wir setzen uns dafür ein, dass auch bei grenzüberschreitenden Sitzverlagerungen von Gesellschaften die nationalen Vorschriften über die Mitbestimmung gesichert werden.«

Kurz vor dem Weihnachtsfest 2020 wurde zur Umsetzung dieses noch offenen Punktes aus dem Bundesministerium für Arbeit und Soziales ein Referentenentwurf für ein „Betriebsrätestärkungsgesetz“ bekannt. Vgl. dazu ausführlicher den Beitrag Schafft er das vor dem „Nichts geht mehr“? Der Bundesarbeitsminister will Betriebsräte mit einem Stärkungsgesetz unter die Arme greifen vom 20. Dezember 2020. Und am 8. Januar 2021 wurde dann dieser Beitrag nachgeschoben: Der Bundesarbeitsminister will Betriebsräte stärken, das Kanzleramt will das nicht bei den Mitbestimmungsrechten. Ein Update zum Entwurf eines Betriebsrätestärkungsgesetz. Offensichtlich, das deuten bereits die Überschriften dieser Beiträge an, gab es Schwierigkeiten innerhalb der Bundesregierung, was die Umsetzung der gesetzgeberischen Vorschläge aus dem BMAS anging. Dies vor allem, weil der Bundesarbeitsminister recht weitgehende Regelungsvorschläge das „Home Office“ bzw. das „mobile Arbeiten“ betreffend in den Entwurf eingebaut hatte, was von Seiten der Unionsparteien abgelehnt wurde.

Wie dem auch sei, nunmehr wird aus Berlin Vollzug gemeldet. Allerdings ist auf dem Weg dahin aus dem „Betriebsrätestärkungsgesetz“ ein „Betriebsrätemodernisierungsgesetz“ geworden, was nicht nur eine semantische Transformation mit sich gebracht hat. Der Entwurf eines Gesetzes zur Förderung der Betriebsratswahlen und der Betriebsratsarbeit in einer digitalen Arbeitswelt, so der ganz offizielle Namen des nunmehr vom Bundestag verabschiedeten Regelwerks (vgl. dazu Bundestag modernisiert das Recht der Betriebsräte), wurde in der vom Ausschuss für Arbeit und Soziales geänderten Fassung (vgl. Bundestags-Drucksache 19/29819 vom 19.05.2021) angenommen.

»Der Gesetzentwurf erleichtert die Gründung von Betriebsräten und stärkt den Schutz der hieran beteiligten Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer«, so das BMAS über das Betriebsrätemodernisierungsgesetz. Zu dem Punkt „Erleichterung von Betriebsratsgründungen und -wahlen“ wird vom Ministerium auf diese Maßnahmen hingewiesen: Der Anwendungsbereich der vereinfachten Wahlverfahren wird erweitert. Dazu werden die Schwellenwerte für die Anwendung des verpflichtenden vereinfachten Wahlverfahrens und des vereinfachten Wahlverfahrens nach Vereinbarung angehoben. Um künftig mehr Beschäftigte zu motivieren, sich zur Wahl für den Betriebsrat zu stellen, wird die Zahl der notwendigen Stützunterschriften für einen Wahlvorschlag gesenkt. Die Anfechtbarkeit von Betriebsratswahlen wegen Fehlern in der Wählerliste wird eingeschränkt. Und: Damit Arbeitnehmer bei der Gründung eines Betriebsrats besseren Schutz erhalten, wird der Kündigungsschutz zur Sicherung der Wahlen zum Betriebsrat verbessert.

»Nach Auffassung der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di) ist das geplante Betriebsrätemodernisierungsgesetz eine wichtige Etappe auf dem Weg zur Stärkung der betrieblichen Mitbestimmung. „Es besteht seit vielen Jahren Handlungsbedarf für einen verbesserten Schutz bei der Gründung von Betriebsräten. Insbesondere auf diesem Feld bringt das Gesetz deutliche Fortschritte“, sagte der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke«, wie man dieser Mitteilung der Gewerkschaft entnehmen kann: Schutz von Betriebsräten: Wichtige Etappe erreicht. Also alles gut?

Zurückhaltender ist die Bewertung, die aus der IG Metall unter der Überschrift Betriebsrätemodernisierungsgesetz ist erster Schritt auf dem Weg zu einer zeitgemäßen Mitbestimmung kommt. Dort wird Christiane Benner, Zweite Vorsitzende der IG Metall, mit diesen Worten zitiert: »„Das Betriebsrätemodernisierungsgesetz ist ein erster Schritt auf dem Weg zu einer zeitgemäßen Mitbestimmung. Allerdings besorgt uns, dass Wahlinitiator*innen von Betriebsratswahlen künftig zwar besser, aber aus Sicht der IG Metall immer noch nicht umfassend genug geschützt werden. Jede sechste Betriebsratsgründung in Deutschland wird verhindert, mit teilweise rabiaten Methoden und persönlichen Folgen, die auch gesellschaftlich bedenklich sind.«

Kritische Stimmen weisen darauf hin, dass es eigentlich nur eine substanzielle Verbesserung in dem nun verabschiedeten Gesetz geben würde: Statt drei sollen in Zukunft sechs Personen Kündigungsschutz erhalten, sobald sie eine notariell beglaubigte Betriebsratsgründung anstreben. Aber: Die im Regierungsentwurf vorgesehene Erweiterung des Kündigungsschutzes ist ganz entscheidend für die Durchführung von Betriebsratswahlen und Schutz gegen Behinderungen. Hier hat es allerdings einen Rückschritt gegeben, denn nach dem Referentenentwurf aus dem BMAS für ein damals noch Stärkungsgesetz genanntes Vorhaben sollten auch die Wahlinitiatoren in den Schutzbereich des § 103 Abs. 1 BetrVG aufgenommen werden, was bedeuten würde, dass eine Kündigung die Zustimmung des Arbeitsgerichts voraussetzt – genau diese Schutzvorschrift ist nun bei der Transformation zu einem „Modernisierungsgesetz“ verloren gegangen. Nur ein Kündigungsschutz nach § 103 BetrVG würde es den Betroffenen ermöglichen, weiter im Betrieb zu bleiben. Sie müssen erst ausscheiden, wenn die Berechtigung der Kündigung feststeht. Vorgeschobene Kündigungen verlören damit ihre Wirksamkeit.
Geboten wäre ein zweistufiger besonderer Kündigungsschutz: eine vorherige Zustimmung des Arbeitsgerichts sowie ein nachwirkender Kündigungsschutz für Einladende/Antragstellende und die sogenannten Vorfeld-Initiatoren, so auch die Hans-Böckler-Stiftung in ihrer schriftlichen Stellungnahme zum Gesetzentwurf.

War da nicht was mit aktiven Behinderungen der Gründung von Betriebsräten und ihrer Arbeit? Wo ist das Union Busting geblieben?

Man muss bei einer kritischen Bewertung dessen, was da jetzt durch das Parlament gegangen ist, berücksichtigen, dass eigentlich die seit Jahren immer wieder punktuell ans Tageslicht gezogenen aktiven Betriebsratsverhinderungsaktivitäten Ausgangspunkt waren, dass man die Inanspruchnahme einer (eigentlich) Selbstverständlichkeit, also der Wahl eines Betriebsrates, durch gesetzgeberische Maßnahmen befördern wollte. Und dass es diese Aktivitäten gab und gibt, zeigt die seit vielen Jahren geführte Debatte und die dort auch präsentierten Beispiele für das sogenannte „Union Busting“ – sowie die Tatsache, dass sich eine ganze Industrie an Juristen ausdifferenziert hat, die ihre Dienstleistung einer Verhinderung von Betriebsräten oder gar der Zerstörung bereits vorhandener Betriebsratsstrukturen gegen ordentliche Honorare der Arbeitgeberseite andienen. Vgl. dazu in diesem Blog beispielsweise den Beitrag Die Branche der Arbeitnehmer unter Druck setzenden Betriebsrats- und Gewerkschaftsbekämpfungssanwälte wird selbst unter Druck gesetzt vom 22. September 2015. Dort wurde auch auf diese bereits 2014 veröffentlichte Studie hingewiesen:

➔ Werner Rügemer und Elmar Wigand: Union-Busting in Deutschland. Die Bekämpfung von Betriebsräten und Gewerkschaften als professionelle Dienstleistung. Eine Studie der Otto Brenner Stiftung, Frankfurt am Main 2014

Gegen die vielfältigen Ausformungen des „Union Busting“ engagiert sich auch die „Aktion gegen Arbeitsunrecht“ – vgl. dort die Seite Brennpunkt Betriebsrat mit regelmäßigen „Frontberichten“ über das, was in manchen Betrieben so abgeht. Und von denen hat sich Elmar Wigand unter der Überschrift Wer Betriebsräte stärken will, darf von Union Busting nicht schweigen! zum nunmehr verabschiedeten Gesetzentwurf zu Wort gemeldet: »Tatsächlich stehen in dem „Betriebsrätemodernisierungsgesetz“ nur Kleinigkeiten. Interessant ist, was fehlt: Von Union Bustern, professioneller Betriebsratsbehinderung, Mobbing, Rechtsnihilismus, gar bandenmäßiger Verabredung, Anstiftung zu Straftaten durch Union Busting-Kanzleien, Detektive, Provokateure etc. ist keinerlei Rede.«

Es bleibt nicht nur bei einer Kritik – Die Aktion gegen Arbeitsunrecht fordert zusammen mit Labournet, der Katholischen Arbeitnehmerbewegung und vielen von Union Busting-Betroffenen und ihren Angehörigen diese Maßnahmen:

➞ Die Bundesländer müssen Schwerpunktstaatsanwaltschaften für Wirtschaftskriminalität einrichten, oder — falls diese vorhanden sind — Sonderabteilungen für Arbeitsbeziehungen schaffen, um Union Busting analog zur Steuerhinterziehung effektiv zu bekämpfen!
➞ Strafmaß erhöhen: Betriebsratsbehinderung als Offizialdelikt! Bislang kann Betriebsratsbehinderung nur durch den betroffenen Betriebsrat oder eine vertretene Gewerkschaft angezeigt werden. Auf Betriebsratsbehinderung steht derzeit dieselbe Strafe wie auf Beleidigung. Doch Union Busting ist kein Kavaliersdelikt. Union Busting ist gegen das Grundrecht auf Koalitionsfreiheit am Arbeitsplatz gerichtet.
➞ Verpflichtendes Melderegister für Betriebsratswahlen! Die genaue Zahl der Betriebsräte und Betriebsratsgründungen in Deutschland ist ebenso unbekannt, wie ihre Entwicklung oder ihr Scheitern. Bislang gibt es nur grobe Schätzungen aufgrund von Stichproben. So sollen laut IAB nur noch ca. 9% aller wahlberechtigten Betriebe mit fünf oder mehr Angestellten einen Betriebsrat haben. Doch der Befund ist umstritten und vermutlich zu optimistisch. Es fehlen genaue, empirische Daten.

Ein Beispiel aus den Niederungen der Betriebsratsbekämpfungswelt

Zur Abrundung und zugleich zur Konkretisierung, dass das, was hier als „Union Busting“ bezeichnet wird, keineswegs und gerade nicht ein akademisches Thema ist, aus der Vielzahl an Fallbeispielen der Hinweis auf Vorgänge in einer Branche, die generell im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit steht: der Pflegebranche. Dazu dieser Beitrag der Gewerkschaft ver.di vom 29. April 2021: Kommerzieller Pflegeheimbetreiber kündigt öffentlich die Überwachung von Betriebsräten durch Privatdetektive an – ver.di: „Neuer Tiefpunkt im Umgang mit Arbeitnehmerrechten“. Es geht um das Vorgehen der Residenz-Gruppe gegen Betriebsräte in Bremen. Das zum französischen Orpea-Konzern gehörende Unternehmen scheiterte in erster Instanz damit, die örtliche Betriebsratsvorsitzende und ihre Stellvertreterin fristlos zu kündigen, sie aus der Interessenvertretung auszuschließen bzw. das Gremium komplett aufzulösen. »Die Orpea-Gruppe ist mit über 1.100 Einrichtungen in 23 Ländern nach eigenen Angaben europäischer Marktführer in der Altenpflege. Es ist nicht das erste Mal, dass sie in Deutschland durch einen rabiaten Umgang mit Beschäftigtenrechten auffällt. An der ebenfalls zum Konzern gehörenden Celenus Reha-Klinik im thüringischen Bad Langensalza versuchte das Management 2018 ebenfalls, zwei Gewerkschafterinnen fristlos zu kündigen. Diese blieben standhaft, am Ende eines langen Konflikts stellte das Unternehmen die Einschüchterungsversuche ein.« Zurück nach Bremen: Außer mit den Kündigungsbegehren ist das Unternehmen zeitweise auch mit Hausverboten und dem Zurückhalten von Gehaltszahlungen gegen Betriebsräte vorgegangen. Zudem hat es eine „Schadensersatzklage“ wegen angeblicher „Rufschädigung“ eingereicht. Neuer Höhepunkt in der Auseinandersetzung »ist die Äußerung des Rechtsanwalts des kommerziellen Pflegeheimbetreibers, der bei einer Anhörung vor dem Bremer Arbeitsgericht ankündigte, Betriebsräte von einer Detektei überwachen zu lassen. Mehrere Teilnehmende der Verhandlung, darunter die ver.di-Gewerkschaftssekretärin Kerstin Bringmann und der Rechtsanwalt Michael Nacken, bestätigen die Äußerungen.« „Statt nach dieser krachenden Niederlage endlich die gesetzliche Mitbestimmung zu achten, geht einer der größten Pflegeheimbetreiber sogar so weit, demokratisch gewählte Beschäftigtenvertreterinnen öffentlich mit Bespitzelung durch Privatdetektive zu drohen. Das ist ein neuer Tiefpunkt im Umgang des Orpea-Konzerns mit Arbeitnehmerrechten“, so Sylvia Bühler, die im ver.di-Bundesvorstand für das Gesundheitswesen zuständig ist.

Wie gesagt, nur eines der vielen Beispiele aus der Praxis.

Und das muss auch noch sein: Alles hat seinen Preis – für das geschrumpfte Modernisierungsgesetz zahlen (auch) die Erntehelfer

Und einen letzten Punkt muss man der Vollständigkeit in Erinnerung rufen: Die SPD und ihr Bundesarbeitsminister haben den abgespreckten Entwurf des Betriebsrätemodernisierungsgesetzes nur deshalb bei der Unionsfraktion durchbekommen, weil deren Bundeslandwirtschaftsministerin ein Geschenk für die deutschen Spargel & Co.-Bauern bekommen hat: 102 Tage sogenannte Saisonarbeit ohne Sozialversicherung. Dazu bereits der Beitrag Go East – auch mit Hilfe einer Nicht-Sozialversicherung hier. Die Erntehelfer aus dem Osten und was das mit einer Modernisierung der Betriebsräte (nicht) zu tun hat, der hier am 31. März 2021 veröffentlicht wurde. Wieder einmal hat man sich die Hände schmutzig gemacht.