Bereits im Herbst des vergangenen ersten Corona-Jahres gab es zahlreiche Berichte über die Tatsache, dass das Corona-Virus eben kein großer Gleichmacher ist, sondern dass sich zahlreiche vor Corona ausgeprägte soziale Ungleichheiten auch in Form einer unterschiedlichen Betroffenheit durch das Virus hinsichtlich der Infektions-, Erkrankungs- und Sterberisiken (wie aber auch mit Blick auf sehr ungleiche Verteilung der negativen ökonomischen und sozialen Folgen der Pandemiebekämpfungspolitik) nicht nur gespiegelt, sondern teilweise potenziert haben. Dazu aus diesem Blog ausführlicher der Beitrag Das Corona-Virus und die Ungleichheit: Vom anfänglichen „großen Gleichmacher“ zu einem in Umrissen immer deutlicher erkennbaren „Ungleichheitsvirus“, der am 6. März 2021 veröffentlicht wurde. Und am 21. März 2021 wurde dann dieser Beitrag veröffentlicht: Das Corona-Virus als „Ungleichheitsvirus“: Die Umrisse werden deutlicher erkennbar. Und „Menschen mit Migrationshintergrund“ diesseits und jenseits der Statistik. Die empirischen Hinweise auf eine sehr ungleiche Verteilung der Risiken und der tatsächlichen Betroffenheit durch das Virus lagen schon seit Monaten vor – und auch die immer wieder vorgetragenen Schlussfolgerungen, dass man (eigentlich) gezielt angesichts der teilweise extremen Ungleichheiten bei der so bedeutsamen Impfung eine risikobezogene Differenzierung hätte vornehmen müssen bzw. sollen.
Erst in den vergangenen Tagen sind dann auch erste praktische Umsetzungen in Form einer von der üblichen Priorisierung abweichenden sozialräumlichen Ausgestaltung der Impfungen in einigen Großstädten bekannt geworden.
Beispiel Köln: »Seit vergangenem Herbst waren die Menschen in den „vulnerablen Sozialräumen“ der Großstadt von der Pandemie besonders stark betroffen – in den Stadtteilen Mülheim, Kalk, Finkenberg, Meschenich und Chorweiler. Vor allem sind es alte Industrie- und Arbeiterviertel und Hochhaussiedlungen aus den siebziger Jahren, in denen viele Einwandererfamilien und Sozialhilfeempfänger leben. Von Montag bis Mittwoch hatten in Köln-Chorweiler mobile Teams 2000 Bürger geimpft, 1000 Impfdosen hatte die nordrhein-westfälische Landesregierung zur Verfügung gestellt. Eine Sprecherin der Stadt Köln sagte der Frankfurter Allgemeinen Zeitung: „Wir könnten pro Tag 750 Menschen in solchen Stadtvierteln impfen, wir bräuchten insgesamt aber 50000 Impfdosen zusätzlich von der Landesregierung – am besten von Johnson & Johnson, weil dann nur eine Impfung notwendig ist“, kann man diesem Bericht entnehmen, der am 6. Mai 2021 veröffentlicht wurde: Das Risiko der Armen. Und am Beispiel von Kölnberg, einem 1973 errichteten Hochhauskomplex, wo 4.000 Menschen aus 60 Ländern leben, vgl. die Reportage Köln: Corona-Impfung im sozialen Brennpunkt von Peter Hille.
Die Vorgeschichte, die zu diesen Impfaktionen geführt hat, wurde in diesem Beitrag vom 30. April 2021 dargelegt: Die einen wollen nicht mehr genau hinschauen, die anderen mobile Impfteams in „Hochhaus-Siedlungen“ schicken. Das Ungleichheitsvirus ist angekommen in der impfpolitischen Debatte. Aber zu spät? Und dass hier Handlungsbedarf besteht, das kann man den mittlerweile anschwellenden Untersuchungen entnehmen, bei denen es nicht nur um die ungleiche sozialräumliche Verteilung der Viruslast geht, sondern in denen der Finger auf die nächste Ungleichheitswunde gelegt wird: auf die Verteilung der Impfungen, denen ja verständlicherweise eine Schlüsselrolle bei der Pandemiebekämpfung zugeschrieben wird.
Ausgangspunkt waren und sind Analysen hinsichtlich der unterschiedlichen räumlichen Verteilung der Infektionen. Bereits seit längerem gab es Hinweise auf entsprechende Daten aus Bremen, Berlin, Köln. Nun hat sich auch die baden-württembergische Landeshauptstadt Stuttgart eingereiht: »Das Statistische Amt und das Gesundheitsamt Stuttgart haben die rund 18.000 Infektionen des ersten Jahres der Pandemie in der Landeshauptstadt unter die Lupe genommen. Die umfängliche Analyse untersucht das Infektionsgeschehen in allen 436 Stadtvierteln und unterscheidet es nach sozial bestimmbaren Kategorien«, berichtet die Stadt Stuttgart unter der Überschrift Studie: Diese Strukturen begünstigen Virus‐Ausbreitung: »Markus Niedergesäss, Mitautor der Studie, sagte: „Unser kleinräumiger Ansatz zeigt, dass strukturschwache Stadtviertel ein erhöhtes Infektionsgeschehen aufweisen. Kennzeichen für diese Bereiche sind beengte Wohnverhältnisse und ein hoher Anteil an benachteiligten Bevölkerungsgruppen, auch Umweltfaktoren wie Lärm finden Niederschlag im Infektionsgeschehen. Allerdings verzeichnen Stadtviertel auch dann eine hohe Ansteckungsrate, wenn sich dort Pflegeheime befinden.“ Die Analyse beziehe sich dabei auf lokale Strukturen. Rückschlüsse auf ein individuelles Infektionsrisiko seien nur bedingt zulässig.« Ansgar Schmitz‐Veltin vom Statistischen Am der Stadt Stuttgart, wird mit diesen Befunden zitiert: „Stadtbezirke sind in sich sehr heterogen und daher als Analyseeinheit nur bedingt geeignet. Daher haben wir uns die Stadtviertel angeschaut. Bei diesem kleinräumigen Herangehen zeigt sich ein erhöhtes Infektionsgeschehen entlang des Neckars von Obertürkheim im Osten bis Mühlhausen im Norden sowie einzelne Hotspots in Zuffenhausen, Feuerbach und Weilimdorf. Diese Stadtviertel weisen recht hohe Anteile auf an BonusCard‐Inhabern, Nicht‐EU‐Ausländern, auch an Flüchtlingsunterkünften oder Mehrpersonenhaushalten. Zudem finden sich dort auch größere Pflegeheime, die Coronaausbrüche verzeichneten.“
➔ Stadt Stuttgart (2021): Ein Jahr COVID-19 in Stuttgart: Strukturelle Erklärungen des Infektionsgeschehens auf dem Prüfstand. Ergebnisse, Stuttgart: Statistisches Amt, Gesundheitsamt und Sozialamt, 5. Mai 2021
Nun sind wir, wie bereits ausgeführt, schon mittendrin in der Phase, in der von Tag zu Tag Fortschritte bei den Impfungen der Bevölkerung vermeldet werden. Und erneut werden wir auch hier mit Ungleichheitsstrukturen konfrontiert:
»Eine Auswertung von Corona-Impfquoten in Baden-Württemberg bestätigt Befürchtungen sozialer Benachteiligung: Hochbetagte mit Migrationshintergrund wurden teils kaum oder nur mit Verzögerung erreicht«, so Florian Staeck unter der Überschrift Corona-Impfung als soziale Frage: Ganze Gruppen wurden „vergessen“. Auch hier geht es um die Unterschiede auf der räumlichen Ebene: »Wie kommt es, dass im Landkreis Emmendingen 30,7 Prozent der Einwohner eine Erstimpfung gegen das Coronavirus erhalten haben, in Pforzheim aber nur 11,9 Prozent (Stand 2. Mai)? Das geht aus einer Auswertung der baden-württembergischen Landesregierung hervor, die die Impfquoten der Stadt- und Landkreise ausgewertet hat.«
»Danach sind die Impfquoten in Universitätsstädten (Freiburg: 27,1 Prozent, Landkreis Tübingen: 26,6 Prozent) oder auch im ländlichen Raum wie in Emmendingen besonders hoch. Anders dagegen Städte, die wie Mannheim (17,9 Prozent Erstgeimpfte) größere Bevölkerungsgruppen mit „schwierigen sozioökonomischen Verhältnissen aufweisen“, so das Sozialministerium. Die Unterschiede ließen sich allein aus der Bevölkerungszahl, den Impfstoffmengen oder der Entfernung zum nächsten Impfzentrum nicht erklären.«
Der Mannheimer Oberbürgermeister Peter Kurz berichtet von Impfquoten in bestimmten Stadtteilen, die um den Faktor 3 niedriger sind als in Quartieren mit günstigen sozialen Rahmendaten. »Besonders erschreckend: In den ersten sechs Wochen der Impfkampagne wurden in Mannheim über 80-jährige Bewohner mit Migrationshintergrund fast überhaupt nicht geimpft – obwohl sie in der Stadt ein Viertel dieser Altersgruppe ausmachen. Mannheim hat auf die Auswertung bereits mit einem Modellprojekt reagiert. Seit Anfang der Woche wird im Stadtteil Hochstätt auch in einem Stadtteilzentrum geimpft.«
Alos auch versucht man, nicht nur zu analysieren, sondern auch Konsequenzen zu ziehen.
»Die Auswertungen ließen klar erkennen, dass insbesondere in sozialen Brennpunkten und Quartieren mit sozial benachteiligter Bevölkerung aufsuchende Impfangebote wichtig seien, sagte Landesgesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne): „Wir müssen verstärkt zu jenen Menschen gehen, die ansonsten schwer zu erreichen sind.“« Und dass das tatsächlich wirksam ist, kann man diesem Passus entnehmen: »Dass aktive Sozialarbeit vor Ort einen Unterschied machen kann, zeigt sich nach Angaben des Landesgesundheitsamts bei den Impfquoten unter Obdachlosen. Diese können in Wohnheimen und Unterkünften seit einigen Wochen von mobilen Teams geimpft werden – die Impfquoten variieren zwischen den Städten im Südwesten erheblich.« Je nachdem, ob und wie davon Gebrauch gemacht wird.