Die einen wollen nicht mehr genau hinschauen, die anderen mobile Impfteams in „Hochhaus-Siedlungen“ schicken. Das Ungleichheitsvirus ist angekommen in der impfpolitischen Debatte. Aber zu spät?

»Die Stadt München hat entschieden, künftig nicht mehr aufzuschlüsseln, aus welchen Vierteln besonders viele Corona-Neuinfektionen gemeldet werden. Hintergrund sind Befürchtungen, die Menschen dort könnten stigmatisiert werden. Köln geht einen anderen Weg – und wird Menschen zum Beispiel in Hochhaussiedlungen bald bevorzugt impfen«, kann man einer Meldung des Deutschlandfunks entnehmen. Erneut ein Beispiel für das föderale Durcheinander? Selbst im angesprochenen Freistaat Bayern gibt es offensichtlich keine eindeutige Linie: »Während Nürnberg die „Problemviertel“ im Auge hat, verzichtet München darauf«, so dieser Beitrag: Hohe Inzidenzen in „Problemvierteln“: Keine Zahlen in München. »Die bayerische Landeshauptstadt verzichtet auf eine Aufschlüsselung der Statistik, um einzelne „Problemviertel“ nicht zu stigmatisieren. „Stadtviertel mit besonders hoher Inzidenz würden gebrandmarkt,“ so lautet die offizielle Begründung der Stadt München, weshalb sie keine gesonderten Infektionszahlen je nach Stadtviertel erhebt. Man erhalte keine Auskunft darüber, wo die Infektion stattfand, sondern lediglich darüber, wo infizierte Menschen wohnten,«, so die Auskunft der bayerischen Landeshauptstadt. Man kann die Augen natürlich verschließen vor der ungleichen Verteilung. Man kann aber auch genauer hinschauen, nicht um zu stigmatisieren, sondern um eine gezielte Pandemiebekämpfung vornehmen zu können.

»In Städten wie Hamburg hat die Auswertung des Wohnorts der Infizierten anhand von Daten der Sozialämter dagegen gezeigt, dass sich in sozial schwächeren Gegenden wohnende Menschen bis zu sechs Mal häufiger mit Corona infizierten als andere. Auch Nürnberg verzeichnet deutlich höhere Infektionszahlen in sozial angespannten Quartieren, was auch mit dem vorhandenen Wohnraum zusammenhängt.«

Der wissenschaftliche Leiter des Divi-Intensivregisters, Christian Karagiannidis, wird mit diese Worten zitiert: „Auf den Intensivstationen liegen überdurchschnittlich viele Menschen aus ärmeren Bevölkerungsschichten, Menschen mit Migrationshintergrund und sozial Benachteiligte“ … „Um diese Menschen besser zu schützen und die Intensivstationen zu entlasten, sollten alle Bürgermeister und Gesundheitsämter mobile Impfteams in die sozialen Brennpunkte ihrer Städte schicken. Das würde eine Menge bringen …, (so) Karagiannidis, der auch Präsident der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN) ist.

Und das wird zunehmend von einigen aufgegriffen – dazu Sven Lemkemeyer in seinem Beitrag Hohe Inzidenzen in Brennpunkten – können mobile Impfteams helfen? »Bundessozialminister Hubertus Heil unterstützt … die Pläne, in sogenannten sozialen Brennpunkten Impfmobile einzusetzen. „Ich halte es für dringend geboten, dass das Thema Impfen nicht zu einer sozialen Frage in Deutschland wird“ … Er nannte es „eine ausgezeichnete Idee“, mobile Teams in solchen Regionen einzusetzen, beispielsweise Busse.« Und so ein Standpunkt ist offensichtlich keine parteipolitische Frage: »Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet kündigte entsprechende Aktionen bereits an: Wo Menschen in beengten Wohnverhältnissen lebten, sei die Gefahr sich anzustecken größer als im großzügig angelegten Einfamilienhaus, sagte der CDU-Chef im Düsseldorfer Landtag. Deshalb müsse jetzt ein Schwerpunkt gesetzt werden beim Impfen, wo die Menschen enger zusammenlebten als anderswo.«

Die seit Monaten vorliegenden Erkenntnisse über das höchst ungleich erteilte Virus werden nun – endlich, aber auch noch rechtzeitig? – auf die offene Bühne gehoben

Wenn man in diesen Tagen die Berichterstattung durchforstet, dann kann man zu dem Eindruck gelangen, dass das mit der ungleichen Verteilung des Virus in Abhängigkeit von den unterschiedlichen Lebenslagen irgendwie erst seit kurzem präsentiert worden ist und nun darauf reagiert wird.

Dem ist natürlich nicht so. Seit Monaten wird über entsprechende Befunde aus der Wissenschaft hingewiesen und sich daraus – eigentlich – ergebende Konsequenzen diskutiert. Ein Beispiel gefällig?

In Großbritannien verknüpfen die Statistiker »den offiziellen Index of Multiple Deprivation, eine sozialgeographische Armutsstatistik, mit Daten über Corona-Todesfälle, was schon im Frühjahr 2020 fast in Echtzeit den Beweis erbrachte: Je ärmer die Gegend, desto höher die Mortalität.« Derartige Erkenntnisse sind übrigens nicht nur von akademischer Relevanz, jedenfalls im Vereinigten Königreich: »Jüngst wurde daraus die Forderung abgeleitet, deprivation und ethnicity als gleichberechtigte Risiko-Faktoren neben hohem Alter anzuerkennen – und betroffene Gruppen bevorzugt zu impfen.« (Römer 2021).

In einer Überblicksdarstellung aus dem September schreibt das Robert-Koch-Institut (RKI), dass „vor allem die Studien mit großer Fallzahl aus den USA und Großbritannien ein deutliches Bild zum Ausmaß der sozioökonomischen Ungleichheit“ zeichneten. Demnach hätten „Menschen aus Regionen mit einem hohen Anteil an Personen mit niedrigem Einkommen ein erhöhtes Risiko für einen Krankenhausaufenthalt im Rahmen einer COVID-19 Erkrankung“. In Deutschland hingegen werden diese Daten kaum erhoben, wie das RKI kritisch anmerkte. Vgl. dazu ausführlicher die Übersichtsdarstellung von Benjamin Wachtler et al. (2020): Sozioökonomische Ungleichheit und COVID-19 – Eine Übersicht über den internationalen Forschungsstand, in: Journal of Health Monitoring, 2020 5 (S7), S. 3-18.

Na ja, wird der eine oder andere einwenden, Befunde aus Großbritannien waren das, auch aus den USA und anderen Ländern wurden ähnliche Erkenntnisse berichtet. Aber wir sind hier in Deutschland. Dann werfen wir mal ein Blick auf den folgenden Passus:

Bremen hat sehr genau analysiert, aus welchen Stadtteilen die meisten Infizierten kommen. In der ersten Welle traf es vornehmlich das reiche Schwachhausen – vermutlich, weil sich vor allem Skiurlauber infizierten. Aber danach änderte sich das Bild. „Gerade in Stadtteilen mit hoher Wohnraumdichte, niedrigem Durchschnittseinkommen und höheren Armutsquoten haben wir höhere Neuinfektionsquoten gehabt“, sagt der Sprecher der Bremer Gesundheitssenatorin. Berlin hat eine Untersuchung zum Wohnumfeld und der sozioökonomischen Situation der Betroffenen veröffentlicht. Ergebnis: „Je höher der Anteil der Arbeitslosen beziehungsweise Transferbeziehenden in den Bezirken ist, desto höher ist die Covid-19-Inzidenz.“ Weiterhin seien – wie in Bremen – dichter besiedelte Bezirke und Viertel mit vielen Einwanderern besonders betroffen. Vgl. zu den Berliner Daten ausführlicher Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung (2020): Das SARS-CoV-2-Infektionsgeschehen in Berlin – Zusammenhang mit Soziodemografie und Wohnumfeld, Berlin: Stand: 29.10.2020).

Dazu auch der Beitrag Das Corona-Virus und die Ungleichheit: Vom anfänglichen „großen Gleichmacher“ zu einem in Umrissen immer deutlicher erkennbaren „Ungleichheitsvirus“, der hier am 6. März 2021 veröffentlicht wurde. Und am 21. März 2021 wurde dann dieser Beitrag geliefert: Das Corona-Virus als „Ungleichheitsvirus“: Die Umrisse werden deutlicher erkennbar. Und „Menschen mit Migrationshintergrund“ diesseits und jenseits der Statistik. Und darin wurden Befunde präsentiert, die bereits eine Zusammenfassung vorher eingesammelter Forschungsergebnisse darstellen. Auch dazu ein Beispiel:

Unter der Überschrift Soziale Unterschiede in der COVID-19-Sterblichkeit während der zweiten Infektionswelle in Deutschland berichtet das Robert Koch-Institut (RKI) am 16. März 2021:

»Während der zweiten Infektionswelle im Herbst und Winter 2020/2021 stieg die COVID-19-Sterblichkeit in Deutschland stark an und erreichte im Dezember und Januar einen Höchststand. Nach den Meldungen der Gesundheitsämter sind im Dezember und Januar mehr als 42.000 Personen, bei denen COVID-19 festgestellt wurde, verstorben. Davon waren etwa 90 Prozent im Alter von 70 Jahren und älter.« Und dann: »Der Anstieg der COVID-19-Todesfälle fiel in sozial benachteiligten Regionen Deutschlands am stärksten aus – sowohl bei Männern als auch bei Frauen. Im Dezember und Januar lag die COVID-19-Sterblichkeit in sozial stark benachteiligten Regionen um rund 50 bis 70 Prozent höher als in Regionen mit geringer sozialer Benachteiligung.«

Und auch das soll hier als weiterer Beleg angeführt werden, dass wir seit längerem wissen, dass das Virus sehr ungleiche Schneisen schlägt:

In einem ZEIT-Artikel (vgl. Amrai Coen und Martin Machowecz: Liegen auf den Intensivstationen wirklich mehr Menschen mit Migrationshintergrund?, in: DIE ZEIT, Nr. 12/2021, 18.03.2021, S. 4) wird Cihan Çelik, Lungenarzt am Klinikum Darmstadt, zitiert. Bereits im August des vergangenen Jahres, also 2020!, antwortete er in einem Interview der FAZ auf die Frage, welche Patienten aktuell bei ihm lägen: »Seitdem es hier wieder losgeht, haben alle neuen Patienten einen Migrationshintergrund. Ich spreche das an, weil es mir Sorgen bereitet. Es könnte zu Mythen, Missverständnissen und Vorurteilen führen, wenn man dem nicht frühzeitig entgegentritt.« »Ich wollte das direkt ansprechen«, sagt er am Telefon, »ich kenne die deutsche Gesellschaft ja«, so Amrai Coen und Martin Machowecz in ihrem Artikel „Liegen auf den Intensivstationen wirklich mehr Menschen mit Migrationshintergrund?“ Çelik ist in Hessen geboren und aufgewachsen. Es gab Phasen, in denen jeder zweite seiner Patienten einen Migrationshintergrund hatte, sagt er. Und ihm gelingt es, den Finger auf die bereits angesprochene offene Wunde zu legen: Cihan Çelik, der selbst fließend Türkisch spricht, redet viel mit seinen Patienten. Und auch ihm fällt auf, dass sie häufig aus ärmeren Verhältnissen kommen. »Betroffen sind vor allem Leute, die in exponierten Bereichen wie beispielsweise in einer Fabrik oder als Pflegekraft arbeiten. Auch Familien, die mit mehreren Generationen in einem Haushalt leben, sich ein Bad teilen und kein eigenes Zimmer haben, in dem sie sich isolieren können«, sagt Çelik. Es sei nicht der Migrationshintergrund, der die Menschen krank mache. »Armut macht krank.«

Na gut, aber jetzt hat man das ja nun endlich realisiert und will gezielt reagieren. Das könnte man, wenn es denn nicht schon zu spät ist

Die am Anfang beschriebenen aktuellen Diskussionen zeigen, dass man – nicht überall – erkannt hat, dass es Sinn machen könnte, gezielt in besonders belasteten Sozialräumen Impfangebote zu machen. Man darf sich das nicht als einfaches Unterfangen vorstellen, selbst wenn man mobile Impfteams einsetzen würde, denn notwendig wäre ein aus mehreren Komponenten bestehender Ansatz, wo das Impfangebot begleitet wird von Menschen, die Brücken schlagen können in die Communities, die in der Lage sind, die Menschen und deren Multiplikatoren auch erreichen zu können.

Was dieser Ansatz aber unzweifelhaft voraussetzen würde, wäre genügend Impfstoff. Und zum jetzigen Zeitpunkt muss man konstatieren, dass es daran (noch) in erheblichem Ausmaß mangelt. Millionen Menschen würden sich lieber gestern als morgen impfen lassen und bekommen keinen Termin. Der Druck an dieser Stelle wächst von Tag zu Tag, was man an der Debatte über eine Aufhebung der Impfpriorisierung nach Prioritätsgruppen erkennen kann. Diese Forderung wird immer lauter, vor allem – was absehbar war – seitdem die niedergelassenen Ärzte auch Impfungen anbieten, womit sich die konsequente Abarbeitung einer (durchaus diskussionsbedürftigen) Prioritätenliste faktisch erledigt hat, was man im Alltag auch beobachten kann. Und schaut man diese Tage in die Medienberichterstattung, dann wird alles neben der Weitergabe der Forderung nach „Freigabe“ der Impfstoffe überlagert von der Diskussion, welche Rechte man den Geimpften wieder zurückgeben sollte bzw. muss, was aber von vielen Menschen so wahrgenommen wird, als ob „Privilegien“ an den Impfstatus gekoppelt werden, so dass man gut beraten wäre, sich so schnell wir möglich auch unter Umgehung irgendwelcher Prioritätseinteilungen impfen lassen sollte. Insofern wird eher über kurz als über lang die Impfreihenfolge, die sowieso schon täglich löchriger wird, aufgehoben werden. Das würde aber auch bedeuten, dass diejenigen, die aus welchen Gründen auch immer über eine höhere Artikulationsfähigkeit verfügen, die bessere Netzwerke haben, die über zahlreiche Verbindungen verfügen, sich auch schneller Zugang zu Impfungen verschaffen werden. Andere bleiben dann auf der Strecke.
Wenn – ja wenn man dann den weiterhin offensichtlich knappen Impfstoff nicht hinsichtlich der Verteilung gezielt umverteilen würde beispielsweise auf die „Brennpunkte“, in denen ein sozialräumlich strukturiertes Impfangebot gemacht werden soll. Man kann die Perspektive einer unmittelbar bevorstehenden Aufhebung der Priorisierungen also einerseits positiv sehen als Chance, dann in Verbindung mit einer gezielten Verteilung des zur Verfügung stehenden Impfstoffes auf die angesprochenen Gebiete die von einigen geforderte ungleiche sozialräumlich differenzierende Impfstrategie gleichsam en passant umzusetzen. Aber möglicherweise ist es dafür auch schon zu spät, weil man genau diese Verteilungsentscheidung zu spät trifft oder sich nicht offen dazu bekennen will, so dass sich bei Freigabe der Impfstoffe diese dahin bewegen, wo nicht die Underdogs der Gesellschaft leben. Auch hier landen wir also wieder bei der alten Erkenntnis: Ungleiches ungleich behandeln. Was bekanntlich auf viele Widerstände stößt oder stoßen wird.