Das (duale) Berufsausbildungssystem unter doppeltem Druck: Vor und seit Corona. In diesem Jahr könnten erneut weniger und in einigen Betrieben gar keine Ausbildungsplätze angeboten werden

Man kann es drehen und wenden wie man will: Das zurückliegende Ausbildungsjahr ist eine schwere Hypothek in einem überaus komplexen System, das bereits vor Corona erheblich unter Druck war (vgl. dazu die Beiträge Die (in Sonntagsreden und anderen Ländern) vielgepriesene deutsche Berufsausbildung: Nach der Corona-Krise so richtig in Schieflage? vom 16. April 2020 sowie Die (duale) Berufsausbildung vor und jetzt auch noch durch Corona unter Druck. Eine Zwischenbilanz der aktuellen Entwicklungen auf dem Ausbildungsmarkt vom 31. Oktober 2020). Die strukturellen Probleme des Berufsausbildungssystems, vor allem der dualen Berufsausbildung, konnte man schon den Jahren vor der Corona-Krise entnehmen – eine weiter abnehmende Zahl an Betrieben, die überhaupt (noch) ausbilden, eine Abnahme der Bewerberzahlen und damit einhergehend das nur auf den ersten Blick paradoxe Ergebnis einer Gleichzeitigkeit von unbesetzten Ausbildungsstellen und einer großen Zahl an „unversorgten“ Ausbildungsplatzsuchenden (mehr dazu in dem Anfang 2020 veröffentlichten Berufsbildungsbericht 2020).

Eine erste Bilanz des Ausbildungsjahres 2020 musste dann leider transparent machen, dass das Ausbildungsangebot der Betriebe und die Zahl der jungen Menschen, die eine Ausbildung nachfragen, zurückgegangen ist. Um es in einer Zahl auszudrücken: »Als Folge des sinkenden Angebots, der sinkenden Nachfrage sowie der zunehmenden Passungsprobleme zwischen beiden Marktseiten fiel die Zahl der neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge um 57.600 bzw. 11,0% niedriger aus als ein Jahr zuvor (2019: 525.000). Mit nunmehr 467.500 lag sie in Deutschland erstmals unter 500.000.« Vgl. dazu ausführlicher den Beitrag Der „Corona-Effekt“ auf dem Ausbildungsmarkt. Der wird nicht nur im Jahr 2020 von Bedeutung sein, sondern lange nachwirken vom 11. Dezember 2020.

Nun ist Corona, wie wir alle jeden Tag schmerzlich erfahren müssen, keineswegs vorbei. Wir sind noch mittendrin in dem Schlamassel und manche Branchen sind seit Monaten amtlich stillgelegt worden und können auch im Februar 2020 nur hoffen, dass es irgendwann einmal wieder schrittweise Öffnungen geben wird. Und darunter sind gerade Branchen, in denen viele junge Menschen ausgebildet werden. Also normalerweise. Da überrascht es dann leider nicht, dass auch für das neue Ausbildungsjahr 2021/22 bedenkliche Vorhersagen präsentiert werden.

»Im Dezember 2020 hatten drei von zehn Betrieben in Deutschland nach eigenen Angaben stark unter der Covid-19-Krise zu leiden. Dies geht aus der IAB-Befragung „Betriebe in der Covid-19-Krise“ hervor. Damit haben sich die Einschätzungen der Betriebe, die sich im Sommer und Herbst des vorigen Jahres etwas verbessert hatten, zuletzt wieder verschlechtert. Eine mögliche Folge: Betriebe, deren Umsätze wegbrechen und die nicht wissen, wann und in welchem Umfang sie ihre Geschäftstätigkeit fortsetzen können, schränken ihr Ausbildungsplatzangebot unter Umständen ein«, so Lutz Bellmann et al. vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) der Bundesagentur für Arbeit in ihrem Beitrag Jeder zehnte ausbildungsberechtigte Betrieb könnte im kommenden Ausbildungsjahr krisenbedingt weniger Lehrstellen besetzen. Im Dezember 2020 wurden in der Betriebsbefragung diese konkreten Werte ermittelt: »7 Prozent der ausbildungsberechtigten Betriebe gaben an, dass sie für dieses Ausbildungsjahr geplant hatten, Ausbildungsplätze anzubieten, aufgrund der Krise jedoch darauf verzichten werden. Weitere 4 Prozent der ausbildungsberechtigten Betriebe wollen im Ausbildungsjahr 2021/2022 zwar Ausbildungsplätze besetzen, jedoch weniger als ursprünglich geplant.« Dieser sich hier andeutenden Rückgang wäre dann nach dem bereits realisierten Einbruch bei den Ausbildungsverträgen die nächste Etappe auf dem Weg nach unten.

»Erwartungsgemäß verringern vor allem jene Betriebe ihr Lehrstellenangebot, die besonders stark unter der Krise zu leiden haben. Jeder vierte dieser Betriebe gibt an, sein Ausbildungsplatzangebot pandemiebedingt zurückfahren oder ganz einstellen zu wollen (bezogen auf die ausbildungsberechtigten Betriebe). Im Gastgewerbe sind es sogar 28 Prozent«, so der IAB-Bericht. »Es passt daher ins Bild, dass eher kleinere Betriebe aufgrund der Krise weniger ausbilden wollen als ursprünglich geplant oder auf eine Ausbildung völlig verzichten. Während von den ausbildungsberechtigten Kleinstbetrieben (1 bis 9 Beschäftigte) 14 Prozent angeben, weniger auszubilden, sind es von den ausbildungsberechtigten Großbetrieben (250 und mehr Beschäftigte) nur 6 Prozent. Da Kleinstbetriebe oftmals ohnehin nicht mehr als eine Ausbildungsstelle anbieten, verwundert es nicht, dass sich diese im kommenden Ausbildungsjahr überdurchschnittlich häufig völlig aus der Ausbildung zurückziehen wollen, also gar keinen Ausbildungsplatz mehr zur Verfügung stellen.« Und das wäre überaus fatal, denn wir wissen aus der Vergangenheit, dass man ausbildende Betriebe, wenn sie sich aus welchen Gründen auch immer aus der Ausbildung zurückgezogen haben, meistens auf Dauer verliert, was teilweise die in den vergangenen Jahren beobachtbare rückläufige Zahl an überhaupt (noch) ausbildenden Betrieben erklärt.

»Die Betriebe, die ihr Angebot an Ausbildungsplätzen im kommenden Ausbildungsjahr einschränken oder gänzlich einstellen wollen, wurden auch nach den konkreten Gründen hierfür gefragt. 93 Prozent der betroffenen Betriebe begründen dies mit unsicheren Geschäftserwartungen, 71 Prozent geben finanzielle Gründe an.« Dass das in den vom Lockdown besonders betroffenen Branchen wie dem Hotel- und Gaststättenwesen sowie dem stationären Einzelhandel der Fall ist, kann man sich vorstellen.

Aber ein weiteres Herunterfahren der Ausbildungsangebote in diesen Branchen, die schon im vergangenen Corona-Jahren Rückgänge zu verzeichnen hatten, die weit über den durchschnittlichen -11 Prozent lagen, wäre – neben allem betriebswirtschaftlichen Verständnis – natürlich auch deshalb so fatal, weil es sich um Branchen handelt, die schon in der Zeit vor Corona, als es super lief, in einen immer größeren Fachkräftemangel reingelaufen sind, auch bedingt durch die Tatsache, dass es dort seit Jahren rückläufige Ausbildungszahlen gegeben hat (und zugleich oft auch überdurchschnittliche Ausbildungsabbrüche). Hierzu als ein Beispiel die Entwicklung der Ausbildungszahlen ausgewählter Branchen 2019 im Vergleich zu 2010:

Allein in den knapp zehn Jahren zwischen 2010 und 2019, dem Jahr vor Corona, ist in den Bereichen Gastronomie, Hotellerie, Tourismus und Einzelhandel jeder dritte Ausbildungsvertrag weggebrochen. Und wenn man nicht nur 2020 einen zusätzlichen coronabedingten Tiefschlag zur Kenntnis nehmen muss, sondern sich dieser zusätzlich negative Effekt auch 2021 bemerkbar macht, dann wird der sowieso schon vorhandene Fachkräftemangel weiter an Dramatik zulegen. Die Gastronomie hat »einen schweren Stand bei potenziellen Nachwuchskräften. Das zeigt sich an der Zahl der Auszubildenden: Im vergangenen Jahr begannen 15.000 Menschen eine berufliche Ausbildung in der Gastronomie oder Speisenzubereitung, zehn Jahre zuvor waren es noch 28.000. Der Beruf Koch/Köchin gehört ebenfalls zu den Top Ten der unbesetzten Ausbildungsstellen (Platz 7)«, so das Statistische Bundesamt in dem Beitrag Azubis in Gastronomie, Hotellerie, Tourismus und Einzelhandel: 28 % weniger Neuverträge 2019 als zehn Jahre zuvor.

Und wir dürfen die mittel- und langfristig fatalen Schäden am Gesamtsystem nicht aus den Augen verlieren, darauf wurde bereits in dem Beitrag Der „Corona-Effekt“ auf dem Ausbildungsmarkt. Der wird nicht nur im Jahr 2020 von Bedeutung sein, sondern lange nachwirken vom 16. Dezember 2020 hingewiesen: Bereits in der Finanzkrise 2008/09 gab es einen Einbruch bei den Ausbildungszahlen (und der negative Effekt der Coronakrise im vergangenen Jahr ist quantitativ größer als der in der Finanzkrise). »Die Erfahrung in und mit der damaligen Krise war, dass der mit ihr verbundene Rückgang der tatsächlichen abgeschlossenen Ausbildungsverträge nicht wieder korrigiert werden konnte, das Niveau der Zahl der Verträge blieb deutlich unter dem Krisenniveau.«

Abschließend sei darauf hingewiesen, dass wir ebenfalls nicht nur auf die Anfängerzahlen im Ausbildungssystem fokussieren sollten. Die vielen jungen Menschen, die derzeit in der Ausbildung sind und vor der Prüfung stehen, machen in nicht wenigen Branchen seit Monaten Erfahrungen, die durch äußerst schlechte Rahmenbedingungen für eine qualifizierte Ausbildung charakterisiert sind. Dazu beispielsweise der Beitrag Wie duale Ausbildung in Corona-Zeiten funktioniert: »Praxisstopp, Schulausfälle und improvisierte Prüfungsvorbereitungen – die Corona-Pandemie droht der jetzigen Auszubildenden-Generation ein Bein zu stellen.« Aus dem Artikel von David Fuhrmann ein Beispiel:

»Bereits seit Mitte Dezember ist Emmys Ausbildungsbetrieb, ein hallescher Friseursalon, nun wegen der Corona-Pandemie geschlossen. Seit Beginn des Jahres darf die Friseur-Auszubildende zumindest wieder in die Berufsschule – weil im April der erste Teil ihrer Gesellenprüfung ansteht. Das Haareschneiden übt die 21-Jährige derzeit nur an Puppenköpfen. „Wenn der normale Rhythmus von Praxis und Theorie fehlt, ist es schwierig“, sagt sie.
Der Lockdown und der damit verbundene Praxisstopp sei ein harter Einschnitt für sie gewesen. In der Zeit vor Corona bestand Emmys Rhythmus aus zwei Wochen Ausbildung im Salon, gefolgt von einer Woche in der Berufsbildenden Schule 5 in Halle. Diesen Takt hat die Pandemie nun durcheinandergewirbelt. Mit Blick auf die Prüfungen bereitet das Emmys Schulleiterin, Kerstin Pilz, große Sorgen: „Wir werden das Problem bekommen, dass Prüfungen nicht bestanden werden.“ … Und häufig fehlen an den Berufsschulen aufgrund mangelnder technischer Ausstattung die Grundvoraussetzungen für den Distanzunterricht. „Wir haben für alle Kollegen nur einen Computer an der Schule“, sagt die Fachbereichsleiterin für Körperpflege an der Berufsschule, Kathrin Bielke. Viele Lerninhalte würden derzeit auf der Strecke bleiben.«

Die Corona-Pandemie verstärkt die Schieflage des dualen Ausbildungssystems – eben nicht nur in quantitativer, sondern auch in qualitativer Hinsicht. Kein Wunder: Viele Jugendliche haben bereits jetzt gut die Hälfte ihrer Ausbildung im Ausnahmezustand lernen müssen.