Die (duale) Berufsausbildung vor und jetzt auch noch durch Corona unter Druck. Eine Zwischenbilanz der aktuellen Entwicklungen auf dem Ausbildungsmarkt

„Die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf den Ausbildungsmarkt sind deutlich sichtbar. Die Ausgleichsprozesse wurden stark verlangsamt.“ Mit diesen Worten eröffnet der Vorstandsvorsitzende der Bundesagentur für Arbeit (BA), Detlef Scheele, die Mitteilung seiner Behörde über die Ausbildungsmarktbilanz 2019/2020. Coronabedingter Rückstand deutlich sichtbar. »Von Oktober 2019 bis September 2020 wurden den Agenturen für Arbeit und den Jobcentern in gemeinsamen Einrichtungen insgesamt 530.300 Berufsausbildungsstellen gemeldet. Das waren 41.700 weniger als im Vorjahreszeitraum. Der überwiegende Teil sind betriebliche Ausbildungsstellen; sie verzeichnen ein Minus von 41.500 auf 514.600.« Es wird hervorgehoben: »Das Minus ist nicht allein auf die wirtschaftlichen Einschränkungen in Folge der Corona-Pandemie zurückzuführen. Bis März 2020 lag sowohl die Zahl der Bewerberinnen und Bewerber als auch die Zahl der gemeldeten Ausbildungsstellen bereits deutlich unter dem Vorjahr.«

Rechnerisch hat es bei den gemeldeten betrieblichen Ausbildungsstellen (bislang) einen Rückgang von 7,5 Prozent insgesamt gegeben – das liegt ziemlich genau in der Größenordnung, die vorhergesagt wurde, beispielsweise von Samuel Mühlemann et al. (2020): Auswirkungen der Coronakrise auf den Ausbildungsstellenmarkt: Was die Politik tun kann: »Die Resultate weisen auf einen Corona-bedingten Nachfragerückgang von – 8,1% hin …, oder rund 46.000 Ausbildungsstellen. Der zu erwartende Effekt der Coronakrise ist also quantitativ größer als der der Finanzkrise in den Jahren 2008/2009. Bei Letzterer betrug der konjunkturbedingte Rückgang der Nachfrage gemäß unseren Schätzungen rund – 6% … Zeitgleich kann die Coronakrise auch dazu führen, dass viele Jugendliche in diesem Jahr eine alternative vollschulische Ausbildung anstelle einer Berufsausbildung wählen. Basierend auf den Erfahrungen der letzten Jahre schätzen wir einen konjunkturbedingten Rückgang der dualen Ausbildungsverträge von rund – 6%.« (Mühlemann et al. 2020: 21). Bei diesen Zahlen muss man wie immer berücksichtigen, dass wir uns hier auf einer hoch aggregierten Ebene durchschnittlicher Werte bewegen, die Spannweite zwischen den Werten einzelner Branchen und Berufe ist erheblich. So wird es nicht verwundern, dass es in bestimmten Branchen (man denke hier nicht nur an Hotellerie und Gastronomie) und bezogen auf einzelne Berufe Einbrüche gibt, die im zweistelligen Prozentbereich liegen. Damit muss man zumindest für Teilbereiche des Ausbildungssystems zur Kenntnis nehmen, dass die frühzeitig auf erhebliche zusätzliche Probleme hinweisenden Beiträge (zusätzlich, weil den Abwärtstrend schon vor der Corona-Krise, also bei sehr guten Arbeitsmarktbedingungen hervorhebend) nicht unbegründet waren (vgl. beispielsweise Die (in Sonntagsreden und anderen Ländern) vielgepriesene deutsche Berufsausbildung: Nach der Corona-Krise so richtig in Schieflage? vom 16. April 2020).

Bereits vor der Veröffentlichung der vorläufigen Bilanz der Situation auf dem Ausbildungsmarkt durch die BA haben sich Akteuere des Berufsbildungssystems mit warnenden Aussagen zu Wort gemeldet: »In der Finanzkrise brach die Zahl der Ausbildungsverträge massiv ein und erholte sich nicht. Nun droht wegen Corona ein weiterer Substanzverlust, fürchten DGB und das Handwerk«, berichtet Barbara Gillmann in ihrem Artikel Verbände warnen vor Substanzverlust bei der Ausbildung. Durch die Auswirkungen dr Corona-Krise könnte sich womöglich eine Abwärtsspirale verfestigen, die bereits 2008 einsetzte. „Seit der globalen Finanzkrise befindet sich die duale Ausbildung auf Talfahrt. Die Coronakrise droht den Trend noch zu verschärfen“, so Elke Hannack, stellvertretende DGB-Bundesvorsitzende. Die Erfahrung in der Finanzkrise dürfe sich „keinesfalls wiederholen, weil mit einem immer niedrigeren Sockel an Auszubildenden langfristig die Fachkräftesicherung für unsere Betriebe immer schwieriger wird“, sekundiert Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer.

Auch bei den neuen Zahlen, die nun von der BA geliefert wurden, muss man berücksichtigen, dass sie noch nicht abschließend sind, denn bis Weihnachten laufen noch Nachvermittlungsaktionen und Ausbildungen können auch verspätet begonnen werden. Doch die von den Verbänden gemeldeten »jüngsten Zahlen lassen Schlimmes befürchten: Allein der DIHK, dessen Betriebe zwei Drittel aller Lehrlinge ausbilden, registrierte bis Ende September nur 260.000 neue Lehrverträge, das waren fast 14 Prozent weniger als im Vorjahr. Auch das Handwerk meldete trotz Aufholeffekt im Sommer ein Minus von acht Prozent.«

Dass wir derzeit einen Einbruch erleben bei den Ausbildungsstellen wie bei der letzten großen Krise sollte Grund zur Sorge sein: In der »Finanzkrise 2008 und 2009 war die Zahl der jährlich neu abgeschlossenen Ausbildungsverträge von zuvor 616.000 um rund 50.000 gesunken. Auch danach wurde das Vorkrisenniveau nie wieder erreicht. Im Gegenteil: Trotz blendender Konjunktur lag die Zahl der jährlichen Neuverträge seit 2013 stets zwischen 520.000 und 530.000.«

Selbst wenn man berücksichtigt, dass es in den vergangenen Jahren eine Verschiebung gegeben hat, dass mehr junge Menschen eine hochschulische Ausbildung anstreben und gleichzeitig aus demografischen Gründen die Zahl der jungen Menschen abgenommen hat (dieser Effekt wurde bis zum vergangenen Jahr übrigens in einer nicht unerheblichen Größenordnung durch die Einmündung von Geflüchteten in eine Berufsausbildung teilweise kompensiert, was aber jetzt ausläuft), muss man zur Kenntnis nehmen: »Schon heute hat rund ein Drittel aller jungen Menschen zwischen 20 und 34 Jahren, die nur einen Hauptschulabschluss vorweisen können, keinen Beruf erlernt … zwischen 2011 und 2018 (konnte) auch die absolute Zahl der Ausbildungslosen in diesem Alter nicht reduziert werden. 2011 waren es nach Angaben des BIBB 1,98 Millionen, 2018 schon 2,12 Millionen.«

Und der Berufsbildungsbericht 2020 hatte mit Blick auf die Entwicklung bis 2019, also vor Corona, leider darauf hinweisen müssen, dass eine seit Jahren zu beobachtende ungute Entwicklung ungebremst weiterläuft: Die Zahl der ausbildenden Betriebe ist weiter auf dem Sinkflug. Boten 2009 noch 23,3 Prozent aller Betriebe eine Ausbildung an, waren es neun Jahre später noch 19,7 Prozent (wobei in dem Beitrag aus dem April 2020 auch angemerkt wurde, dass es immer mehrere Gründe geben kann und gibt, die hinter solchen Entwicklungen stehen, so auch eine Verschiebung in der Branchen- und Betriebsgrößenstruktur, denn wenn die Zahl und der Anteil bestimmter (und oftmals kleiner) Dienstleistungsunternehmen steigt, dann beeinflusst das den Anteil der auszubildenden Betriebe, denn viele dieser Unternehmen wollen oder können auch gar nicht ausbilden). Aber: »Selbst von den großen Unternehmen mit mehr als 250 Mitarbeitern bildet demnach ein Fünftel gar keine Auszubildenden mehr aus«, so dieser Artikel: Zahl der Ausbildungsbetriebe sinkt auf unter 20 Prozent. Schon vor der Corona-Krise wurde kritisiert, dass die meisten Dax-Konzerne ihre Lehrlingsausbildung in den letzten Jahren deutlich reduziert haben.

Aber die Bundesregierung handelt doch – mit einem Prämienprogramm soll den Betrieben geholfen werden

Bereits im Frühjahr wurde von verschiedenen Seiten gefordert, die Betriebe gezielt und vor allem massiv zu unterstützen, wenn sie denn Ausbildung stabilisieren oder idealerweise gar noch zusätzliche Ausbildungsplätze schaffen. Auch die Azubis, deren Betriebe dermaßen ins Strudeln geraten, dass eine Fortsetzung der Ausbildung dort nicht mehr und wahrscheinlich nicht möglich ist, müssen anderweitig untergebracht werden.

Nach einigem Zögern hat die Bundesregierung dann auch reagiert und eines dieser so typischen Programme aufgelegt, die eher von einem vorsichtigen Kleckern statt einem beherztem Klotzen geprägt sind. Dazu Barbara Gillmann in ihrem Artikel mit einer Zusammenfassung der wesentlichen Komponenten des Programms:

»Das Corona-Bundesprogramm „Ausbildungsplätze sichern“ lockt zwar mit Prämien von 2000 bis 3000 Euro. Auch berichte die Bundesagentur für Arbeit von einem hohen Interesse, heißt es beim DGB – dennoch stellten die Betriebe nur sehr zögerlich Anträge. Das führen sowohl der DGB als auch das Handwerk auf die sehr restriktiven Bedingungen zurück: So erhalten kleine und mittlere Unternehmen zwar eine Prämie von 2000 Euro pro neuem Lehrling, wenn sie trotz Corona-Einbußen gleich viele Azubis haben wie im Vorjahr, und 3000 Euro, wenn sie sogar zusätzliche engagieren. Dafür muss das Unternehmen aber im ersten Halbjahr mindestens einen Monat in Kurzarbeit gearbeitet haben – oder der Umsatz im April und Mai 2020 muss um mindestens 60 Prozent gegenüber dem Vorjahr eingebrochen sein. Unternehmen, die trotz Kurzarbeit weiter ausbilden, können einen Zuschuss zum Lehrlingslohn von 75 Prozent erhalten, wenn sie die Azubis nicht in Kurzarbeit schicken, die Ausbildung also nicht unterbrechen. Bedingung ist aber, dass der Arbeitsausfall mindestens 50 Prozent beträgt. Wer Azubis aus einem insolventen Betrieb übernimmt, kann pro Person eine Prämie von 3000 Euro bekommen. Aber nur dann, wenn auch der Pleitebetrieb weniger als 250 Mitarbeiter hat und das Insolvenzverfahren bis Ende 2020 eröffnet wird.«

Aber naht nun wenigstens die Rettung? Es scheint so: »Berlin will umfangreichere Förderinstrumente bereitstellen«, berichten Barbara Gillmann und Frank Specht in ihrem Artikel Bundesregierung verspricht Betrieben bessere Corona-Ausbildungsprämien. Offensichtlich hat man die Kritik am bisherigen Vorgehen nicht nur zur Kenntnis genommen, sondern auch Schlussfolgerungen gezogen: »Die Bundesregierung will die Corona-Ausbildungsprämien verlängern und verbessern … So sollen vor allem die strengen Regeln für den Anspruch auf die Prämien gelockert werden, damit mehr Betriebe profitieren – und mehr Azubis einstellen.« Vor dem Hintergrund der anhaltend angespannten wirtschaftlichen Situation und wieder steigender Infektionszahlen werde vor allem geprüft, „inwieweit bei den Förderrichtlinien des Bundesprogramms ,Ausbildungsplätze sichern‘ Anpassungsbedarf besteht“, so wird ein Sprecher von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) zitiert. Alle Nachjustierungen sollen „zeitnah“ in der Bundesregierung abgestimmt werden. Das hört sich erst einmal reichlich nebulös an. Wir werden weiter abwarten müssen, was denn genau verbessert werden soll. Dabei läuft einem die Zeit weg.

Dass es jetzt Handlungsbedarf im Sinne von Verbesserungen gibt, darauf stellt auch Detlef Scheele, der Vorstandsvorsitzende der BA , ab: »Er mache sich „große Sorgen“ vor allem für das kommende Ausbildungsjahr. Denn vor allem in der Industrie würden üblicherweise bereits im Winter die Lehrverträge für das nächste Lehrjahr geschlossen – und hier drohe nun wegen der Pandemie und des Konjunktureinbruchs große Zurückhaltung.«

Auch die Gewerkschaft IG Metall hat sich zu Wort gemeldet: »Nach einer Umfrage der Gewerkschaft plant knapp jeder zehnte Betrieb der Metall- und Elektroindustrie, Lehrstellen abzubauen. Schon heute werde die Metall- und Elektroindustrie von Jugendlichen „als Krisenbranche abgestempelt“. Daher werben IG Metall und Arbeitgeberverband Gesamtmetall massiv für die Beibehaltung der Ausbildungsanstrengungen: Man dürfe nun „nicht in einen Schweinezyklus verfallen“, hieß es bei der IG Metall. Sonst drohe in vier oder fünf Jahren wieder Fachkräftemangel.«

Handwerkspräsident Hans Peter Wollseifer nutzt die Verunsicherung und platziert diese Forderung: »Unabhängig von der aktuellen Krise brauchten gerade kleine Handwerksbetriebe eine Entlastung bei den Ausbildungskosten – vor allem bei überbetrieblichen Kursen und bei den Sozialversicherungsbeiträgen. Azubis müssten ebenso wie Studierende kostenfrei über die Eltern mitversichert werden.« In die gleiche bekannt Richtung, also Kostensenkung für die Unternehmen, argumentiert auch Jens Brandenburg von der FDP, der fordert, »Ausbildungsbetriebe in der Krise von Steuern und Abgaben zu befreien, denn sie brauchten jetzt „keine Trostpflaster, sondern Umsatz“. Auch dürfe es keinen zweiten Lockdown der Berufsschulen geben.«

Und spiegelbildlich sowie ebenfalls erwartbar fordert der DGB eine Ausbildungsgarantie. Dazu die stellvertretende DGB-Vorsitzende Elke Hannack: »Wir brauchen eine Ausbildungsgarantie, wie sie in Österreich längst praktiziert wird: Allen Jugendlichen muss auf jeden Fall der Eintritt ins erste Ausbildungsjahr möglich sein, entweder über berufliche Schulen oder bei außerbetrieblichen Ausbildungsstätten. Im zweiten Ausbildungsjahr sollen die Jugendlichen dann möglichst in einen Betrieb wechseln. Ebenso brauchen die Ausbildungsbetriebe mehr Unterstützung – zum Beispiel finanziert durch Fonds, in den nicht-ausbildende Betriebe einzahlen.«