Die (in Sonntagsreden und anderen Ländern) vielgepriesene deutsche Berufsausbildung: Nach der Corona-Krise so richtig in Schieflage?

Auch wenn es vielen derzeit schwer fällt, sich daran zu erinnern – noch vor kurzem, also vor dem Ausbruch der nun alles beherrschenden Corona-Krise, wurde intensiv darüber diskutiert, wie man das vielgelobte System der (nicht nur dualen, sondern auch fachschulischen) Berufsausbildung attraktiver gestalten kann, denn zunehmend wurde über einen „Azubi-Mangel“ diskutiert und darauf hingewiesen, dass sich der bereits erkennbare und angesichts der demografischen Entwicklung an Fahr aufnehmende Fachkräftemangel vor allem im mittleren Qualifikationsbereich ausprägen wird. Und viele Betriebe mussten seit geraumer Zeit die Erfahrung machen, dass die Zeiten, in denen man sich unter vielen jungen Menschen einen Auszubildenden aussuchen konnte, definitiv vorbei sind. In nicht wenigen Branchen wird man sogar der bitteren Erfahrung ausgesetzt, dass es überhaupt keine Bewerber mehr gibt.

Zugleich – und nur auf den ersten Blick ein Widerspruch – wurde von anderer Seite auch darauf hingewiesen, dass viele junge Menschen keinen Ausbildungsplatz bekommen (haben und werden) und ohne eine – gerade auf dem deutschen Arbeitsmarkt so bedeutsame – formale berufliche Qualifikation die Reihen der „Risikogruppen“ auf dem Arbeitsmarkt auffüllen. Denn ohne Zweifel: ein fehlender Berufsabschluss ist in unserem Land mit mehrfachen und großen (lebenslangen) Risiken verbunden, beispielsweise hinsichtlich der Arbeitslosigkeitswahrscheinlichkeit oder der Perspektive, wenn, dann dauerhaft im Niedriglohnsektor zu landen.

Wir befinden uns hier in einer höchst komplexen Gemengelage vieler Einflussfaktoren, die zu diesen auf den ersten Blick irritierenden Befunden beitragen (vgl. dazu beispielsweise den Beitrag Ausbildungsmarktbilanz 2017/18: Die Gleichzeitigkeit der Gegensätze: Immer mehr Ausbildungsstellen bleiben unbesetzt, aber auch mehr unversorgte Bewerber vom 1. November 2018). Komplexitätssteigernd kommt hinzu, dass es nicht nur systematische Gründe im engeren Sinne gibt, die zu den Problemen des deutschen Berufsausbildungssystems geführt haben (was dann beispielsweise unter normativ verzerrten Begrifflichkeiten wie „Akademisierungswahn“ verhandelt wird), sondern wir uns auf einem Gelände bewegen, auf dem immer auch und zuweilen ausschließlich personale Aspekte eine ausschlaggebende Rolle spielen (also auf Seiten der Ausbildungsplatzanbieter deren Erwartungen an Azubis und auf Seiten nicht weniger junger Menschen durchaus problematische persönliche Merkmale, die dazu führen, dass man nicht zueinander finden kann).

Damit können und sind auf beiden Seiten häufig Verletzungen und Enttäuschungen verbunden und so, wie sich ein Teil der jungen Menschen „ausklinkt“, verhält sich auch ein Teil der Unternehmen, die bislang ausgebildet haben – sie ziehen sich zurück und bauen ihre Angebote für eine Lehre ab oder stellen das ganz ein. Vor diesem Hintergrund müssen die bereits seit Jahren immer wieder vorgetragenen Klagen eingeordnet und verstanden werden, dass es einen Rückzug der Betriebe aus der seit Jahrzehnten gewachsenen Struktur der dualen Berufsausbildung gibt, also schlichtweg immer weniger Unternehmen überhaupt noch Ausbildung machen bzw. anbieten.

In diesem Zusammenhang erreichen uns solche problematischen Nachrichten, die sich auf das vergangene Jahr beziehen, also auf die Welt vor der Corona-Krise und bei einem von außen und oben betrachtet hervorragend laufenden Arbeitsmarkt: »Erstmals seit zwei Jahren ist 2019 die Nachfrage nach einer Ausbildung in Deutschland gesunken. Betrug die Zahl der neu abgeschlossenen Verträge und die der unversorgten Bewerber 2018 noch insgesamt fast 556 000, waren es ein Jahr später noch rund 549 600, wie aus dem Berufsbildungsbericht 2020 hervorgeht«, so diese Meldung: Nachfrage nach Ausbildung in Deutschland sinkt. In dem zitierten Berufsbildungsbericht 2020 heißt es, in den vergangenen Jahren hätten Bewerber mit Fluchthintergrund den demografischen Wandel in der Bundesrepublik ausgeglichen. Die sinkenden Schulabgängerzahlen könnten sie aber nun nicht mehr kompensieren. „Mit Blick auf die Sicherung der künftigen Fachkräftebasis stellt der Rückgang der Nachfrage eine erhebliche Herausforderung dar“, warnen die Autoren des Berichts mit Blick auf den Fachkräftemangel.

Die Zahl der ausbildenden Betriebe ist weiter auf dem Sinkflug

Und dann wird aus dem Bericht zitiert, „dass die Ausbildungsbereitschaft der Betriebe sinkt, die wiederholt die Erfahrung machen, ihre angebotenen Ausbildungsstellen nicht besetzen zu können“. Und das kann man auch mit Zahlen belegen: »In der Untersuchung der Ausbildungsbereitschaft spiegelt sich das wider: Boten 2009 noch 23,3 Prozent aller Betriebe eine Ausbildung an, waren es neun Jahre später noch 19,7 Prozent.« Wobei an dieser Stelle gleich angemerkt sei, dass es immer mehrere Gründe geben kann und gibt, die hinter solchen Entwicklungen stehen, so auch eine Verschiebung in der Branchen- und Betriebsgrößenstruktur, denn wenn die Zahl und der Anteil bestimmter (und oftmals kleiner) Dienstleistungsunternehmen steigt, dann beeinflusst das den Anteil der auszubildenden Betriebe, denn viele dieser Unternehmen wollen oder können auch gar nicht ausbilden.

Aber: »Selbst von den großen Unternehmen mit mehr als 250 Mitarbeitern bildet demnach ein Fünftel gar keine Auszubildenden mehr aus«, so dieser Artikel: Zahl der Ausbildungsbetriebe sinkt auf unter 20 Prozent. Schon vor der Corona-Krise wurde kritisiert, dass die meisten Dax-Konzerne ihre Lehrlingsausbildung in den letzten Jahren deutlich reduziert haben.

Für 2020 sagt der neue Berufsbildungsbericht einen weiteren Rückgang bei der Ausbildungsnachfrage voraus – auch ohne die Corona-Krise zu berücksichtigen. Aber die ist jetzt noch zusätzlich zu dem vorher bereits erkennbaren Trend hinzugekommen und wird sich möglicherweise als Brandbeschleuniger erweisen: Denn durch die aktuellen Verwerfungen könnten zahlreiche Lehrstellen wegbrechen, weil Hunderttausende Betriebe infolge der Coronakrise in Kurzarbeit sind, warnt der Deutsche Gewerkschaftsbund. Denn „in diesen Monaten werden eigentlich die Verträge für die kommenden Azubis unterzeichnet“, so der Hinweis von Elke Hannack, die stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB).

Barbara Gillmann zitiert in ihrem Artikel Das Coronavirus bedroht die Lehre Elke Hannack vom DGB mit einem Hinweis auf die Relationen, um die es derzeit geht: „Insgesamt gibt es noch knapp 430.000 Ausbildungsbetriebe in Deutschland – und wenn jetzt schon 650.000 Betriebe Kurzarbeit angemeldet haben, zeigt das, wie groß die Herausforderungen im kommenden Ausbildungsjahr werden“.

Mit Blick auf die aktuellen Diskussionen, wer wo und in welchem Ausmaß in Not ist und wem geholfen werden muss bzw. soll, ist dieser Aufruf ohne Frage bedeutsam: „Vergesst die Auszubildenden nicht!“, warnt das Wissenschaftszentrum Berlin (WZB). Das gelte auch für diejenigen, die derzeit eine Ausbildung suchen und „mit der Unsicherheit leben müssen, wann und wie Tests und Vorstellungsgespräche stattfinden und ob der gefundene Ausbildungsbetrieb überhaupt die Coronakrise überlebt – insbesondere, wenn es sich um einen kleinen Selbstständigen handelt“, so die WZB-Direktorin für Arbeitsmarkt und Ausbildung, Heike Solga.

Gleichzeitig nimmt die Zahl der jungen Menschen ohne eine Berufsausbildung weiter zu

Neben der weiter sinkenden Zahl an Ausbildungsbetrieben muss der Finger auf eine weitere und größer werdende Wunde gelegt werden: Der Anteil der jungen Menschen zwischen 20 und 35 Jahren, die keinerlei Berufsausbildung haben, beträgt mittlerweile 14,4 Prozent. 2014 waren es noch 13 Prozent. Insgesamt sind das 2,1 Millionen junge Ungelernte. Besonders weit verbreitet ist das Phänomen unter Migranten: Selbst bei denen, die in Deutschland geboren und aufgewachsen sind, ist der Anteil mit 16 Prozent noch doppelt so hoch wie bei den Altersgenossen ohne Migrationshintergrund.

Was bleibt sind (scheinbare) Widersprüchlichkeiten: Dass es einerseits zunehmende Klagen vieler Unternehmen gibt, dass sie keine Auszubildenden mehr finden können (wobei das nicht über alle Branchen gleich verteilt ist, sondern bestimmte Branchen massiv betrifft, während andere „attraktivere“ Branchen keine Rekrutierungsprobleme haben), während die Zahl derjenigen ohne einer Berufsausbildung weiter zunimmt.

Und selbst wenn sich Ausbildungsbetrieb und Azubi gefunden haben, spricht das noch lange nicht von einem erfolgreichen Bündnis, denn »… die Vertragslösungsquote (ist) wieder gestiegen: Allein 2018 wurden 151.000 Lehrverträge gelöst – das waren 26,5 Prozent der im selben Jahr geschlossenen neuen Ausbildungsverträge. Somit liegt die Abbrecherquote nun oberhalb der „üblichen Schwankungsbreite“ von 20 bis 25 Prozent, heißt es im Berufsbildungsbericht«, so Gillmann in ihrem Artikel. Aber auch hier muss man immer genau hinschauen, denn eine Vertragsauflösung bedeutet nicht automatisch einen Ausbildungsabbruch, dahinter kann auch der Wechsel in einen anderen Ausbildungsbetrieb oder die Aufnahme einer anderen Ausbildung als die ursprünglich gewählte stehen.

Fazit: Die schon lange vor der Corona-Krise erkennbaren Strukturprobleme des an sich so erfolgreichen (dualen) Berufsausbildungssystems haben sich vor der Krise weiter verstärkt und das in einer Schieflage befindliche System wird durch die Auswirkungen der aktuell laufenden Corona-Krise noch weiter unter Druck gesetzt.

Da war doch noch was? Genau, die derzeit sichtbar gewordenen „systemrelevanten“ Berufe. Auch die müssen ausgebildet werden

„Die berufliche Bildung bildet das Rückgrat der Wirtschaft und der Versorgung der Bevölkerung. Gerade die in der Berufsbildung vermittel­ten Qualifikationen und Kompetenzen tragen mit dazu bei, überlebenswichtige Bereiche der Volkswirtschaft zu sichern. Jedoch brauchen wir Berufe, die helfen und Strukturen erhalten, nicht nur in der Krise. Alle Akteure der beruflichen Bildung sind aufgefordert, diese Berufe künftig noch attraktiver und anerkannter zu machen und ihnen die gesellschaftliche Anerkennung zukommen zu lassen, die ihnen gebührt – und dies nicht nur in Krisenzeiten. Die derzeitige Diskussion über Sonderzahlungen und eine langfristig bessere Entlohnung geht in die richtige Richtung.“ Mit diesen Worten wird Hubert Esser zitiert, der Präsident des Bundesinstituts für Berufsbildung (BIBB) in Bonn. Hintergrund ist die Veröffentlichung dieser Studie:

➔ Robert Helmrich, Michael Kalinowski und Uta Braun (2020): Bedeutung und Beitrag der Berufsbildung in der Krise – nicht nur in der Krise brauchen wir Berufe, die helfen und Strukturen erhalten, Bonn: Bundesinstitut für Berufsbildung, 2020

In Krisen wie der aktuellen Corona-Pandemie, aber auch bei Natur- und technischen Katastrophen oder dem Ausfall lebensnotwendiger Systeme, soll die Arbeit in sogenannten systemrelevanten Berufen sichergestellt werden. Nach Berechnungen des BIBB auf Datenbasis des Mikrozensus von 2015 arbeiten etwa 8 Millionen Menschen in solchen systemrelevanten und infrastrukturkritischen Berufen und Branchen.

Dazu gehören zum Beispiel Berufe im Energie-, Wasser- und Entsorgungssektor, in der Ernährung und Hygiene, in der Informationstechnik und Telekommunikation, im Gesundheits-, Finanz- und Wirtschaftssektor, im Transport- und Verkehrsbereich, in den Medien, in der staatlichen Verwaltung sowie in Schulen und der Kinder-, Jugend- und Behindertenhilfe. Insgesamt wird die Hauptlast der systemrelevanten Tätigkeiten von beruflich Qualifizierten getragen.

Auch interessant vor dem Hintergrund der seit einigen Jahren immer intensiver geführten Debatte über mögliche Arbeitsmarktfolgen der Digitalisierung: »Betriebe schätzen nach einer Analyse des BIBB die Ersetzbarkeit von menschlicher Arbeit durch digitale Systeme in diesen systemrelevanten Bereichen als eher begrenzt ein.«

Aber dann muss auch ausreichend ausgebildet werden. Und wenn man sich beispielsweise die Entwicklung in einem der für die Menschen sichtbarsten „systemrelevanten“ Berufsfeld anschaut, also den Pflegeberufen, dann muss man nicht nur Zweifel bekommen, sondern mit Blick auf die Zukunft viel mehr.