Man kann nicht sagen, dass die Politik im vergangenen Jahr langsam reagiert hat auf die Hilfebedarfe im Gefolge der ersten Corona-Welle. Neben anderen Maßnahmen wurde noch im März 2020 das „Gesetz für den erleichterten Zugang zu sozialer Sicherung und zum Einsatz und zur Absicherung sozialer Dienstleister aufgrund des Coronavirus SARS- CoV-2 (Sozialschutz-Paket)“ auf den Weg gebracht. Eine wichtige Komponente darin war ein zeitlich befristeter vereinfachter Zugang in das Grundsicherungssystem. Vor allem die als erheblich risikobelastet erkannten Kleinunternehmer und Solo- Selbständige sollten schneller und mit abgesenkten Zugangshürden versehen auf Hartz IV-Leistungen zugreifen können. Dieser Personenkreis verfügt in aller Regel über begrenzte finanzielle Rücklagen und hat auch keinen Zugang zu anderen Absicherungen wie Arbeitslosen- oder Kurzarbeitergeld. Um diesen Menschen helfen zu können, hat man temporäre Ausnahmeregelungen in das Sozialschutz-Paket I eingebaut:
➞ Die Angemessenheit der Aufwendungen für Kosten der Unterkunft wurde befristet außer Kraft gesetzt und generell unterstellt. Deshalb werden für die Dauer von sechs Monaten pauschal für alle Neuantragsteller deren Unterkunftskosten als angemessen anerkannt und es muss auch keine weitere Prüfung erfolgen, ob dem so ist.
➞ Für alle Anträge auf SGB II-Leistungen, die in dem genannten Zeitraum gestellt werden, soll für einen Zeitraum von 6 Monaten ab der Antragstellung keine Vermögensprüfung stattfinden.
Man muss an dieser Stelle hervorheben, dass damit zwei Kernbereiche einer bedürftigkeitsabhängigen Sozialhilfeleistung adressiert wurden, also einer Leistung, die erst dann einspringen soll, wenn vereinfacht gesagt nichts mehr da ist an eigenem verwertbaren Vermögen und zugleich sollen die Kosten der Unterkunft, die von den Jobcentern zu zahlen sind, eine Angemessenheitsgrenze nicht überschreiten, damit eine dem Charakter der Grundsicherung entsprechende Begrenzung auf den unbedingt erforderlichen Wohnraum sichergestellt werden kann. Und die Beschränkungen der Kostenübernahme seitens des Grundsicherungsträgers haben in der Vergangenheit dazu geführt, dass den Hartz IV-Beziehern um die 600 Millionen Euro pro Jahr an tatsächlichen Wohnkosten nicht erstattet wurden, sondern die Betroffenen mussten diesen Betrag aus ihren knapp bemessenen Regelleistungen abzweigen. Die im bestehenden Sozialhilfesystem aus Sicht des Systems durchaus nachvollziehbare Logik hinter der Angemessenheitsregelung ist zum einen darauf gerichtet, dass es nur schwer vermittelbar wäre, wenn Hartz IV-Bezieher in großen und teuren Wohnungen leben könnten, weil ihnen die Mieten vollständig refinanziert werden. Zugleich muss man auch mögliche Anreize auf der Vermieterseite sehen, wo man bei einer vollständigen und nach oben nicht gedeckelten Mietübernahme vor dem Problem stehen könnte, dass dort die Mieten (noch) stärker als sonst angehoben werden, da ja eine vollständige Kompensation durch staatliche Leistungen erfolgt.
Nun stand man bei der Konzeption des ersten Sozialschutz-Pakets vor der Aufgabe, bestimmten Menschen, die krisenbedingt auf die Existenzsicherungsleistungen angewiesen waren (und sein werden), einen schnellen Zugang zu den Leistungen für den Lebensunterhalt zu ermöglichen. Und viele der potenziell Betroffenen leben in Wohnungen, deren Kosten über den Angemessenheitsgrenzen liegen und die dennoch coronabedingt nicht in der Lage sind, diese Mieten, die unter ganz anderen Bedingungen eingegangen wurden, zu finanzieren. Und ausgehend von der Vorstellung, man brauche eine Ausnahmeregelung für eine begrenzte Zeit der Krise, konnte man diese Abweichung von dem ansonsten üblichen Vorgehen auch gut begründen. Das ändert nichts daran, dass man mit der Aussetzung der Angemessenheitsvorschrift wie auch mit der Aussetzung der Vermögensanrechnung eine Art „Zweiklassensystem“ bei den Hartz IV-Leistungen geschaffen hat, denn die bereits im Bezug der Leistungen befindlichen Bezieher können beispielsweise vom Wegfall der Angemessenheitsgrenze nicht profitieren, da die nur für Neufälle gilt.
Es bleibt das das Problem, dass die Antragsteller im bestehenden Grundsicherungssystem ihre Bedürftigkeit nachweisen müssen, denn Hartz IV ist eben kein bedingungsloses Grundeinkommen, sondern der Bezug dieser Leistung setzt voraus, dass man einkommensmäßig ganz unten angekommen ist. Auch diese Prüfung ist sehr aufwendig und das kollidiert mit dem Ziel der Bundesregierung, den durch das Herunterfahren der Volkswirtschaft existenziell bedrohten Menschen schnell zu helfen. Vor diesem Hintergrund muss man eine weitere Durchbrechung des die Bedürftigkeit streng prüfenden Systems der Grundsicherung sehen, die mit dem Sozialschutz-Paket I in die Welt gesetzt wurde:
➞ Für die Dauer von sechs Monaten erfolgt eine unkomplizierte vorläufige Bewilligung von Leistungen unter Berücksichtigung des von der leistungsberechtigten Person prognostizierten Einkommens.
Man kann erkennen, dass es unter den außergewöhnlichen Umständen vor allem darum ging, die Zugangshürden für „Neukunden“ abzusenken.
Der § 67 SGB II als Auffangbecken für die Ausnahmeregelungen
Das vereinfachte Verfahren für den Zugang zu sozialer Sicherung aus Anlass der COVID-19-Pandemie wurde im § 67 SGB II normiert. Der angesprochene und hier aufgrund der neueren Rechtsprechung, über die noch berichtet wird, besonders interessierende Verzicht auf auf eine Vermögensprüfung findet sich in § 67 Abs. 2 SGB II:
„Abweichend von den §§ 9, 12 und 19 Absatz 3 wird Vermögen für die Dauer von sechs Monaten nicht berücksichtigt.“ Man muss aber wie so oft im Leben bei Verträgen und Gesetzen weiterlesen: „Satz 1 gilt nicht, wenn das Vermögen erheblich ist; es wird vermutet, dass kein erhebliches Vermögen vorhanden ist, wenn die Antragstellerin oder der Antragsteller dies im Antrag erklärt.“
Der Verzicht auf eine Vermögensprüfung gilt also nicht generell, sondern nur, wenn das Vermögen nicht „erheblich“ ist. Der naive Leser des Paragrafen wird nun einwenden, dass aber doch ausgeführt wird, dass man das im Antrag einfach erklären kann und gut ist. So könnte es laufen, so wird es sicher auch hier und da laufen, aber eben nicht überall und auch der Gesetzgeber muss sich doch was dabei gedacht haben, wenn von einem „nicht erheblichen Vermögen“ gesprochen wird, das nicht geprüft und angerechnet werden muss.
Die Jobcenter müssen diese Regelung nun umsetzen und die Bundesagentur für Arbeit (BA) hat dazu sogenannte Fachliche Weisungen herausgegeben:
➔ Bundesagentur für Arbeit (2020): Weisungen zum Gesetz für den erleichterten Zugang zu sozialer Sicherung und zum Einsatz und zur Absicherung sozialer Dienstleister aufgrund des Coronavirus SARS-CoV-2 (Sozialschutz-Pakete) sowie ergänzende Regelungen, Stand: 30.12.2020
Dort findet man nun auf der Seite 7 diesen Hinweis: »Liegen eindeutige Indizien vor, die auf erhebliches Vermögen schließen lassen, ist zu prüfen, ob die Antragstellerinnen oder Antragsteller entgegen ihrer Erklärung im Antrag doch über erhebliches Vermögen verfügen.«
Und wenn man dann dich prüfen soll/muss/kann, dann braucht man eine handhabbare Definition dessen, was ein „erhebliches“ Vermögen darstellt. Auch daran hat die BA gedacht:
»Vermögen ist erheblich, wenn in Anlehnung an das Wohngeldgesetz (WoGG) eine Inanspruchnahme von Wohngeld bei vorhandenem erheblichem Vermögen missbräuchlich wäre (vgl. Ausschlussgrund nach § 21 Nr. 3 WoGG).«
Nun wird sich der eine oder andere fragen, warum man denn nun auf das Wohngeldgesetz zurückgreift. Die Hauptbegründung könnte lauten: Weil dort konkrete Geldsummen genannt werden, auf die man zurückgreifen kann:
Quelle: Bundesagentur für Arbeit (2020): Weisungen zum Gesetz für den erleichterten Zugang zu sozialer Sicherung und zum Einsatz und zur Absicherung sozialer Dienstleister aufgrund des Coronavirus SARS-CoV-2 (Sozialschutz-Pakete) sowie ergänzende Regelungen, Stand: 30.12.2020, S. 7
Das kommt eben dabei raus, wenn der Gesetzgeber wieder einmal einen unbestimmten Rechtsbegriff verwendet, der dann von denen, die das vor Ort umsetzen sollen, konkret bestimmt werden muss. Wie viel ist „erheblich“? Und was sind „kurzfristig verwertbare Mittel“? Die Fachliche Weisung der BA spricht hier von „insbesondere“, was eben keine abschließende Aufzählung darstellt.
Und die Sozialgerichtsbarkeit will auch noch mitreden
Man ahnt schon, dass es bei der Umsetzung dieser eigentlich als eine deutliche Vereinfachung gestarteten gesetzlichen Regelung zu eher verkomplizierenden Ausformungen kommt, was man an der neueren Rechtsprechung zeigen kann. Unter der unverfänglich daherkommenden Überschrift Hartz-IV: Grundsätze der Vermögensprüfung in Corona-Zeiten berichtet das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen: »Während der Corona-Pandemie soll eine Vermögensprüfung bei Hartz-IV-Anträgen nur noch bei erheblichem Vermögen stattfinden. Hierzu hat das Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen (LSG) entschieden, dass die Weisungen der Bundesagentur für Arbeit zur Bestimmung des Vermögensfreibetrags nicht gesetzeskonform sind.«
Der Entscheidung bezieht sich auf den folgenden Sachverhalt, dessen Kurzfassung so lautet:
»Zugrunde lag das Eilverfahren einer Juristin (geb. 1980) aus Hannover, die im Mai 2020 erstmals Grundsicherungsleistungen beantragt hatte. Im pandemiebedingt vereinfachten Verfahren musste sie im Antrag lediglich Angaben zu etwaigem Vermögen über 60.000 € machen. Wegen unklarer Angaben forderte das Jobcenter Kontoauszüge an und stellte fest, dass 59.900 € auf dem Konto vorhanden waren und die Frau kurz zuvor zweimal 2.000 € abgehoben hatte. Verwendungsnachweise konnte und wollte sie nicht vorlegen.
Das Jobcenter lehnte den Antrag mit der Begründung ab, dass Vermögen von mehr als 60.000,- € vorhanden sei, da für die Verwendung der Barabhebungen keine Nachweise erbracht worden seien. Demgegenüber meinte die Frau, über kein erhebliches Vermögen zu verfügen, denn der Kontowert unterschreite die Freibetragsgrenze.«
Eine ausführliche Darstellung des Sachverhalts findet man hier:
➔ Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 21. Januar 2021 – L 7 AS 5/21 B ER
Mit Bescheid vom 12. November 2020 lehnte das Jobcenter den Antrag mit der Begründung ab, dass Vermögen in Höhe von 65.915,56 EUR vorhanden sei. Zwar habe am 31. August 2020 das Guthaben auf dem Girokonto nur 59.915,56 EUR betragen. Es sei aber insgesamt von einem höheren Vermögen auszugehen, da Nachweise über die Bargeldabhebungen von insgesamt 6.000 EUR nicht erbracht worden seien. Am 7. Dezember 2020 stellte die Frau beim Sozialgericht Hannover einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung mit der Begründung, dass das Vermögen nicht erheblich sei. Sie benötigte dringend ärztliche Behandlung und sei nicht mehr krankenversichert.
Die erste Instanz entschied im vorliegenden Fall gegen die Antragstellerin: Das Sozialgericht hat mit Beschluss vom 18. Dezember 2020 den Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt. Es fehle an der Eilbedürftigkeit. Die Antragstellerin verfüge aktuell über ein ausreichendes Vermögen in Höhe ca. 57.000 EUR, mit dem sie ihre Existenz sichern könne, so wie sie dies seit Auslaufen des Arbeitslosengeldes ab August 2020 über mehrere Monate auch getan habe. Da die Antragstellerin über ausreichende Mittel verfüge, könne sie sich bei ihrer Krankenkasse freiwillig versichern.
Und wie hat nun das Landessozialgericht (LSG) entschieden?
»Das LSG hat einen Leistungsanspruch der Frau verneint.«
Interessant ist vor allem die Begründung der Sozialrichter:
»Es sei schon zweifelhaft, ob die Pandemie-Vorschriften für die Frau anwendbar seien, da ihre Lage nicht mit der besonderen Situation von Einkommenseinbußen bei Kleinunternehmen und Solo-Selbstständigen vergleichbar sei.«
Das ist insofern einerseits irritierend, weil im § 67 SGB II nichts von einer Beschränkung auf Kleinunternehmer und Solo-Selbstständige steht – einen Hinweis auf diese beiden Personengruppen findet man nur im Gesetzgebungsverfahren und da auch nur versehen mit dem Hinweis „insbesondere“, was ja andere nicht ausschließt. Allerdings verstehen die Sozialrichter den Gesetzgeber tatsächlich so, dass die unbürokratische Regelung mit den Ausnahmen den Pandemie-Opfern zugute kommen soll und nicht „den Anderen“.
So auch die Begründung im Beschluss des LSG: »Es bestehen bereits Zweifel, ob die Regelung des § 67 Abs. 2 SGB II den Leistungsantrag der Antragstellerin vom 18. August 2020 erfasst. Denn das vereinfachte Verfahren sollte nach dem Willen des Gesetzgebers Antragsteller begünstigen, die erstmalig infolge der pandemiebedingten Einkommenseinbußen SGB II – Leistungen begehren … Dagegen sollten durch diese Regelung abgeschlossene Antragsverfahren nicht wiederaufleben, in denen in der Vergangenheit die Leistungsgewährung bereits wegen Überschreitens der Vermögensfreibeträge abgelehnt worden war …Diese Zweifel werden dadurch bestärkt, dass Regelungsziel des Sozialpakets nicht die Lebenssituation der Antragstellerin war, die nicht infolge der Coronapandemie ohne Arbeit und Einkommen ist. Bei objektiver Betrachtung müssen für die ab Januar 2019 durchgehend bestehende Arbeitslosigkeit andere Hindernisse eingewirkt haben, die mit der besonderen Situation von Einkommenseinbußen bei Kleinunternehmen und Solo-Selbstständigen ab März 2020 nicht vergleichbar sind.«
Aber die Ablehnung durch das Landessozialgericht wird noch mit weiteren Argumenten begründet:
»In keinem Falle aber sei ein fester Vermögensfreibetrag maßgeblich. Die fachlichen Weisungen der Bundesagentur für Arbeit, die sich an den Verwaltungsvorschriften zum Wohngeldgesetz orientierten, fänden im SGB II keine Stütze. Die Bestimmung eines Missbrauchsfalles könne nicht anhand pauschaler und starrer Vermögensgrenzen erfolgen.«
Und dann erläutern uns die Sozialrichter, was sie unter „erheblichen Vermögen“ (nicht) verstehen:
»Erhebliches Vermögen liege vielmehr dann vor, wenn im Einzelfall für jedermann offenkundig sei, dass Grundsicherungsleistungen nicht gerechtfertigt seien. So könne z.B. auch Betriebsvermögen von mehr als 60.000,- € unbedenklich sein, während im Falle der Frau das allgemeine Schonvermögen maßgeblich sei, das für alle Hartz-IV-Empfänger gelte.«
Mit dem vereinfachten Antrag- und Bewilligungsverfahren wollte der Gesetzgeber die insbesondere bei Erstanträgen sehr aufwendige Prüfung über verwertbares Vermögen unbürokratisch gestalten, damit den von der Pandemie besonders betroffenen Personenkreisen, insbesondere Kleinunternehmern und sogenannte Solo-Selbstständigen, die keine Ansprüche auf vorrangige Leistungen wie Arbeitslosengeld, Kurzarbeitergeld oder Insolvenzgeld haben, schnellstens geholfen werden kann – so zitiert auch das LSG auf dem Gesetzentwurf der Bundesregierung zum Sozialschutz-Paket (I), vgl. Bundestags-Drucksache 19/18107 vom 24.03.2020. Dann aber heißt es im Beschluss vom 21. Januar 2021 – L 7 AS 5/21 B ER:
»Das vereinfachte Überprüfungsverfahren bedeutet andererseits nicht, dass allgemeine Grundsätze des Grundsicherungsrechts krisenbedingt – im Sinne eines Sonderrechts der Pandemie – außer Kraft gesetzt werden sowie Jobcenter und Gerichte „sehenden Auges“ zu Unrecht SGB II-Leistungen bewilligen bzw. zusprechen müssten, die später gemäß § 67 Abs. 5 Satz 5 SGB II aufzuheben und zu erstatten wären.«
Das Urteil des Landessozialgerichts Niedersachsen-Bremen bestätigt das, was hier in dem Beitrag Der „vereinfachte Zugang“ zur Grundsicherung nach SGB II wird verlängert – (vorerst) bis zum 30. September 2020 vom 17. Juni 2021 bereits angesprochen wurde: Hinter dem Ansatz der „vereinfachten Prüfung“ steht eine gute Absicht. Aber bereits im nunmehr vergangenen Jahr hatte Martin Kellner1) diesen Einwand formuliert: »Diese Privilegierung gilt nicht für Fälle „erheblichen“ Vermögens. Das Prüfungsverfahren soll sich regelmäßig auf eine Erklärung des Antragstellers beschränken, nicht über entsprechende Vermögenswerte zu verfügen. Die erleichterte Vermögensprüfung im Wege der Eigenerklärung des Antragstellers gilt auch für das Vermögen der weiteren Mitglieder der Bedarfsgemeinschaft. Aus dem Gesetz ergibt sich nicht, wann von einem „erheblichen“ Vermögen auszugehen ist; es handelt es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff.« Dann wird auf die 60.000 Euro-Grenze eingegangen: »Die von der BA vorgegebene Orientierung an der Verwaltungsvorschrift zu § 21 WoGG (60.000 Euro für das erste zu berücksichtigende Haushaltsmitglied und 30.000 Euro für jedes weitere Haushaltsmitglied)2) erscheint plausibel, ist aber nicht zwingend. Denn dieselbe Formulierung wird u.a. in §141 SGB XII verwandt, wobei die Vermögensfreibeträge im Dritten und Vierten Kapitel des SGB XII deutlich niedriger sind. Letztlich ist eine funktionsdifferenzierte Auslegung geboten. Im Sozialhilferecht wird die Erheblichkeitsschwelle dementsprechend bereits mit 25.000 Euro beziffert (§66a SGB XII)3).«
1) Martin Kellner (2020): Das vereinfachte Verfahren des Sozialschutz-Pakets in der Grundsicherung für Arbeitsuchende nach § 67 SGB II, in: Neue Justiz, Heft 5/2020, S. 213-214
2) Die angesprochene Operationalisierung des „Erheblichen Vermögens“ findet man unter der Nummer 21.37 der Wohngeld-Verwaltungsvorschrift – WoGVwV.
3) § 66a SGB XII „Sonderregelungen zum Einsatz von Vermögen“: »Für Personen, die Leistungen nach diesem Kapitel erhalten, gilt ein zusätzlicher Betrag von bis zu 25 000 Euro für die Lebensführung und die Alterssicherung im Sinne von § 90 Absatz 3 Satz 2 als angemessen.«
Schlussendlich zeigt die neue Entscheidung des Landessozialgerichts, dass man vielleicht die gute Absicht hatte, etwas zu vereinfachen, nunmehr aber die Sozialgerichtsbarkeit aufgrund der fehlenden Normierung eines konkreten Betrags für „nicht erhebliches Vermögen“ im Gesetz erneut auf die Einzelfallebene abstellt. Und dabei verwendet man selbst unbestimmte, mithin streitanfällige Begriffe. Wenn das LSG Niedersachsen-Bremen schreibt: »Erhebliches Vermögen liege vielmehr dann vor, wenn im Einzelfall für jedermann offenkundig sei, dass Grundsicherungsleistungen nicht gerechtfertigt seien.«
Wann ist denn „für jedermann offenkundig“, dass die existenzsichernden Leistungen nicht gerechtfertigt sind? Das verweist letztendlich auf das, was am Anfang des Beitrags herausgestellt wurde: Die Grundsicherung nach SGB II und die Leistungen nach SGB XII sind bedürftigkeitsabhängige Sozialhilfeleistungen. Und das bleiben sie auch bei allen Vereinfachungsversuchen, die zwischenzeitlich und befristet auf den Weg gebracht worden sind. Und eines sollte man nicht vergessen: sollte man eines nicht vergessen: Das Arbeitslosengeld II (Hartz IV) ist eine bedürftigkeitsabhängige Leistung und die Prüfung der Bedürftigkeit ist nicht aufgehoben. Und bei der Bedürftigkeitsprüfung wird nicht (nur) der einzelne Antragsteller geprüft, sondern die „Bedarfsgemeinschaft“, wenn er oder sie mit jemanden zusammenlebt. Das wird dazu führen, dass in nicht wenigen Fällen kein Anspruch auf Hartz IV-Leistungen bestehen wird, auch wenn der einzelne coronabedingt in eine existenziellen Notlage geraten ist.
Und das Problem wird bleiben
Nun könnte der eine oder andere anmerken, dass die beschriebene Problematik einer Nicht-Anrechnung von Vermögen, sofern es sich nicht um erhebliches Vermögen handelt, ein befristetes Problem darstellt, so wie ja auch die Ausnahmeregelungen befristet sind und in absehbarer Zeit dann auslaufen werden. Derzeit ist es so, dass der vereinfachte Zugang zu den Grundsicherungssystemen zum 31. März 2021 ausläuft. Allerdings soll die befristete Ausnahmeregelung erneut verlängert werden, mit dem Sozialschutz-Paket III: »Die bis 31.03.2021 befristete Regelung zur Aussetzung der Prüfung der Angemessenheit der Aufwendungen für Unterkunft und Heizung und zur eingeschränkten Vermögensprüfung (SGB II und SGB XII) wird bis zum 31.12.2021 verlängert.«
Dem wäre nicht mehr so, wenn sich der Bundesarbeitsminister Hubertus Heil (SPD) durchsetzen würde, der hat zwischenzeitlich vor dem Hintergrund der notwendigen Reaktion des Gesetzgebers auf das Urteil des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zu den Sanktionen im SGB II (BVerfG, Urteil vom 5.11.2019, 1 BvL 7/16) ein „Referentenentwurf eines Elften Gesetzes zur Änderung des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und anderer Gesetze“ (Stand: 07.01.2021) vorgelegt, mit dem zugleich der vereinfachte Zugang zur Grundsicherung für Arbeitsuchende „verstetigt“ werden soll. Konkret heißt es in dem Entwurf, dass eine Karenzzeit von zwei Jahren eingeführt werden soll
»innerhalb derer
– die Aufwendungen der Leistungsberechtigten für die Unterkunft und Heizung in tatsächlicher Höhe anerkannt werden,
– selbstgenutztes Wohneigentum nicht als Vermögen berücksichtigt wird und
– weiteres Vermögen nur berücksichtigt wird, wenn es erheblich ist.«
Da ist es wieder, das „erhebliche Vermögen“. Und nun ist vorgesehen, die diskutierten Geldbeträge direkt im Gesetz zu verankern: Im § 12 SGB II soll ein eigener Absatz 1a eingefügt werden. Darin findet man: »Vermögen ist im Sinne des Satzes 1 erheblich, wenn es in der Summe 60.000 Euro für die leistungsberechtigte Person sowie 30.000 Euro für jede weitere mit dieser in Bedarfsgemeinschaft lebende Person übersteigt. Bei der Berechnung des erheblichen Vermögens nach Satz 4 bleiben für die Altersvorsorge bestimmte Versicherungsverträge sowie selbstbewohnte Hausgrundstücke oder Eigentumswohnungen unberücksichtigt.«
Nach diesem Vorstoß und unter Berücksichtigung der Ausführungen aus den Reihen der Sozialgerichtsbarkeit werden wir sicher noch eine Diskussion bekommen über die „60.000 Euro-Grenze“, die sich – wie dargestellt – aus einer Verwaltungsvorschrift zum Wohngeldgesetz verselbstständigt hat und über die Sozialschutz-Pakete der Bundesregierung zur Abfederung der Corona-Folgen nunmehr vor der Verankerung im SGB II steht. Wenn der Koalitionspartner an dieser Stelle mitgeht. Denn die Verstetigung ist ja nur im Referentenentwurf aus dem BMAS enthalten und am Ende kommt mit Sicherheit was anderes raus als das, womit man angefangen hat.