Ein Schlaglicht auf die Frustration: Probleme der Intensivstationen aus Sicht des Personals. Und in Niedersachsen tritt man den Pflegekräften in den Hintern

Beginnen wir mit Nachrichten aus Niedersachsen, die wie eine Faust auf das Auge (und zur Sicherheit auch noch unterhalb der Gürtellinie) der Pflegekräfte daherkommen: »Im Kampf gegen die zweite Welle der Coronakrise hat Niedersachsen die Höchstarbeitszeit für Beschäftigte in Kliniken und Pflegeheimen erneut auf bis zu 60 Stunden pro Woche erhöht. Die Maßnahme, die eine tägliche Arbeitszeit von bis zu 12 Stunden vorsieht, gilt befristet bis Ende Mai kommenden Jahres, teilte das Sozial­ministerium in Hannover mit.« Und die Präsidentin der Pflegekammer Niedersachsen, Nadya Klar­mann, wird mit den Worten zitiert: »Die Regierung sollte sich schämen, auf den Rücken der Menschen, die das System am Lau­fen halten, ihre eigenen jahrelangen Fehler in der Pflegepolitik auszubügeln.« Die Allgemeinverfügung des Sozialministeriums ist seit dem 1. November 2020 in Kraft. »Die Verfügung enthalte weder Regelungen zu Ausgleichstunden noch zu einer finanziellen Entschädigung für die Mehrarbeit. Lediglich ein Ersatzruhetag innerhalb eines Zeitraums von 8 Wochen sei für die im Rahmen der Ausnahmebewilligung geleistete Sonn- und Feiertagsarbeit zu gewähren«, so Nadine Millich in ihrem Artikel Nicht zulasten von Pflegenden entscheiden. Schon jetzt bedeuteten Acht-Stunden-Schichten in voller Schutzausrüstung eine extreme Belastung für Beschäftigte in der Pflege. Und wenn man schon dabei ist, dann legt man noch eine Schippe rauf: »Die Verfügung enthalte weder Regelungen zu Ausgleichstunden noch zu einer finanziellen Entschädigung für die Mehrarbeit. Lediglich ein Ersatzruhetag innerhalb eines Zeitraums von 8 Wochen sei für die im Rahmen der Ausnahmebewilligung geleistete Sonn- und Feiertagsarbeit zu gewähren.«

Es ist wirklich nicht mehr zu ertragen. Mit Blick auf die erste Phase der Corona-Krise könnte man noch argumentieren, dass Entscheidungen in völliger Unkenntnis auf den Weg gebracht wurden, obgleich auch damals schon kein Mangel an kritischen Hinweisen bestand. Dazu beispielsweise mein Beitrag Vom Klatschen auf offener Bühne zur COVID-19-Arbeitszeitverordnung: Wenn das ordnungsgemäße Funktionieren des Gemeinwesens (angeblich) erheblich gefährdet ist, dann dürfen die Systemrelevanten auch außerhalb des Schutzsystems ran vom 9. April 2020. Neben dem Hinweis auf die zahlreichen Befunde aus dem Arbeitsschutz über die desaströsen Folgen überlanger Arbeitszeiten gerade in den Pflegeberufen wurde mit Blick auf die Verordnung zu Abweichungen vom Arbeitszeitgesetz infolge der COVID-19-Epidemie (COVID-19-Arbeitszeitverordnung) ausgeführt:

➔ Richtig problematisch – und von nicht wenigen Betroffenen als Schlag ins Gesicht empfunden – wird es beim Punkt 2 der Tätigkeitsliste: „bei der medizinischen Behandlung sowie bei der Pflege, Betreuung und Versorgung von Personen einschließlich Assistenz- und Hilfstätigkeiten“, so heißt es. Also bei den Pflegekräften kann man nun also von den entsprechenden Abweichungen beim Arbeitsschutz Gebrauch machen. Neben den grundsätzlichen Bedenken angesichts der vorliegenden empirischen Evidenz gegen zu lange Arbeitszeiten und den Gefahren (für die Beschäftigten, in diesem Fall aber auch für die zu pflegenden Menschen) sei in Zeiten der Corona-Krise (die ja auch als Legitimation für diesen schweren Eingriff herangezogen wird) ganz bewusst auf Erfahrungen aus Wuhan hingewiesen, die verdeutlichen, dass hier ein verdammt gefährlicher Weg beschritten werden würde:

»Man hat in Wuhan eine klare Relation zwischen der Länge der Arbeitsschichten und der Überlebenswahrscheinlichkeit der Patienten sowie der Ansteckungswahrscheinlichkeit der Krankenhaus-Mitarbeiter entdeckt. In der ersten hektischen Phase arbeiteten Ärzte und medizinisches Personal in Wuhan oft 12 bis 14 Stunden. Sehr viele Helfer haben sich damals angesteckt. Diese Entwicklung sehen wir auch in Italien und Spanien. Erst als in China sehr viel mehr Personal zur Hilfe kam und die Schichten sich auf sechs Stunden verkürzten, sanken die Ansteckungs- und Sterberaten. Das Personal konnte sich dann sehr viel genauer an die Vorschriften halten. Die Kehrseite der Medaille: Kürzere Schichten bedeuten einen sehr viel höheren Bedarf an Schutzausrüstung … Die Lehre für Deutschland und Europa ist, dass eine Sechs-Stunden-Schicht Leben rettet.«

Wer sagt das? Das ist ein Zitat von Eckhard Nagel. Er ist seit 2018 einer von zwei Präsidenten des Chinesisch-Deutschen Freundschaftskrankenhauses im Tongji Klinikum in Wuhan – der Metropole, in der die Pandemie ihren Lauf nahm. Nagel ist Professor für Medizinmanagement und Gesundheitswissenschaften wirkt. Von 2010 bis 2015 war er Ärztlicher Direktor und Vorstandsvorsitzender des Universitätsklinikums Essen. Der Öffentlichkeit ist Nagel auch als langjähriges Mitglied des Deutschen Ethikrats und Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages bekannt. Das Interview mit ihm, dem auch das Zitat entnommen wurde, findet man hier: Lehren aus Wuhan: „Ärzte und medizinisches Personal sollten nur sechs Stunden arbeiten“. Interview mit Eckhard Nagel, Präsident des Chinesisch-Deutschen Freundschaftskrankenhauses in Wuhan (01.04.2020).

Wer hat jetzt den Schuss nicht gehört in den Ministerien? Muss man das rausschreien? Keiner der Verantwortlichen kann sich jetzt noch rausreden, dass man das alles nicht gewusst hat. Das ist Handeln mit Vorsatz.

➔ Dazu passt dann leider auch diese Stellungnahme des Deutschen Berufsverbandes für Pflegeberufe (DBfK): Pflegen mit Corona? Gesundheit hat Vorrang, so ist die überschrieben. »Laut Robert Koch Institut (RKI) sollen Pflegefachpersonen, die positiv auf SARS-CoV-2 getestet wurden, bei Personalknappheit trotz Infektion arbeiten dürfen.« Man bezieht sich hier auf zwei „Empfehlungen“ des RKI.* »Der Einsatz von positiv getesteten Pflegefachpersonen im Krankenhaus darf dem RKI zufolge nur bei gravierendem Personalmangel erfolgen. Bedingung ist, dass die Pflegefachpersonen keine Symptome aufweisen, FFP2-Masken bei der Arbeit tragen und ausschließlich infizierte Patientinnen und Patienten versorgen. Es bleibt dabei unklar, was ein ‚gravierender Mangel‘ ist … Für Einrichtungen in der Langzeitpflege gilt laut RKI, dass positiv getestete Beschäftigte keine Bewohnerinnen und Bewohner versorgen dürfen. Allerdings kann bei Personalmangel die Quarantänezeit bei Verdachtsfällen auf sieben Tage verkürzt werden, damit die Pflegefachpersonen schneller eingesetzt werden können. Aus der Praxis hört man allerdings, dass auch in der Langzeitpflege infiziertes Personal eingesetzt werde, um infizierte Bewohnerinnen und Bewohner zu versorgen. Auch berichten Pflegende, dass auf Tests verzichtet wird, um so die Versorgung sicherzustellen.« Nach Ansicht des DBfK sind auch bei Verdachtsfällen die Quarantäneregeln einzuhalten, da dies vor allem dem Schutz der Menschen mit Pflegebedarf dient. Christel Biestern, die Präsidentin des DBfK, wird mit diesen Worten zitiert: „Sollte die Anzahl von Pflegenden einer Einrichtung in Quarantäne oder mit nachgewiesener Infektion so hoch werden, dass eine sichere Versorgung nicht mehr möglich ist, müssen sich Träger, Gesundheitsämter, Kommunen und gegebenenfalls die Heimaufsicht zusammensetzen, um Lösungen zu finden. Das muss jetzt bereits vorbereitet werden.“
*) RKI: Optionen zur vorzeitigen Tätigkeitsaufnahme von Kontaktpersonen unter medizinischem Personal in Arztpraxen und Krankenhäusern bei relevantem Personalmangel (Stand: 09.09.2020)
RKI: Optionen zum Management von Kontaktpersonen unter medizinischem und nicht medizinischem Personal in Alten- und Pflegeeinrichtungen bei Personalmangel (Stand 12.10.2020)
Hinweis: Nachtrag am 06.11.2020

Und über die zuspitzende Situation auf vielen Intensivstationen wird gleichzeitig in diesen Tagen umfänglich berichtet (vgl. dazu auch den Hintergrundbeitrag Diesseits und jenseits der Momentaufnahme auf den Intensivstationen: Von leeren Betten, Pflegepersonal als „Flaschenhals“ und Versäumnissen der Vergangenheit vom 1. November 2020). »Die Deutsche Krankenhausgesellschaft erwartet angesichts der deutlich gestiegenen Coronavirus-Zahlen einen neuen Höchststand an Intensivpatienten. Auch Intensivmediziner sehen die Entwicklung mit Sorge«, so diese Meldung: Warnung vor Engpässen in Kliniken. Oder hier: Engpässe auf Intensivstationen: Mediziner schlagen Alarm. Oder wie wäre es damit: Intensivstation am Limit: „Wir haben jetzt eine andere Situation als im Frühjahr“. Und nicht nur bei uns – auch aus Österreich kommen beispielsweise die gleichen Hilferufe: »Die Tiroler Intensivmedizinerin Barbara Friesenecker von der MedUni Innsbruck hat am Sonntagabend in Hinblick auf die Corona-Krise klargestellt, dass das größte Problem im Intensivbereich die Personalzahl ist – und nicht die Betten. Gerade die Betreuung von Covid-19-Intensivpatienten ist sehr aufwendig, schilderte sie. „Es braucht eine sehr hohe Pflegeexpertise“, so Friesenecker« in diesem Beitrag: Intensivstationen: Personal knapper als Betten.

Vor diesem Hintergrund sind die Befunde einer Umfrage unter denen, um die es hier geht, also den Pflegekräften und den Ärzten, die auf Intensivstationen arbeiten, höchst aufschlussreich und relevant. Das Deutsche Ärzteblatt berichtet darüber unter der Überschrift Probleme wegen Personalmangels in der Intensivpflege erwartet: »97 Prozent der Mitarbeiter von Intensivstationen glauben nicht, dass ausrei­chend Intensivpflegekräfte zur Verfügung stehen, um die etwa 30.000 im Register der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) gemel­deten Intensivbetten in der zweiten Welle der Coronapandemie einsetzen zu können. Zudem befürchten 93 Prozent eine Verschlechterung der Arbeitsbedingungen auf den Intensivstationen in den kommenden Monaten.« Datenbasis ist eine Umfrage der Deutschen Gesellschaft für Internistische Intensivmedizin und Notfallmedizin (DGIIN) hervor. An der Umfrage beteiligten sich 1.098 Mitarbeiter, die auf deutschen Intensivstationen beschäf­tigt sind – darunter 72 Prozent Intensivpflegekräfte und 25 Prozent Ärzte.

Sollten die Zahlen der Intensivpatienten weiter steigen und keine Trendumkehr erreicht werden, dann stellt sich die Frage nach der Aufstockung der Kapazitäten. Was sagen diejenigen, die auf den Intensivstationen arbeiten?

»Nur 24 Prozent der Befragten erklärten demnach, dass es ihnen bekannte Pläne in ihrem Krankenhaus gebe, die ein Aufstocken der Pflegekräfte im Krisenfall vorsehen. Von diesen 24 Prozent meinten nur 16 Prozent, dass die zusätzlichen Kräfte für den Krisenfall ausrei­chend eingearbeitet seien.«

Und dann der Personalausfall – beispielsweise durch Probleme bei der Kinderbetreuung: »Ein wesentlicher Aspekt bei der Entwicklung der Personalsituation sei auch die Kinder­be­treuung, die einen erheblichen Einfluss auf den Ausfall insbesondere der Intensivpfle­gen­den habe … Der Umfrage zufolge haben 36 Prozent der Befragten Kinder im Vorschulalter oder in der Schule. 71 Prozent davon müssen ihr Kind aus der Kita oder der Schule nehmen, wenn es Husten oder Schnupfen hat. Nur 26 Prozent können in der Regel jedoch an diesen Tagen eine alternative Kinderbetreuung organisieren. Und 73 Prozent haben Angst, ihr Kind zu den Großeltern zu geben – aus Sorge, diese könnten sich mit SARS-CoV-2 infizieren. Dabei stellen die Arbeitgeber bei nur neun Pro­zent der Befragten alternative Betreuungsmöglichkeiten zur Verfügung. Im Endergebnis befürchten 33 Prozent der Befragten, dass sie infolge die aktuellen Coro­na­regelungen mehr der Arbeit fernbleiben müssten als vor der Pandemie.«

Das sollten sich alle gut durchlesen, die jetzt, wo der Karren seit Jahren gegen die Wand gefahren wurde, die verständliche aber eben kaum beantwortbare Frage aufwerfen, was man denn kurzfristig tun könnte: »Dabei stellen die Arbeitgeber bei nur neun Pro­zent der Befragten alternative Betreuungsmöglichkeiten zur Verfügung.« Genau, da heißt es jetzt handeln, sowohl die Kliniken wie auch die Kommunen vor Ort haben jetzt schnellstmöglich aus den nur 9 Prozent 100 Prozent zu machen. Da kann man ganz praktisch was in der Misere gestalten. Mal sehen, wie viele und vor allem wann das dann in Angriff (oder auf Wiedervorlage) genommen wird.

Und das sollte als echtes Warnsignal verstanden werden: »48 Prozent der Befragten berichteten davon, dass sie derzeit nicht mehr so motiviert sei­en zu arbeiten wie in der ersten Pandemiewelle.« Und weiter: »89 Prozent der Teilnehmenden gaben an, dass sie trotz der deutlichen Herausstellung der Systemrelevanz ihres Berufes im Zuge der Pandemie keine gesteigerte Wertschätzung em­pfänden. 86 Prozent zeigten sich frustriert angesichts des Hickhacks um die Corona­prä­mie für Pflegekräfte im Krankenhaus.«

Und was wird über die Personalsituation berichtet? Es sind mehr als beunruhigende Zahlen:

»Der Umfrage zufolge liegt der durchschnittliche Betreuungsschlüssel auf der Intensiv­sta­ti­on in der Tagschicht aktuell bei einer Intensivpflegekraft pro 2,7 Patienten. Die gesetz­li­che Untergrenze für den Personalschlüssel liegt bei 1:2,5. Die DGIIN empfiehlt einen Per­sonalschlüssel von 1:2. „Der Betreuungsschlüssel Pflegefachperson zu Patienten ist bereits jetzt schlechter als 1:2 in den Tagschichten, obwohl bisher noch keine COVID-19-bedingte Überlastung in der Intensivmedizin stattgefunden hat“, geben die Initiatoren der Umfrage zu bedenken. „Dies ist insbesondere in Anbetracht der Schwere der COVID-19-Erkrankung und dem da­mit verbundenen hohen pflegerischen Versorgungsaufwand kein guter Ausgangswert, da davon auszugehen ist, dass die Zahl der COVID-19-Patienten deutlich steigen wird und einzelne Intensivstationen überlastet sein werden.“«